Onkomoderne

Falsch Denken

2019:September // Christina Zück

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09-2019

Falsch Denken

Kunst klebt wie ein Blutegel an der Freiheit, kommt mir jetzt unter Zeitdruck in den Sinn, sie lindert Schmerzen und saugt sich voll, bis sie fett und bewegungslos auf den Grund des Wasserbeckens gleitet. Blutegel werden nur einmal medizinisch verwendet und verlieren nach der Arthrosebehandlung ihren Nutzwert. Bisweilen nimmt die Rheumatologin die Tierchen mit nach Hause und legt sie zur letzten Ruhe in ein Aquarium, berichten User im Egel­forum. Die Metapher klingt falsch. Das Verhältnis zwischen Kunst und Freiheit ist nichtlinear und auch nicht organisch, ich muss mir mehr Mühe geben, es auszuskizzieren.

Sind Sie (das Pronomen kann beliebig durch alle anderen wie ich/Du/sie/er/es/ette/wir/ihr/they/* ersetzt werden) Künstlerin geworden, weil Sie immer darunter gelitten haben, ständig irgendetwas zu müssen? Sie wollten einfach nur tun, was Ihnen Spaß macht? Niemand sollte da eingreifen, wie lange Ihr Körper Schlaf braucht oder Ihr Gehirn Ruhe, um ein wichtiges Problem zu lösen? Sie wollten zur attraktivsten Clique Ihrer Community gehören? Reich werden wie eine Malerfürstin? Menschen unterstützen, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien? Selfies von Ihrer eigenen Vernissage auf Instagram posten? Sie wollten sich Ästhetiken anderer Gesellschaftsschichten und Kulturen aneignen? Andersartige Logiken praktizieren? Sie wünschten sich mehr Lebendigkeit und Humor im Alltag? Sie haben aus ganzem Herzen Gedichte, Klänge oder Farben geliebt? Der Geruch nach Bleichfixierbad, das Kabelchaos hinter den Monitoren, die bekleckste Malerjeans, die trübe French-Press-Kanne im Atelier, das waren ganz Sie selbst?

Die nervigen Belehrungen, die jetzt kommen, kennen Sie bereits: Als Künstlerin müssen Sie Handlungen so vollziehen und Objekte so herstellen, dass sie in der Wahrnehmung der Betrachter neuronale Verbindungen aktivieren, die als Kunst deklariert und verzollt werden können. Kuratoren, Sammlerinnen, die Künstlersozialkasse, das Finanzamt müssen alles, was Sie tun, nachvollziehen können, daher sollten Sie es eingrenzen und gut verständlich strukturieren. Es ist nicht genug, mit innovativem Wissen zu experimentieren und Materialität umzuformen, sondern Sie müssen Ihre Tätigkeit durch gezieltes Marketing, Social Media, Selbstverwissenschaftlichung und affektive Arbeit in das Kunstfeld hinein networken. Einfach im Atlantik unterzugehen, wie Bas Jan Ader es auf einem Segelboot performte, ist an aufwändige Kommunikationsstrategien gekoppelt. Falls Sie Probleme mit der Diversifizierung Ihrer Tätigkeit haben, gibt es Coaches, Systemaufstellungen, Bodywork und Leute, die für Sie Projektanträge schreiben. Dass die materielle und immaterielle Gewinnerzielungsabsicht der wesentliche Teil der Kunst ist, müssen Sie in Ihren Lebensentwurf integriert haben. Ihre empfundene Erfolglosigkeit wirkt gleichwohl produktiv auf die Gesellschaft zurück und läßt lässt ganze Industriezweige aufblühen. Immer stärker widerspricht das blöde Gesülze vom Markt Ihrem ureigensten Naturell. Ihre Gefühle sind der authentische und freie Ausdruck Ihres Wesens, so haben Sie anhaltend schlechte Laune, die Sie verbergen, weil Sie problemfrei und positiv auf andere Menschen wirken wollen. Auch von diesem affektiven Zwiespalt profitiert die Wirtschaft. In Ihrer Seele haben sich Überreste eines Subjektkonzepts aus der Epoche der Aufklärung einen freien Willen erkämpft, der pausenlos Paradoxien hervorbringt, die sich als üble Energievampire erweisen.

Ohne die normativen Fluchtpunkte Erfolg, Liebe, Glück, Erfolg, Einzigartigkeit und ganz besonders auch Freiheit, die überall wie Pollen im Raum herumschweben, erschiene die allumfassende Produktivität unerträglich. In der Romantik, der Gegenbewegung zur Aufklärung, entwickelte sich die Gesetzlosigkeit für alle künstlerischen Praktiken zur Zielvereinbarung. Scherben auch dieser ideengeschichtlichen Formationen blockieren immer noch ihr Fortkommen. Befreite künstlerische Regelbrüche und beschleunigte Effizienz bilden schon lange keine Gegensätze mehr. Das Andere, die unerwünschte Kehrseite der gegenwärtigen Misere, dass Sie nun erforschen und ins Zentrum Ihrer Praktik stellen können, ist absichtsloses Herumhängen, Unsichtbar-, Müde- und Depressiv-Werden, Scheitern, das Abfallen der Leistung, sick time, sleepy time und crip time. Damit lässt sich kein Skandal und kein Protestwesen generieren. Neben der Erwerbsarbeit müssen Sie auch genug psychische Energie aufbringen, um zu verleugnen, was Sie sowieso schon wissen: Wie zerstörerisch die Hypertrophie der Gegenwart ist. Ihre Haltung schwankt den ganzen Tag lang zwischen Hinnahme und Verweigerung, während Sie doch ganz gut funktionieren, so dass alles so weitergehen kann und nichts zusammenbricht. Sie sind ein selbstgouvernementales Subjekt geworden anstatt ein freies. Sie sind eine twitterne Eiche, die sich für die dringend notwendige Lobbyarbeit gegen den Klimawandel ausbeuten lässt. Ihr ureigenstes Seelen- und Körperwissen haben sie aufgegeben. Ihre Versuche, es sich wieder zu erschließen, enden wie die meiner Shinrin-Yoku-Gruppenleiterin, die sich alleine mit Regenplane und Isomatte in den Wald zurückzieht und von dort aus Status-Updates von der Sonnenwende, der Dämmerung und all den anderen mystischen Glückserfahrungen postet, die sie da so hat.

