Brinkmann & Bose

Ein Verlagsportrait

2019:September // Birgit Szepanski

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09-2019

Über das Lesen und Verlegen von Büchern – Ein Besuch beim Berliner Verlag Brinkmann & Bose


„Bücher sind plastische Objekte, die einen Ort im Regal einnehmen, wo sie an andere grenzen, Nachbarschaften eingehen, die sich irgendwie, und man wird nie genau wissen, wie, auswirken.“ 1 So beschreibt Rike Felka, Autorin, Übersetzerin und Mitinhaberin des Verlages Brinkmann & Bose, den sie mit Erich Brinkmann seit 1998 führt, Form und Format von Büchern. Charakterisiert wird hier die Ambiguität des Buches. Wir – die Leserinnen und Leser – erinnern uns nicht nur an das Geschriebene, an einzelne Sätze oder Bilder, an durch das Lesen hervorgerufene Gedachte und Erfahrene, Imaginierte und Weitergesponnene, sondern auch an das Buch als einen Gegenstand, der gleich mehrfach mit Orten und Zeiten verbunden ist. Sei es mit der Ordnung oder Unordnung eines Buchregals, mit anderen Aufbewahrungsorten innerhalb der Wohnung, oder wie Walter Benjamin es schildert, mit Städten, privaten und öffentlichen Räumen, Zeitpunkten und Lebensphasen, in denen Bücher erworben und gelesen wurden. 2 Bücher generieren eine Positionierung im Räumlichen, „man weiß, wo sie zu finden sind, kann zu ihnen zurückkehren“ 3 (Felka) und man orientiert sich auch im Raum des Buches: Der gelesene Text lässt sich den Seiten, ihren Abfolgen und damit Richtungen – einem Rechts, Links, Oben, Unten, Vorne und Hinten – zuordnen. Wer wüsste nicht, wo eine persönlich wichtige Stelle in einem Buch, sei es eine Erzählung, ein Roman, ein künstlerisches oder wissenschaftliches Buch, ungefähr zu finden ist. Oftmals lugen Zettel und andere Lesezeichen aus diesen Büchern hervor und erinnern uns an etwas, über das wir gedanklich gestolpert sind, nachgedacht haben oder noch nachdenken wollen.

Im Gegensatz zur digitalen Welt stimulieren gedruckte Bücher ein räumliches und haptisches Erinnern und auch die Machart eines Buches, seine typografische Gestaltung, das Papier und der Umschlag lassen vielfältige Resonanzen zwischen Inhalt, Form und Weltbezug entstehen. Gebrauchsspuren am Buch sind ein Indiz für das aktive Lesen – und doch ist eine weitere Differenz zwischen dem Lesen eines papierenen Buches und dem eines digitalen noch auffälliger. Die vom Smartphone auf Tablets und auf das E-Book übertragene Gestik des wischenden Berührens und Tippens lassen sich als technisierte (Mikro-)Gesten verstehen: Sie spiegeln lautlose und unsichtbare mechanische Prozesse wider, die einen großen Teil des Alltags- und Arbeitslebens durchziehen. Das Lesen in einem gedruckten Buch im Zeitalter des Internets und eines alltäglichen Gebrauchs von digitalen, oftmals miteinander vernetzten Geräten, ist daher eine selbstbestimmte, unabhängige Tätigkeit, die sich einer Überwachung und einem Kommunikationszwang (Online-Sein) entzieht. Angesichts des schnellen Leserhythmus an digitalen Geräten und der Möglichkeit der Stichwortsuche, die einen Text in Millisekunden rastert, kann das Lesen von gedruckten Büchern vielleicht Ausdruck und Form einer subjektiven Freiheit sein.
Die jährlichen Meldungen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zum Verkauf von gedruckten Büchern, der in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, wirft die Frage nach Aktualität von gedruckten Büchern und dem Leseverhalten auf. 4 Doch was bedeutet aktuell? Geht es um eine ‚Krise des Lesens‘ oder vielmehr um grundsätzliche Fragestellungen: Wie lassen sich die Probleme der Gegenwart in Texten und Büchern mitdenken und wie lässt sich gleichzeitig eine eigenständige Sprache und Form finden, die über eine bloße Analyse der Gegenwart und ihrerKrisen hinausweist? Die Frage ‚Was ist aktuell?‘ könnte sich so in ein ‚Was wird aktuell sein?‘ wenden. Aktualität (einer Lektüre) wäre dann etwas, das im digitalen Zeitalter einen den Zeitgeist überdauernden Sinn und Wert hat.

