Vom Auf- und vom Absteigen

2023:Februar // Peter K. Koch

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02-2023

Im Frühjahr 1980 kaufte sich mein Vater einen neuen goldfarbenen BMW 735csi. In der Schule gehörte ich fortan zu der Klasse derjenigen, deren Väter ein teures Auto hatten. Mit dem Auto fuhren wir, mein Vater, seine Sekretärin (Zwinkersmiley) und ich über Ostern nach Adelboden in der Schweiz zum Skifahren. Für mich war das normal. Die Frau hasste ich, denn ihretwegen gehörte ich zu der Klasse derjenigen, deren Eltern getrennt waren.
Nicht viel später entschloss ich mich dazu, der Klasse der Gewalttätigen beizutreten, was in der Folge recht schnell dazu führte, dass ich auch zur Klasse der Straffälligen gehörte, um dann zur Klasse der Ziellosen überzuwechseln, also aus meiner inneren Sicht fortan klassenlos war. Es dauerte dann sehr lange, bis ich mich bewusst einer Klasse zugehörig fühlte, und das war die Klasse der Kreativen, die Klasse der Ausdenker und Umsetzer, als Teil einer universalen und außerhalb der konventionellen Gesellschaftsform stehender Künstler-Kaste, einer quasi proto-demokratischen Vereinigung, die über Sprachen und Länder, über Geschlechter und Herkünfte hinweg eine alle Unterschiede nivellierende Gemeinsamkeit pflegt. Bis ich dann kapiert habe, dass es in dieser „nivellierten Gemeinschaft“ ebenso hegemoniale Strukturen gibt, die gleichen feinen und von außen schwer und auch von innen erst nach und nach identifizierbaren Klassenabstufungen, die Unterscheidungen zwischen Ranghöheren und Rangniederen, wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen auch.
Klassenzugehörigkeit bzw. das damit verbundene Klassenbewusstsein kann etwas sehr Stabiles sein. Man kann es so betrachten: Wenn man zum Beispiel aus der Oberklasse kommt, also qua Herkunft ein Klassenbewusstsein mitbringt, das nahezu unauslöschbar ist, die eigene Wertigkeit mit jeder Pore aufgesogen, wie eine Impfung, dann kann man sich auch nach einer langen Phase mit stark schwindendem Einfluss, sei es durch den Verlust von Vermögen oder anderem gesellschaftspolitischen Einfluss, immer noch sehr oberklassig fühlen. Der Verlust fühlt sich dann möglicherweise wie ein langanhaltender Phantomschmerz an, bringt aber selten diese eingeimpfte Überzeugung zu Fall, noch immer der Klasse anzugehören, der man rückblickend (über Generationen) entstammt. Credo: Das steht mir einfach zu!
Drehen wir es um: Ein rückblickend über Generationen der sogenannten Unterklasse entstammendes Individuum kann sich durch persönlichen Erfolg und durch andere psychosozial wirksame Veränderungen noch so sehr aus seinem Ursprungs-Milieu entfernen, die Impfung wird auch hier ihre Wirksamkeit mit ähnlicher Macht entfalten wie beim Oberklassenmensch und häufig dazu führen, dass ein bestimmtes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber denjenigen bestehen bleibt, die schon immer viel gehabt haben und sich nicht erst viel erarbeiten mussten. Credo: Das steht mir einfach nicht zu!
Angehörige der Mittelklasse haben diese Probleme weit weniger, weil sie es näher zur Oberklasse haben und näher zu Unterklasse. Die Oberklasse und die Unterklasse sind hingegen Milliarden Lichtjahre voneinander entfernt. Was passiert nun, wenn sich zwei Menschen, einer auf der Bergfahrt, einer auf der Talfahrt an der gleichen Station im Leben begegnen. Stellen wir uns vor: Ein Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, aus Generationen kommend, die in kleinen und kleinsten Verhältnissen leben, die im wahrsten Sinne des Wortes Verbrauchende (also sich selbst Aufbrauchende) waren, keine Handwerksmeister, keine Händler, keine Gebildeten, sondern allerhöchstens gehobene Handlanger oder, wenn man es etwas eleganter formulieren möchte, Handlungsreisende in eigener Sache, Mundart sprechende Katholiken aus dem Rheinland, zweifelsohne lebendige und humorvolle Menschen mit Begabungen, die sich ihrer (unteren) Klassenzugehörigkeit absolut bewusst waren und vielleicht auch darunter gelitten haben. Stellen wir uns weiter vor: Eine Absteigerin aus großbürgerlichen Verhältnissen, über Generationen im wahrsten Sinne des Wortes Gebrauchende (also andere Aussaugende), dem Großbürgertum zugehörig, dann aber, durch Einflüsse der Zeitläufte und generationsübergreifende persönliche wie wirtschaftliche Fehlentscheidungen Einzelner ihres Einflusses und ihres Vermögens immer einschneidender beraubt, hochdeutsch sprechend und protestantisch, aus den verlorenen Ostgebieten des Landes stammend, pflichtbewusst und weitestgehend humorfrei.
