Reale und virtuelle Protesträume

2014:Apr // Seraphine Meya

Startseite > 03-2014 > Reale und virtuelle Protesträume

03-2014
















Das Comeback der analogen Agora

Die wuchernde virtuelle Welt, die sich in alle Sphären ausdehnt, die „Raum“ ist für Nachrichten, Debatten, Geschwätz, Marktplatz für alles, die Lösungen für jedes Problem bietet, stößt plötzlich an Grenzen: Nutzer als Menschen, die ohne reale Räume und Körper nicht auskommen.
Freiheit braucht einen realen Raum, einen Versammlungsplatz (wie die Agora einst in Griechenland), an dem Menschen zusammenkommen, debattieren, kritisieren können (Hannah Arendt: „Über die Revolution“, 1963). Man könnte meinen, das Internet böte so einen Raum, doch der körperlosen, virtuellen Welt fehlt offenbar die lebendige Interaktion. Die Bedeutung realer Räume und Plätze war jüngst von Kairo bis Kiew spürbar. Und dass die Mächtigen dies wissen, das zeigt sich am grassierenden Ausverkauf öffentlicher Plätze, oder wie aktuell in Spanien am Versuch, das Versammlungsrecht einzuschränken. Die virtuelle Welt als Ersatz für diese öffentlichen Räume scheint anfällig für einen gewissen Verlust der eigenen Urteilskraft und führt zu einer problematischen „Schwarmdummheit“. Denn so reizvoll das Gefühl ist, sich unter vielen aufgehoben zu fühlen, desto folgenreicher sind die Mechanismen einer solchen Masse. Im Internet formieren sich scheinbare Mehrheiten aus Menschen mit Meinung und Geltungsbedürfnis. Dabei findet keine, für demokratische Prozesse notwendige, kritische Reflexion statt. Der Schwarm regiert und das Individuum verliert sich in der Masse.
Keine online durchgeführte Abstimmung mit mehreren tausend Teilnehmern kann eine öffentliche Demonstration mit mehreren tausend Menschen ersetzen. Unzählige politisch aktivistische Gruppen weltweit zeigen, dass es gesellschaftlich hoch bedeutsam ist, Kritik sichtbar zu machen. Körperliche Gewalt gegen Menschen ist grundsätzlich abzulehnen. Trotzdem ist der Diskurs um indirekte Gewalt in Form von Präsenz als Bestandteil der Demokratie ein produktiver. Auch in der griechischen Polis war der Versammlungsort ausschlaggebend, damit die Bürger sich gegenseitig von Wahrheit oder Unsinn überzeugen konnten. Ein immer währender Grundsatz dieser freien und gleichen Gesellschaft war die Freiheit eines jeden Einzelnen: „Nur wer sich unter Freien bewegte, war frei“ (Hannah Arendt: „Über die Revolution“). Diese Freiheit des Einzelnen wird in der Realität selten realisiert. Es gibt kaum jemanden, der sich frei von Herrschaft bewegen kann. Entweder wird man beherrscht – sei es von äußeren oder inneren Gewalten – oder man herrscht (getrieben von äußeren und inneren Zwängen). Nur vollkommen frei von diesen Gewalten können Gleiche unter Gleichen existieren.
Zivilrecht und Strafrecht basieren auf einem allgemeinen Gewaltverbot zur Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Ästhetik des Aufstandes im künstlerischen Bereich arbeitet mit dem Brechen dieses Verbots. Beispielsweise – jüngst in Ägypten – nutzten Künstler die Kunst des Aufstands, um Meinungsfreiheit und Mitspracherecht einzufordern. Sie bemalten Wände und versetzten Kairo mit Performances in eine Schockstarre, wie es bei der radikalen Performance der Ägypterin Amal Kenawy (1974–2012) geschah. Die Künstlerin schickte 2009, noch vor dem „arabischen Frühling“, Darsteller auf allen vieren durch die Straßen von Kairo, um damit auf die