EUROCITY

2023:Februar // Jae August und Leo Elia Jung

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02-2023

EUROPACITY ist längst überall. Um EUROPACITY zu erfahren, ist es nicht nötig, sich tatsächlich an dem Ort in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs – der Europacity, die immer noch nur eine Baustelle ist – physisch aufzuhalten. Während die Baustelle ohnehin eine dauerhafte Angelegenheit der stetigen Wartungsarbeit ist, kann EUROPACITY in latenter Form schon in der Vollkommenheit der Planung besichtigt werden: im Render; der Maximalform zeitgenössischer Utopie – längst bevölkert von Leben, so wie es EUROPACITY bereitstellt – und der zukünftigen Realität ist kein Unterschied mehr zu erwarten. Die Utopie, der Nicht-Ort, duty-free EUROPACITY, ist nicht auf die reale Existenz der ortsgebundenen Europacity angewiesen. „Europa“ meint auch nur vordergründig den Kontinent – siehe die Iterationen in Paris, Stuttgart – die Lokalität im Namen löst sich schrittweise auf, der Globalisierung folgend. EUROPACITY ist längst überall – als Utopie, sich in asymptotischer Bewegung mit exponentiell steigender Geschwindigkeit dem Nullpunkt ihrer Perfektion annähernd, ohne ihn je ganz zu erreichen.

Dieser Nullpunkt, das Void, erstreckt sich als universeller, spiralförmig in die eigene Mitte ausgerichteter Horizont der Vorstellungskraft durch das Leben in seiner Totalität. EUROPACITY ist nur der Versuch, den Apple Store endlich bewohnbar zu machen. Die Parallelen sind evident – die sauberen, glatten Oberflächen, in die sich perfekt zugeschnittene kleine Bäume reihenmäßig einfügen; the leisure-elements; die einladende, aber nicht zu gemütliche Ausleuchtung des einzigen, großzügig gefüllten und trotzdem völlig leeren Raumes; die Glaswände und -türen, in denen sich am Hackeschen Markt das Café Cinema spiegelt, als wäre das alles irgendwie auch noch lustig. Aber dass EUROPACITY strukturiert ist wie ein Apple-Produkt-Display, ist kein ästhetischer Zufall. Was Apple als continuity features verkauft, das nahtlose Zusammenwirken all seiner Produkte als Ecosystem – ist ein Prinzip, das notwendigerweise dazu bestimmt ist, sich über die Grenzen der Produktlogik hinaus zu kontinuieren. Die Expansion der Logik der Nahtlosigkeit von der digitalen in die analoge Welt ist viel umfassender als ein bloßes Anknüpfen der beiden, als augmented reality. Es manifestiert sich subtil, in der nahtlos-unmittelbaren Lebensumgebung, im lokalen Hauptbahnhof/Flughafen/öffentlichen Raum/Junkspace1; im Raum an sich. Der Raum ist EUROPACITY.

Leben in EUROPACITY ist dominiert durch ein Beschäftigungsverhältnis, das Produktion so nahtlos in Reproduktion übergehen lässt, dass beides ununterscheidbar wird. Die Unterschiede zwischen Wohnung-Büro-Supermarkt-Kino-Café-Meeting-Raum etc. sind nichtexistent. In EUROPACITY ist Homeoffice überall. Die Architektur ist pod-ifiziert – jedes Gebäude eine Variante, eine spezifisch gerahmte Edition des gleichen, sich an die Form des Menschen(-Lebens) anschmiegenden Behälters. Die Passform ist nahtlos, d.h. verlustlos komprimiert: Das Dazwischen – Verlassen, Transit, Warten, Ankommen – gibt es nicht mehr, ist kontinuiert ins Nichts. Der paradoxe Effekt: nie zu verlassen, nie anzukommen ist gleichbedeutend mit ewigem Transit, der Verallgemeinerung des Wartens in der Form von work-life, als balancierte Bedeutungslosigkeit.

In EUROPACITY ist jedes Modul, jeder Teil jeder Ecke, zunächst ein Ende in sich selbst, und des Erbes, in dessen Tradition es steht und das es nun endlich abschließen will; jedes Teil verweist auf große Erzählungen eines Europas der Vergangenheit – und segnet sie mit einem ganz besonderen Modus der (zumindest als solche gerahmten) Kritik: eine ehrfürchtige Verwischung der Ränder: ein beschämendes Missverständnis von Aufarbeitung – das nun schließlich Platz machen muss und immer Platz machen sollte für das Void, für das Voide, für das Voiding; die Bedingung, aus der EUROPACITY geboren wurde und sich materialisiert. Wenn man das Ende der Geschichte auf 1991 datiert2 (während es in Berlin spätestens 1989 begann), dann endete die Afterparty in 2001 mit dem Einzug eines Architekturbüros in den ehemaligen Reichsbahnbunker Friedrichstraße (Club Bunker), dann noch einmal im Jahr 2003, als Christian Boros den Bunker kaufte – was Mark Fishers Behauptung einer slow cancellation of the future seit 20033 sozusagen gentrifiziert – und begann somit etwa Mitte der 2010er-Jahre kontinuierlich zu enden, siehe Berlin-Mitte. Die Void-Condition ist das logische Ende der Postmoderne, das kulturelle Ende des Spätkapitalismus4, eines Zeitalters, das sich vom Ende befreit hat und so selbst zu einem ständigen Ende wurde. Las Vegas hat von sich selbst gelernt5, Main Street schon vor langer Zeit gestreamlined und das umliegende Gebiet wahrscheinlich in EUROPACITY umbenannt. Was man sieht, ist das, was man bekommt, das, was es immer sein sollte: Oberfläche ist Substanz. Das Möbiusband als Architektur.