Diese beiden Protagonisten begegnen sich nun wie in einem Paternoster, der eine auf der Fahrt nach oben, die andere auf der Fahrt nach unten, und fühlen bei der Begegnung etwas, das sie für Liebe halten, bekommen Kinder und gründen eine Familie. Der Aufsteiger verdient plötzlich viel Geld und ist, im Sinne der klassischen Rollenverteilung innerhalb der ehelichen Verbindung und ohne jeden Kontakt zum Akademischen und der daraus entspringenden rebellierenden Jugendbewegungen der 60er Jahre, der Alleinversorger. Die Absteigerin ist Hausfrau. Trotz seines finanziellen Erfolgs kann er seine Herkunft und die damit verbundene generationsübergreifende tiefe Verschweißung mit der Herkunftsklasse nicht abstreifen und fühlt sich als jemand, dem nicht zusteht, was er nun hat. Die daraus resultierenden Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der Absteigerin, die eigentlich nichts hat, aber anscheinend doch etwas hat, was mit Geld nicht zu kaufen ist, nämlich ein unerschütterliches (Klassen-)Selbstbewusstsein, führt unweigerlich zu Missverständnissen und Ablehnung innerhalb der Verbindung. Die unsichtbare Phantom-Klassenzugehörigkeit sprengt die Ehe.
Der Aufsteiger lebt auch danach sein Leben in der Überzeugung, dass Geld ein wichtiges Instrument in der Gewinnung von Anerkennung und Zuneigung ist und verkennt damit die Realität, dass man sich aus seiner (Unter-)Klasse auch bei guter Führung nicht einfach so verabschieden kann. Leidvoll muss er am eigenen Leib erfahren, nachdem sein geschäftlicher Erfolg schwindet und das geschaffene Vermögen nach heftiger Bruchlandung dahin ist, dass sich seine neuen (Geld-)Freundschaften von ihm abwenden, weil er nun wieder ein Rangniederer ist. Mühsam versucht er in der Folge zu erlernen, um was es im Leben wirklich gehen könnte.
Die Absteigerin bleibt auch nach der Auflösung der Ehe in ihrem Habitus stabil und lebt finanziell ein vergleichsweise bescheidenes, aber selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben. Geld zur Gewinnung von Anerkennung spielt in ihrem Leben keine Rolle, denn sie weiß, wo sie herkommt, und diese Stabilität lässt sie niemals an den tatsächlich wirksamen Werten zweifeln.
Man kann festhalten, dass man sich zwar einerseits durch die eigene Lebensführungsart aktiv entscheiden kann, zu welcher Klasse man gehören möchte, dass dieser aktive Teil aber nur einen Aspekt darstellt, denn neben diesen aktiven Entscheidungen spielen die Erziehungsweise (durch die Eltern) und das Abstammungsprestige (über Generationen) weitere entscheidende Rollen. Was dann die Frage aufwirft, wovon bestimmte Lebensentscheidungen eines Menschen (zum Beispiel meine eigenen!) insgesamt geleitet sind und wie frei bestimmte eigene Entscheidungen rückblickend wirklich gewesen sind. Je mehr man die eigene Herkunftsgeschichte studiert, je mehr man über die Atmosphäre und die alltäglichen Gepflogenheiten lernt, die im eigenen Elternhaus herrschten, während man dort (als Kind) gelebt hat, desto genauer muss man den Anteil in den Blick nehmen, den man nicht „aktiv“ gestalten kann. Denn diese drei Aspekte (Lebensführungsart, Erziehungsweise und Abstammungsprestige) hat der Soziologe Max Weber als Grundlage für die soziale Schätzung definiert, die man für jedes Individuum abgeben kann. Wirksamkeit und Zusammenspiel der einzelnen Anteile bleiben dabei allerdings variabel.



BMW 735csi mit Tennisplatz im Spiegel der Seitenfenster