Die Idee, den Verlag Brinkmann & Bose und die Inhaber Rike Felka und Erich Brinkmann zur Aktualität und dem Verlegen von Büchern zu befragen, geht auf eine Beobachtung bei der Kunstbuchmesse „friends with books“ im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart im Herbst 2018 zurück. Zwischen den vielen künstlerischen Eigenverlagen, Kunstbuchpublikationen und Verlagen aus dem Bereich der Kunstwissenschaft fielen mir die Publikationen von Brinkmann & Bose durch ihre besondere Machart auf: Jedes Buch hat eine eigene, auf den Inhalt bezogene Gestaltung, und so variieren die verschiedenen Buchformate, Umschläge, Papierarten und Schrifttypen untereinander. Trotzdem scheint es eine Art Handschrift und typografische Klarheit zu geben, die den Blick immer wieder auf den Titel und Inhalt der Bücher lenkt. Beispielsweise das „Adreß­buch“ (2009) von Peggy Kamuf, eine Antwort auf Jacques Derridas „Die Postkarte“ (1980) aus weiblicher Sicht, erinnert durch abgerundete Ecken und einen orangenen Umschlag mit Prägemuster an die Form eines klassischen Adressbuches; „Das Räumliche Gedächtnis“ (2010) von Rike Felka mit Texten über räumliche Figurationen in Literatur und Film ist mit einem perforierten Umschlag versehen und eine Bildstrecke mit schwarzweißen Fotografien von Architekturen durchläuft den Text wie eine Filmspur; und auch das in Gelb-Rosa und Schwarz gehaltene Kochbuch von Alice B. Toklas (2011) mit außergewöhnlichen Rezepten der erzählerisch begabten Köchin (und Lebensgefährtin Gertrude Steins) lässt sich anführen, um zu zeigen, wie sich in den Büchern Gestaltung, Inhalt und Schreibstil gegenseitig befördern. Damit dies gelingt, bedarf es einer bestimmten Schreibform von Texten, wie Felka zur Auswahl von Manuskripten erläutert: „[…] dass die Schreibweise in irgendeiner Form dem Gegenstand ­adäquat ist und nicht nur „über“ etwas spricht, sondern über die Art, wie das Buch verfasst ist, selbst zum Ereignis wird.“ 5

