Altersarmut bei Künstlern

Teil 2

2016:September // Christian Linde

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09-2016

Abgehängt im Abspann


Arbeit mit Regeln als Auslaufmodell. Nicht nur Autoren, Musiker und Künstler gehören zum wachsenden Prekariat. Auch Zehntausenden flexibilisierten Freiberuflern aus der Filmbrache droht die Altersarmut.

‚Leiharbeiter‘, ‚Schein-Selbständige‘, ‚Minijobs‘: Schlagworte, die einem bei der Zeitungslektüre immer häufiger begegnen. Die Begriffe gehören zum Standardrepertoire der sich wandelnden Arbeitsgesellschaft. Fremdworte für Akteure aus traditionellen Arbeitsfeldern – wie der Öffentlichen Verwaltung und der Industrieproduktion – beschreiben inakzeptable Arbeitsverhältnisse. Zuletzt sorgten Enthüllungen über die Zustände im Bereich des Paketzustelldienstes für Aufsehen. Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff veranschaulichte extreme Formen eines deregulierten Arbeitsmarktes: Vorgeschaltete Verleihfirma statt direkter Arbeitgeber, keine geregelte Arbeitszeit, unfaire Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung. Verhältnisse, die für immer mehr Menschen den Arbeitsalltag in neu entstehenden Berufsbildern bestimmen.
Und dennoch nichts neues: „Prekäre“ Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse waren auch bereits in der Vergangenheit Wesensmerkmal bestimmter Berufsgruppen – Autoren, Musiker, Künstler, Maler und Journalisten.
‚Vitamin B‘, Bereitschaft zur Selbstausbeutung oder ‚Kollege Zufall‘ bestimmen in der Regel die Auftragslage der in Feuilleton und Literatur häufig romantisierend skizzierten Lebens­entwürfe. Tatsächlich waren die Unternehmer in eigener Sache bis in die 1980er Jahre marginalisiert und von sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen. Dass die Gründung der Künstlersozialkasse im Jahre 1983 ausgerechnet in die Zeit fällt, in der der Rück- und Abbau des Sozialstaates bereits eingeleitet war, darf als Ironie der Geschichte gewertet werden.

Flexibilisierte Freiberufler
Heute beherrscht die Grauzone der Unsicherheit die Existenz und das Selbstverständnis weiter Teile der ‚Kreativen Klasse‘ und flexibilisierten Freiberufler. „Es herrscht die Überzeugung vor, die geregelte Arbeit der Elterngeneration sei ein Auslaufmodell“, schreibt Rainer Meyer über die digitale Berliner Boheme. Im Zweifel rechnen sich Mediengestalter, digitale Dienstleister oder Online-Journalisten in ihrem beruflichen Dasein der Zunft der „Künstler“ zu, deren Gestaltung von Tagesstruktur, Arbeitszeit und Verdienst traditionell nun einmal „frei verhandelbar“ sind. Deren Lage beleuchtet die Beantwortung des Berliner Senates auf eine parlamentarische Anfrage: „Über 70 Prozent der Musikerinnen und Musiker und Darstellenden Künstlerinnen und Künstler haben derzeit keinen Proberaum, weil sie sich keinen leisten können. Auch im Bereich Bildende Kunst herrscht akute Raumnot: 69 Prozent der Bildenden Künstlerinnen und Künstler und 84 Prozent der Projektraumbetreiberinnen und -betreiber schätzen ihre Arbeitsräume aufgrund von Mieterhöhung, Kündigung oder Umwandlung als bedroht ein.“ Die Künstlersozial­kasse, bei der mehr als 3000 Autorinnen und Autoren versichert sind, beziffert das durchschnittliche Jahreseinkommen von Schriftstellern und Dichtern mit rund 13 600 Euro. Dabei liegen Frauen sogar noch im Schnitt um fast 3000 Euro darunter. Damit bestätigt sich im übrigen auch in diesem Berufszweig die Einkommensdiskriminierung des weiblichen Geschlechtes.