EUROPACITY gibt sich klassenlos oder vielmehr: löst die Klassen auf in sich selbst, in EUROPACITY. Sie ist weder Ein- oder Ausschließungsmilieu noch gated community. Niemand ist vor EUROPACITY sicher. Antizipierte Differenz ist vorsorglich schon im Render entschärft als Diversität des Gleichen. Nach Auftrag produzierte Graffitis zeigen Silhouetten dekontextualisierter Subkulturen, für die es in EUROPACITY keinen Existenzgrund mehr gibt. Unbegrenzte Aneignung verschleiert die realen Gegensätze nicht mehr als verzerrtes Bild der Wirklichkeit, sondern als die Wirklichkeit selbst, wie sie die Gegensätze im Bild lokaler Repräsentation auflöst. Die Bewohner_innen, als EUROPACITIZENS spektakulär geeint6, werden individualisiert auf das reduziert, was sie als Masse ausmacht: das Leben für die Arbeit, die Arbeit für das Leben.

Die Bedeutungslosigkeit der Kategorien, die alles Partikulare und Lokale definieren, löst den konkreten Ort, z.B. die Europacity, in einen abstrakten Nicht-Ort, EUROPACITY, auf. EUROPACITY ist die Lösung, die die konkreten Probleme, die sich partikular-lokal stellen, in die Universalität des Abstrakt-Globalen auflöst. Der problematische Widerspruch, lokal scheinbar gelöst, verselbstständigt sich global als die scheinbare Lösung, die den Widerspruch nun als unlösbaren in sich selbst trägt. „Global“ ist in EUROPACITY nur der Anspruch auf grenzenlose Verwertung, auf endloses Recycling von Raum und Zeit – womit sie sich präsentiert als die unausweichliche Vernunft, als Ende und Zweck aller menschlichen Entwicklung. EUROPACITY ist die Lösung der Stadt: Die Lösung, die ihre internen, urbanen Widersprüche als post-urbane Unlöslichkeit globalisiert verewigt.

EUROPACITY ist ein Mittel zum Zweck, ein Zweck aller Mittel. EUROPACITY war katholisch, wurde protestantisch, was sie auch war (und schlussendlich immer noch ist), bis sie sich für ausreichend aufgeklärt hielt, um sich endlich selbst in die Mitte des Altars zu stellen, in selbstbewusster Ignoranz gegenüber der Physik des Sonnensystems. EUROPACITY brachte die Moderne hervor, die Tugend des Fortschritts, die die Sache immer weiter vorantreibt und sich ihrer eigenen Grenzen des Denkens, an dessen Fundament sie so lange gearbeitet hatte, nun wirklich nicht mehr bewusst war: ihren eigenen Turm zu Babel, eine Konstruktion aus Stahl und Milchglas, austauschbaren Fassadenmodulen, intelligenter Isolierung und Klimaanlagen; das römische Atrium in der Mitte des Turms macht ihn zu einer Art dezentralisiertem, demokratischen Panoptikum. Aber weil Gott nun entweder schon lange tot war oder nie existierte, gab es niemanden, um die Menschen mit Differenz zu belohnen, als die Konstruktion durch die dicke Wolkenschicht brach, die die Reiche des Heiligen und des nicht so Heiligen trennt. Der Himmel, der sich über den Wolken auftat, entpuppte sich als free real estate: homogen geformtes Rohmaterial, das nur noch eine Sprache spricht; so betäubend laut, dass sie verstummt; die Sprache des ­Voids. Mensch war Gott und damit selbst verantwortlich für seine sterbende Heimat (EUROPACITY), bereit sie zu öffnen für den Neoliberalismus von Mont Pélerin und Jackson Pollocks Klecksgemälde – beides ist auf das Jahr 1947 zurückzuführen, das Jahr, in dem die ersten nicht-schmelzbaren Stahlträger für den Bau des Turm zu Babel 2.0 gegossen wurden und der Faschismus sich auflöste in die faschistische Logik, in die Diktatur der anonymen Struktur. EUROPACITY ist Architektur für das Void: die Umrahmung eines Raumes, der kein Raum mehr ist, sondern nur noch Leere.

1
Rem Koolhaas: Junkspace (2002)
2
Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man (1992)
3
Mark Fisher: Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology, and Lost Futures (2014)
4
Frederic Jameson: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism (1991)
5
Denise Scott Brown, Robert Venturi, Steven Izenour: Learning from Las Vegas (1972)
6
Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels (1967)



Jae August und Leo Elia Jung, Città ideale (Europacity), 2022, digitale Collagen