Im Frühjahr besuche ich Rike Felka und Erich Brinkmann in ihrem großflächigen Verlagsraum im Engelbeckenhof in Berlin-Kreuzberg. Vorbei an Großraumbüros von Architekten, Filmproduktionsfirmen und Designstudios liegt der Verlag im letzten Hinterhof und dies bereits seit den 1980er-Jahren. Als Erich Brinkmann und sein Kompagnon Günter Bose den Verlag 1980 gründeten und 1984 in die Etage im Engelbeckenhof zogen, sah es dort anders aus: Unsanierte Altbauten, Hausbesetzerszene neben Migrantenfamilien, Brachfelder mit alternativer Gartennutzung und die direkt vor dem Engelbeckenhof verlaufende Mauer bildeten eine typische (SO36-)Kreuzberg-Atmosphäre. Heute ist der Verlag Brinkmann & Bose ein renommierter Berliner Wissenschaftsverlag. Die Arbeitsbedingungen in seiner Anfangszeit der 1980er-Jahre wirken abenteuerlich. Für wenig Geld mieteten die beiden Absolventen eines Literaturstudiums (in Freiburg) die damals 400 m2 große Etage an, erwarben alte Buchbindermaschinen und fertigten 2000 Exemplare ihres ersten herausgegeben Buches „Grosz/Jung/Grosz“ 6 im Hin- und Herlaufen zwischen den Maschinen in unbeheizten Räumen des Winters 1980 an. Durch Kälte bricht der Leim von Büchern, sodass beispielsweise in einem anderen Winter eine komplette Auflage von „Ulysses Grammophon“ 7 neu hergestellt werden musste. Gedruckt wurde außerhalb. Zur Arbeit des Verlages gehörte die Typografie, Umschlaggestaltung und die Buchbindung, die viele Arbeitsschritte und Maschinen benötigte. „Um beispielsweise eine kleine Auflage anzufertigen, wäre das alles prima gewesen, abgesehen davon, dass wir es nie gelernt hatten, so wenig wie später Satz oder Typografie und all diese Dinge. Und man kann sich das gut vorstellen, wenn man überlegt, wie die Bogen zusammengetragen werden. Das hat auch ein Gewicht. 16 Seiten sind beispielsweise ein Bogen und wenn ein Buch 240 Seiten hat oder 320 und man das tausend oder zweitausend Mal machen muss, ist das eine endlose, schwachsinnige Rennerei, aber eine schöne Fingerfertigkeitsübung.“ 8 Diese mit großem Arbeitsaufwand verbundene Herstellung von Publikationen von beispielsweise Jacques Derrida, Friedrich Kittler, Klaus Theweleit, eine Ausstellung mit Werken von Unica Zürn 9 in den Verlagsräumen sowie Leseveranstaltungen mit Derrida lassen den Verlag einem Westberlin zuordnen, das heute als intensiv und intellektuell dicht erscheint. Trotz der ökonomisch prekären Situation der 1980er- Jahre wollten Erich Brinkmann und Günter Bose den Verlag fortführen: „Erstens wollten wir daran gedenken, dass man ahnt, dass ein Buch mehr ist als etwas, das man gedruckt vorfindet, und dann sollte es ein deutliches Zeichen sein gegen den Pressedruck. Deswegen haben wir uns immer gegen Etikett und gegen den Verdacht der Bibliophilie vehement gewehrt.“ 10

Gegenwärtig ist der Verlag durch signifikant ansteigende Mieten gezwungen, seinen Standort in Kreuzberg in naher Zeit aufzugeben – auch deswegen gewährt der Besuch in den Verlagsräumen im Engelbeckenhof einen einmaligen Einblick. Der Verlagsraum ist mit ein paar Arbeitstischen bestückt, eine Falzeinbrennmaschine („Prakma“), in ­der Buchumschläge für das Buchbinden vorbereitet wurden, ist ein Relikt aus der Anfangszeit des Verlages. Ein alter Zeichentisch und Archivschrank betonen den Industriecharakter des ansonsten weißen, leeren Raumes. Zu dieser Gestaltung des Raumes erzählt Rike Felka: „Man sieht, dass hier ein Typograf [Erich Brinkmann] wohnt. Zum Beispiel durch die Abstände, die die Dinge zueinander haben, dass die Wände weiß sind. Wir sind tatsächlich ein Verlag ohne Bücherwand, das wird immer wieder mit Erstaunen bemerkt, dass man hier keine Bücher sieht, aber nein, die weiße Wand als Fläche, vor der man Ideen entwickeln kann.“ Dabei wurde die Raumfläche bereits in den 1990er-Jahren halbiert und die in den 1980er-Jahren genutzten Buchbindemaschinen wurden verkauft. Durch das „Desktop-Publishing“ in den frühen 1990er-Jahren waren aufeinanderfolgende Arbeitsschritte in der Buchherstellung (Linotype, Fotosatz, Offsetdruck) nicht mehr notwendig und die Digitalisierung führt dazu, dass heute, so Brinkmann, wenige Quadratmeter und ein Schreibtisch für einen Rechner ausreichen, um ein Buch zu gestalten. Auch bei Brinkmann & Bose stehen im Raum nur wenige Rechner. Auf diese Weise werden in dem Verlagsraum arbeitstechnische Veränderungen von den 1980er-Jahren bis zur kompletten Digitalisierung und der aktuellen Gentrifizierung deutlich. Angesichts dieser Rationalität und Ortslosigkeit, die symptomatisch für die Gegenwart ist, wird umso deutlicher, dass der Kreuzberger Standort Teil der Geschichte des Verlages ist.
Mit drei bis vier Büchern 11 pro Jahr gehört Brinkmann & Bose zu den Kleinverlagen und dies ist, so Brinkmann, weniger eine „Entscheidung als eine Mentalität. […] Mehr wollten Bose und jetzt Rike Felka und ich auch nicht machen. Das ist eigentlich auch eine gute Zahl, wo man wirklich sehr viel machen kann und eigentlich nichts delegiert werden muss. Außer natürlich die Fertigung wie Druck und Bindung.“ Diese geringe Anzahl lässt individuelle Entscheidungen vom Papier zur Typografie und Buchumschlag zu, da keine Produktionszwänge (Serienauflagen) die Gestaltung einengen würden. Den intensiven Prozess der Herstellung eines Buches erläutert Rike Felka: „Unser Grundprinzip ist, dass die Physiognomie eines Buches eine große Rolle spielt und dass diese der geistigen Gestalt des Buches entsprechen soll. Das heißt, wenn wir ein Buch machen, zunächst einmal bestimmte Entscheidungen fällen, über die wir teilweise sehr lange, manchmal wochenlang diskutieren, welche Schrifttype nehmen wir für die Tonart dieses Textes, für die Stimmung dieses Textes. Das kann immer nur eine Andeutung sein, die man aufgreift, das kann man in dem Sinne nicht dingfest machen.“ 12