Im Chor stimmen Sie in das Mantra mit ein: Jenseits der Erwerbsarbeit hat sich die Ökonomie zu allen Lebensbereichen Zugriff verschafft. Freiheit ist ihr Joker, die sie als Schnäppchen vermarktet und durch die sie weiter wachsen kann. Je mehr Freiheit man für sich herausholen kann, desto enger wird’s für alle anderen. Die quantifizierbare Wirtschaftsmacht nimmt irrationale und religiöse Eigentümlichkeiten an, obwohl es bei den Marktteilnehmern zu keiner Aktivierung irgendwelcher nachweisbarer Glückshormone im so sehr gepflegten eigenen Organismus führt. Neben den immer neuen Belohnungsimpulsen müssen Sie mit wuchernder Bürokratie, überfüllten Verkehrsnetzen, auf ein Minimum reduzierten Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, überteuertem Wohnraum und einer kollabierenden Umwelt zurechtkommen. Sie müssen sich denen unterwerfen, die die Engpässe verteilen und verwalten. Hinzu kommt, dass einige besonders gewaltaffine Menschen sich von der Ausweglosigkeit übermäßig stressen lassen, aber wieder zum Genießen finden, indem sie die Diktatur zurückfordern – mit sich selbst an privilegierter Stelle. Die triumphierende Souveränität über das Gewürm, das zeitintensiv diskutieren und respektvoll Konflikte lösen möchte, bringt lustvolle und ermächtigenden Gefühlseffekte hervor. Rausch und Härte haben die Kraft, über Paradoxien, komplexe Vernetzungen und möglichst viele unserer historisch erkämpften Freiheiten hinwegzufegen. Die Autoritären haben die Negativität für sich vereinnahmt und nehmen damit auch Ihnen die Freiheit, Ihren unproduktiven und zerstörerischen Bedürfnissen nachzugehen. Sie werden auf die wissenschaftlich begründete, bürokratisch abgesichterte Kritik zurückgeworfen, um Ihrem Unwohlsein Raum zu geben.

Wenn Not und Ungerechtigkeit zu groß werden, lässt sich Freiheit immer wieder umpolen, reaktivieren und neu aufladen. Künstlerische Praktiken tragen dazu bei, andere Vorstellungen von Freiheit auf den Markt zu bringen. Lebensbejahende Widerstandskräfte und positive Zukunftshorizonte konkurrieren immer weiter um die Fähigkeit zur Veränderung. Es gibt kein falsches Leben im falschen. Was soll denn auch am Leben falsch sein? Es entwickelt sich wie von selbst vor sich hin. Aus der übergeordneten Per­spektive werden Sie Werke und Ideen im historischen Verlauf betrachten. Als sich wiederholende und ausdifferenzierende Formen, Strukturen, Systeme ziehen sie an Ihrem Blick vorbei, trotz der Einschränkungen Ihrer Handlungsmöglichkeiten, ganz friedlich und ruhig, manches stirbt irgendwann aus. Der Atem kommt und der Atem geht. Es wird ästhetische und soziale Fortschritte geben, Blockaden in den Knotenpunkten des Netzwerks, Metastasen und bunte schlangenförmige Diagramme, die alle Impulse bebildern und quantifizieren. Die Wellen verwandeln sich in Algorithmen und gewinnen an Macht, sie loten die Balance präzise aus, was als Freiheit gelten soll, und für wen es mehr und für wen es weniger geben soll.

Sie haben die Deadline für eines Ihrer Projekte nochmal verschieben können. Jedoch müssen Sie gleich weitermachen, um einen wichtigen Termin für nächste Woche vorzubereiten. Sie müssen noch Ihre Übungen machen, sonst stehen Sie das nicht durch. Sie könnten auch in die Sonne gehen, aber dann wird alles noch enger, auch wenn Sie kurz mit dem Auto die zwei Kilometer zum Park fahren. Sollen Sie ein Beratungsgespräch in Anspruch nehmen? Einen Behandlungstermin buchen? Sie haben die Freiheit, alles hinzuschmeißen, und dann wären Sie endlich raus. Müssten dann sofort woanders wieder rein, in ein neues komplexes System. Dutzende Belege für Hartz IV heraussuchen, Termine wahrnehmen. Mit abgestumpften Ärzten über Ihre Medikamentendosis verhandeln. Eine Hütte im Grunewald bauen, eine leerstehende Höhle am Arunachala suchen. Bis Sie schließlich erkennen, dass es nichts zu tun gibt. Alles ist eins. Ein zeitloses Gegebenes, in dem Formen und Gedanken erscheinen und vergehen, unendlich, unabänderlich. Wenn Sie darüber meditieren, stellen Sie es sich wie einen Torus vor, der nur scheinbar pulsiert. Da ist nichts als sirrende Lichtteilchen.























 
Fotos: Christina Zück