gefügigen Massen zu verweisen, die sich dem Machthaber Mubarak kritiklos unterwerfen. Mit den Körpern der Performer wird hier die Umgebung angegriffen und irritiert. Radikaler als in der Form einer Demonstration werden die Betrachter angegriffen, die sich durch die unwürdige Darstellung ihrer Mitbürger betroffen fühlen und Wut äußern über eine solche Verunglimpfung ihrer eigenen Haltung. Die Körper stellen auf allen vieren die Beugung der inneren Haltung explizit dar. Die wirkungsvolle Bedeutung dieser „gewaltvollen Körper“ im Kairoer Stadtraum ist augenscheinlich und die Forderung nach körperlicher, aktueller Präsenz in der Öffentlichkeit wird hier nachvollziehbar. Die realen Körper sind es, die den Betrachter als aktiven, emanzipierten Betrachter ins Geschehen mit einbeziehen. Denn der Betrachter wird angegriffen – auch wenn der Angriff ein indirekter ist, ist die darauf folgende Auseinandersetzung eine aktive. Politische Verhältnisse werden sichtbar gemacht, von KünstlerInnen, die sich und ihre Kunst exponieren, um eine breite Öffentlichkeit an dem kritischen Hinterfragen teilhaben zu lassen. Die Gewalt, die von diesen Werken ausgeht, ist eine indirekte, die auf die gesellschaftlichen Grundannahmen der Menschen zielt.
Immer wieder treten Künstler mit ihren eigenen Körpern oder ihren Werken als Erweiterung ihrer Körper auf die Straße bzw. in die Öffentlichkeit. Amal Kenawys Performer treten beispielsweise als Erweiterung des Körpers der Künstlerin auf und bilden so eine vervielfältigte Angriffsfläche für die Entgegnungen der Anwesenden. Bedenken und Fragen werden auf diese Weise in so fern materialisiert, als dass Betrachter einen Bezugspunkt in den real anwesenden Körpern der auf allen Vieren agierenden Akteure haben. Ihre Reaktion geht also nicht in der Anonymität der Masse unter, sondern erhält in der Künstlerin und den Performer Adressaten. Die Reaktionen der Betrachter sind auf diese Weise sowohl mit ihren eigenen Körpern als auch mit den Körpern der Künstlerin bzw. Performer verbunden, da jede öffentliche Kritik an der Darstellung sowohl einen Empfänger als auch einen Absender hat. Der Absender, der die Kritik artikuliert, steht wie die Darsteller und die Künstlerin mit seinem ganzen Körper für die Kritik. Offen gezeigte Reaktionen haben also zwangsläufig eine größere Folge auf das ganze Individuum. Diese Zusammenhänge funktionieren auch, wenn Künstler ihre Werke in der Öffentlichkeit platzieren – im Gemeinschaftsraum, in dem alle auf das Werk reagieren können. Die brasilianischen Pixadores bringen ihre runenhaften Zeichen als Systemkritik massenhaft auf den Häuserwänden São Paulos an und rufen damit bei der Bevölkerung Ärger über die Verschandelung der Stadt hervor. Für die Zeichensetzer ist die Wand jedoch ein wichtiges Medium, um ihre Kritik zu veröffentlichen und sie zur Diskussion zu stellen. Auch hier findet ein Aufeinandertreffen von Akteur und Rezipienten statt und die Betrachter erleben durch ihre eigene Empörung als Reaktion auf das Gesehene einen Bruch im Alltag. Kunst kann also ein Akt der indirekten Sabotage sein, reinstalliert demokratische Kritikformen und bringt das Reale, den Körper oder das Werk als wichtigen Bestandteil der rationalen Urteilsfähigkeit wieder ins Geschehen.
Amal Kenawys „Silence of Sheep“, 2009 (© Still: The Amal Kenawys Estate)
Pixação Graffiti in São Paulo, Brasilien (© Foto: Wikipedia)
Microtime für Seitenaufbau: 1.27579784393