Dies mag auch auf das schwarz-weiße Cover des Verlagskataloges, der anlässlich einer Ausstellung zum Verlag im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt am Main (2011) herausgegeben wurde, zutreffen. Die Bücher des Verlages werden im Katalog durch das Abbilden einzelner Text- und Umschlagseiten gezeigt, nicht als (fotografische) Objekte. Die Einteilung des Kataloges in eine helle Vorderseite und dunkle Rückseite, die im Buchrücken aufeinanderstoßen und eine visuelle, dritte Kante bilden, lässt an Verpackungen (Mode, Kosmetik) denken und ebenso, verstärkt durch die Fortführung des Hell-Dunkel-Kontrastes auf den ersten Seiten des Kataloges, an die dunkle Tastatur und das illuminierte Bilddisplay eines Laptops. Günter Karl Bose, der 1995 den Verlag verließ, hat zur Ausstellung im MAK das Cover entworfen. Auch Buchgewicht und die Formatgröße sind eine Anspielung auf den Laptop, „der technikgeschichtlich das Buch abgelöst hat, ohne es vollständig als eigenes Register bislang zum Verschwinden gebracht zu haben. Günter Bose ist der Meinung, dass alle wesentlichen Gestaltungskriterien, die in der Geschichte der Typografie entwickelt wurden, im Netz, für die Gestaltung der Webseiten, übernommen worden sind.“ 13 Das Buch als Gestaltungsfeld von Texten verliere nicht an Bedeutung, es fließe durch ähnliche Gestaltungsfragen, so Felka, in den Computer und digitale Darstellungen ein. Während das Internet sich immer mehr auf (Konsum-)Bedürfnisse von User/innen ausrichtet, kann das gedruckte Buch einen medienkritischen Diskurs auf gestalterischer und inhaltlicher Ebene führen. Das Buch selbst wird dadurch zum diskursiven Gegenstand. Bücher wie „Grammophon Film Typewriter“ (1986) von Friedrich Kittler, „Passage des Digitalen“ von Bernhard Siegert (2003) und Alan Turings „Intelligence Service | Schriften“ (1987) decken beispielsweise Veränderungen in Kommunikationstechniken und ihren Bedeutungsebenen auf. Brinkmann & Bose ist ein Verlag, „der das Sprechen der Programme – seien es poetische, paranoide oder Computerprogramme – historisch, philosophisch und typografisch verortet.“14