Jenseits des Roten Teppichs
In ähnlichen Nöten wie die Autoren befinden sich die Branchen-Mitarbeiter der Filmwirtschaft. Jenseits des Roten Teppichs leben die meisten Beschäftigten nahe an der Armutsgrenze. Ob Kameraleute, Maskenbildner, Beleuchter, Cutter, Tontechniker oder Bühnenbildner, der überwiegende Teil der Filme, Dokumentationen, Fernsehspiele und TV-Serien wird von Freischaffenden ohne feste Anstellung und ohne nachhaltige soziale Absicherung hergestellt. Gleiches gilt für Schauspieler und Regisseure. „Praktisch alle, die im Abspann erscheinen“, beklagt Michael Neubauer, Geschäftsführer des Berufsverbands Kinematographie.
Die Produktionsfirmen buchen die Crews lediglich für die Dauer der Dreharbeiten. Für die Realisation eines Fernsehspiels oder Kriminalfilms werden in der Regel sechs Wochen Produktionszeit angesetzt. Nur in diesem Zeitraum zahlen die Mitarbeiter als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Beiträge in die Kassen der Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Selbst wer an mehreren Produktionen beteiligt ist, bleibt im Durchschnitt mehr als die Hälfte des Jahres ohne festes Engagement. Mit verheerenden Folgen. Um, wie herkömmliche Arbeitnehmer in den Bezug von Arbeitslosengeld zu gelangen, wäre eine 24-monatige Beschäftigungszeit erforderlich. Weil dies in nur wenigen Fällen zutrifft, hat der Bundesgesetzgeber 2009 eine Ausnahmeregelung für Filmschaffende beschlossen, die das Arbeitslosengeld I (ALG I) dann gewährt, wenn innerhalb von zwei Jahren kein Vertragsverhältnis über den Zeitraum von 10 Wochen hinausreicht. Ist im gleichen Zeitraum die Mindestdauer von insgesamt sechs Monaten Erwerbsarbeit erreicht, greifen die gesetzlich üblichen Versicherungsleistungen. Zumindest auf dem Papier. Tatsächlich bleibt die Sonderregelung jedoch wirkungslos. So wurde von gerade einmal 406 bundesweit entsprechend gestellter Anträge zwischen April 2014 und März 2015 nur 295 stattgegeben. Dabei ist nach Schätzungen der Bundesregierung von rund 40 000 Anspruchsberechtigten auszugehen. Selbst wer Rücklagen bilden konnte, braucht diese während eintretender Durststrecken wieder auf. Deshalb droht nach Angaben des Berufsverbandes Kinematographie einer großen Zahl unregelmäßig beschäftigter Kulturschaffender die Altersarmut.

Manifest von Machern
Verschärft hat sich die Situation in den letzten Jahren noch durch die „Programmreformen“ der Fernsehsender. Nicht ohne Reaktion. „Dok-Regisseure vereinigt Euch!“ – unter diesem Motto haben sich mittlerweile über 400 Regisseure zusammengefunden und eine Interessengemeinschaft ins Leben gerufen. Gemeinsam setzen sich die Filmemacher für angemessene Arbeitsbedingungen ein. Die Forderungen haben die Aktivisten in einem „Manifest“ zusammengefasst. „Wo sind sie: hochwertige Dokumentarfilme, faszinierende Reportagen, Dokusoaps aus dem echten Leben und engagierte Magazinfilme? Stück für Stück verschwinden sie von den Bildschirmen“, monieren die Dokumentarfilmer. „Wir sind die freien Regisseure. Die mit ihrer dokumentarischen Arbeit für Qualität garantieren und die Quote als Herausforderung annehmen. Aber wir sind auch die, deren Filme gezeigt werden, wenn das Publikum schon längst schläft. Die arbeiten und nicht mehr davon leben können. Die erst die Hoffnung und dann das Filmemachen aufgeben: denn statt sich zu verbessern, verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen stetig“, heißt es in dem Manifest.

Ausgebeutet statt ausgebildet
Adressiert ist die Kritik nicht nur an die öffentlich-rechtlichen Sender, „die unsere Filme jederzeit gerne zur Rechtfertigung ihres Auftrags heranziehen, aber dafür nicht fair bezahlen wollen.“ Und auch an private TV-Stationen, die sich mit ihrem Informationsanteil schmücken – „der tatsächlich aus journalistischer Billigarbeit und mittels Ausbeutung von engagierten Menschen entsteht, die sich wünschen, in einer spannenden und kreativen Branche zu arbeiten.“ Dritte im Bunde sind nach Auffassung der Dokumentarfilmer die Produktionsfirmen, „die mit Hinweis auf schmale Senderbudgets Lohndumping betreiben und Konkurrenzverhältnisse ausnutzen. In denen Praktikanten und Volontäre nicht ausgebildet, sondern ausgebeutet werden.“

Pilotprojekt mit Privaten
Zumindest auf der Einnahme-Seite zeichnet sich für eine Teilgruppe Besserung ab. Mitte August dieses Jahres haben sich der Berufsverband Kinematographie und die Fernsehsender Pro Sieben/Sat 1 auf Vergütungsregeln verständigt. Erstmals erhalten damit freischaffende, bildgestaltende Kameraleute von einem privaten Sender ab einer bestimmten Zuschauerreichweite eine Erfolgsbeteiligung – dazu zählen auch Internetklicks und DVDs/Blu-rays. Immerhin gilt das Papier rückwirkend bis in das Jahr 2002. Maßstäbe, an denen sich nach Meinung der Kinematographie-Vertreter öffentlich-rechtliche Sender messen lassen müssen. Schließlich ist der Abschluss ausgerechnet mit einer Sendergruppe gelungen, die nicht gebührenfinanziert arbeitet, sondern jeden Euro am Markt verdienen muss.


Teil 1 siehe
Christian Linde – So weit die Füße tragen
Bild: Andreas Koch