Buch, Film, Computer – anhand dieser Medien ließen sich auch Verlaufsformen von Bild- und Textverhältnissen nachvollziehen. Das Verhältnis zwischen Bild und Text hat sich im Computerzeitalter nochmals verändert und kommerzialisiert. Dies nimmt Einfluss auf die Gestaltung von Büchern mit Abbildungen, wenn diese nicht zu einem Werbegegenstand werden soll. Die schillernd farbigen Buchcover mit großen Lettern, die zur Zeit in Buchgeschäften zu sehen sind, stehen mit der Ästhetik des Digitalen in Konkurrenz. Der medienkritische Ansatz, den Rike Felka und Erich Brinkmann verfolgen, denkt die medial geprägte Dualität von Text und Bild mit, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen. „Die Textspur zu trennen von der Bildspur, die ja im Kino eine gewisse Einheit bilden, zumindest seitdem es den Tonfilm gibt“, ist ein Bemühen, denn „man versucht meistens, was man hört, mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was man gerade sieht. Es geht nicht darum, dass beide nicht übereinstimmen dürfen, sondern dass dieses Abgesetzte und Eigene immer noch lesbar bleibt und mehrfache Zuordnungen möglich sind. Also kein illustratives Verhältnis. Das versuchen wir in den Büchern, wo mit beiden Medien gearbeitet wird, so dass nicht der eine Bereich den anderen dominiert.“ 15 Dies gelingt in vielen Büchern. In „Indisongkomplex“ 16 , ein Buch über den Zusammenhang zwischen den Texten und Filmen von ­Marguerite Duras, durchlaufen unscharfe, schwarzweiße Stills aus ihren Filmen mittig den quadratisch gesetzten Text. Text und Bild entziehen sich in diesem Kräfteverhältnis (oder dieser Balance) immer wieder einer genauen Zuordnung. Dies scheint auch eine Eigenschaft des Visuellen selbst zu sein: „Immer bleibt bei einem Bild eine Lücke zwischen dem Sichtbaren und dem Gedachten, dem Sichtbaren und dem Schweigen, das uns ein Bild gibt.“ 17

Dieser Umgang mit Text und Bild und deren Lesarten wird im Verlag typografisch und theoretisch reflektiert und gezeigt. Ein aktueller Band mit Schriften Derridas zu den „Künsten des Sichtbaren“, wie Zeichnungen, Malerei, Fotografien und Kinobilder, schafft eine Verbindung zwischen Kunst und philosophischen Grundfragen. Bei der Auswahl von Manuskripten fragen sich die Verleger, „[...] welche Grundfrage stellt sich dieses Buch und ist diese Grundfrage auch heute noch eine, die uns immer wieder selber beschäftigt“18. Ein Buch liefert dabei keine Antwort: Die in einem Buch thematisierten Fragen bleiben für Mehrfachbestimmungen geöffnet. Fragestellungen, die Büchern zugrunde liegen, die der Verlag machen oder herausgeben möchte, sind beispielsweise: „Gibt es eine Krise des Raumes, und wenn, wie und mit welchen Mitteln ließe sie sich beschreiben? Was ist das Poetische? Was ist Dummheit? Worin besteht das Problem des Archivs? Inwieweit ist jedes noch so realistische Foto eine Konstruktion? Inwiefern verdankt sich Kunstproduktion einem psychischen Handicap?“ 19

Das Finden von Manuskripten oder Schriften, deren Rechte noch erwerbbar sind, ist mitunter schwierig oder hängt, wie Erich Brinkmann es formuliert, auch von etwas „Fortüne“ ab. Entweder es sind Texte von zeitgenössischen Denker/innen oder noch nicht veröffentlichte Texte, die seit Jahrzehnten in Archiven und Nachlässen schlummern, wie die Textfragmente „Lexik des Autors“ (2019) aus dem Archiv von Roland Barthes. Eine Übersetzung eines Buches von Jean-Luc Nancy, „Evidenz des Films“, ergibt ein weiteres Buch: „Jenseits der Stadt“ (2011). Bei Reisen nach Paris und New York finden Felka und Brinkmann Bücher, die ins Programm passen und noch nicht ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurden. Momentan wird ein Buch der französischen Philosophin Anne Dufourmantelle 20 übersetzt und herausgegeben, „deren Stil und Denkweise uns sehr anspricht und wir hoffen, dass wir vielleicht nicht nur ein Buch, sondern auch mehrere Bücher von ihr demnächst machen können. Es geht auch immer um diese Übergangsstellen, Schnittstellen zwischen verschiedenen Bereichen. Zwischen Psychoanalyse und Philosophie oder Architektur und Literatur, so dass etwas Drittes entsteht.“ 21 Der Verlag Brinkmann & Bose behält seine eigenständige Position in einer Verlagslandschaft, die sich im digitalen Zeitalter rapide verändert.


1
„Die Gestalt der Sprache“, Rike Felka, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung „Double Intensity. 30 Jahre Brinkmann + Bose“, Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, Berlin 2011, o. S.

2
Walter Benjamin, „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“, (1931), in: Ders., „Walter Benjamin. Medienästhetische Schriften“, Frankfurt a.M. 2002, S. 182.

3
Rike Felka, „Double Intensity. 30 Jahre Brinkmann + Bose“.

4
Beispielsweise haben zwischen 2013 und 2017 6,4 Millionen Menschen in Deutschland, die zuvor regelmäßig lasen, kein einziges Buch mehr erworben. www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/boersenverein-untersucht-die-krise-des-buchhandels-15628403.html

5
Interview von Birgit Szepanski mit Rike Felka, Berlin, 18.2.2019. Falls nicht anders angegeben entstammen die folgenden Zitate Rike Felkas aus dem Interview.

6
„Grosz/Jung/Grosz“, Brinkmann & Bose, Berlin 1980. Texte von dem Schriftsteller Franz Jung (1888–1963), dem Psychoanalytiker Otto Gross (1877–1920) und Anton Wenzel Gross (1872– ?), deren Wege sich in der ‚Irrenanstalt Troppau‘ kreuzen.

7
Jacques Derrida, „Ulysses Grammophon“, Brinkmann & Bose, Berlin 1988.

8
Interview von Birgit Szepanski mit Erich Brinkmann, Berlin, 1.4.2019. Falls nicht anders angegeben entstammen die folgenden Zitate Erich Brinkmanns aus dem Interview.

9
Unica Zürn (Autorin und Zeichnerin, 1916–1970). Ein Gesamtwerk von Texten und Zeichnungen wird vom Verlag zukünftig herausgebracht.

10
Interview mit Erich Brinkmann.

11
Die erste Auflage wird meist in einer Höhe von 800 bis 1400 Stück gedruckt und danach folgen in gleicher Höhe zweite und dritte Auflagen. In den 1980er-Jahren lagen die Auflagen mit 2000 Stück pro Buch höher.

12
Interview Rike Felka.

13
Interview Rike Felka.

14
„Wahnsinn und Bibliophilie. Das erste Buch von Brinkmann und Bose“, Michael Hagner, „Nach Feierabend, Züricher Jahrbuch für Wissensgeschichte 11“, Zürich/Berlin 2016, S. 134.

15
Interview mit Rike Felka.

16
Rike Felka, „Indiasongkomplex“, Brinkmann & Bose, Berlin 1996.

17
Rike Felka zu dem Buch von Jacques Derrida, „Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren 1979–2004“, Brinkmann & Bose, Berlin 2018, Webseite des Verlages.

18
Interview mit Rike Felka.

19
Interview mit Rike Felka.

20
Anne Dufourmantelle (1964–2017), französische Psychoanalytikerin, Philosophin, die durch einen tragischen Unfall verstarb.

21
Interview mit Rike Felka.


 
Günter Bose und Erich Brinkmann, 1990, Foto: Birgit Kleber
Bernhard Siegert, „Relais | Geschicke der Literatur als Epoche der Post“, 1993
Klaus Theweleit, „ONE + ONE“, 1995
Leuschnerdamm, Berlin-Kreuzberg, 1986.
Verlagsräume Brinkmann & Bose, Berlin.

Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Brinkmann & Bose