Über Klassen und alle anderen Identitäten

2023:Februar // Chat und Andreas Koch

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02-2023

Chat: Lieber Andreas, einen guten Rutsch gehabt zu haben, wünsch ich dir. Bei mir war es bescheiden, gemessen an dem Potenzial, mit dem die Nacht gestartet war. Gesundheitlich und optisch in Topform, obwohl ich letzten Endes darauf verzichtet hatte, das kostbare Seidentuch in der Kastanienallee zu erwerben, war ich bereit, über die Tanzfläche zu schweben und abzuheben, die ganze Nacht ohne Ende ohne Limit bis es helle würde. Eine Flasche Fritz-Kola hatte dann schon gereicht, dass mir tatsächlich erst um halb fünf die Augen zufielen. Auf dem Sofa in der Küche. Aus waren wir nämlich nicht, und ich frage mich jetzt, ob das unser Klasse-Thema berührt. Und auch, ob das kostbare Seidentuch als Glamour-Gadget etwas an dem Verlauf des Abends geändert hätte. Ich kann mir mich jedenfalls nicht mit diesem Tuch in der Küche vorstellen. Ja, an Silvester habe ich die Klassen gleich in mehrfacher Hinsicht zu spüren gekriegt. Und ihnen gebe ich auch die Schuld, dass es nichts wurde mit dem Feiern. Wir sind geradezu verzweifelt an den scheinbar endlosen Möglichkeiten. Sie hätten uns, eine dreißigjährige Freundschaft, gesplittet und wir wären, hätten wir nicht das heimische Sofa in den Blick genommen, Opfer dieser Möglichkeiten geworden. Das Angebot hätte uns beinahe umgebracht. So aber haben wir weise erkannt: Da ist nichts für uns dabei. Die Erkenntnis war nicht einfach, sie war schmerzvoll. Wer watschelt einparfümiert an Silvester um 22.30 Uhr schon gern nach Hause? Im Böllerhagel!

Andreas Koch: Liebe Chat, ja das mit dem Rutschen ist so eine Sache und die Weihnachts-/Neujahrestage sind nicht gerade meine Lieblingszeit. Es ist eine sehr fragile Zeit, in der einem der eigene prekäre Status bewusst wird. Ich meine das jetzt nicht finanziell, dennoch existenziell. Das liegt wohl an der Dunkelheit und an der Leere, nachdem man in den Tagen zuvor noch viel erledigt und abgeschlossen hat. Statt durchzuatmen und zu entspannen, fängt man an, diffuse Ängste zu entwickeln.
Das hat bestimmt auch mit Familie zu tun und dadurch entfernt auch mit Klasse und Herkunft. Aber man beschäftigt sich auch mit dem Jetzt und der Zukunft und da sieht man dann wieder seine Kinder, mit denen man in diesen Tagen intensiver zusammen ist – sofern sie sich von ihren iPads lösen und mit einem am Tisch sitzen. Dass sie es irgendwann mal besser haben werden als man selbst, diesen Anspruch hatte ich komischerweise nie, denn ich betrachte mich schon als ziemlich privilegiert und dies für meine Kinder zu erhalten, erscheint mir ausreichend. Wird aber wohl so nicht passieren, denn zudem die Weltlage immer unsicherer wird, haben meine Kinder Einschränkungen und Handicaps aller Art und ich wäre schon überhaupt mit einem Schulabschluss glücklich.
Wären wir eine inklusive Gesellschaft, würde ich mir auch weniger Sorgen machen, meine Kinder fänden dann schon einen Platz und sie wären auch nach dem Ableben ihrer Eltern irgendwie geschützt, aber mir kommen Zweifel. Wenn die äußeren Umstände schwieriger werden, werden auch die Kämpfe härter und egoistischer.
Schau, ich will hier keinesfalls jammern, ich gehöre sicherlich zur Mittelklasse und dort eher zur oberen als zur unteren, meine Partnerin ist Professorin für Malerei und Zeichnen, ich Grafiker mit einer guten Auftragslage und Künstler mit ab und an auch Stipendien und Verkäufen. Wir wohnen und arbeiten in Mitte und Prenzlauer Berg, leisten uns Wohnmieten von 1400 Euro und Arbeitsraummieten von 900 Euro. Auch wenn meine Berufe – Künstler, Buchgestalter und mittlerweile sogar Verleger – alles andere als sicher sind und größeren Schwankungen unterworfen, fühle ich mich generell sehr wohl und angstfrei damit. Nur manchmal, eben besonders auch während der dunklen Raunächte, wird mir das Provisorische und Fragile der Konstruktionen bewusst.
Und so ist das wohl mit unserer gesamten Existenz, sie ist nur temporär, immer im Fluss, immer prekär. Aufsteigerklassen, Absteigerklassen … Geld, Bildung, sozialer Status. Vielleicht sollte man etwas mehr Demut und Gelassenheit üben und dieses ganze Konkurrenzding etwas runterfahren?
Aber sag, so richtig habe ich das nicht verstanden, das mit den vielen Möglichkeiten an Sylvester ist ja bekannt, fühltet ihr euch unwohl in Gesellschaft und warum?

Chat: Ich hatte Besuch von auswärts, d.h. der Besuch will was erleben, hat große Erwartungen an die Silvesterfeier in Berlin. Du selbst hast ebenso deine Erwartungen und Hoffnungen. Wie bringt man diese Erwartungen unter einen Hut? Das war die Anforderung, der sich wohl viele stellen mussten an diesem Abend. Und je größer das Angebot ist, desto mehr gerät die Frage, wo man hingeht, zu einer Bestimmung von Identität und, wenn du willst, auch von Klasse. Dussmann wirbt zur Zeit mit dem Spruch „Liebe kennt keine Genres. Für eine vielfältige Kultur“. Das soll sich auf die Genres der Literatur beziehen und ist mit einem Regenbogentupfen dekoriert und pusht gleichzeitig eine Vision von Liebe, in der die vielen LGBTIQ-Kategorien obsolet werden. Das finde ich interessant.
Wie du sagst, haben Ende des Jahres die Statusfragen Hochkonjunktur. Man kann sich das ganze Jahr über durchschummeln, aber an Weihnachten in Deutschland kommt die Wahrheit auf den Tisch. Mit den familiären Beziehungen. Daran lässt sich auch nicht viel rütteln, die sind nur bedingt beeinflussbar. Und man muss schon sein Herz sehr sehr weit aufmachen, damit Weihnachten gelingt, und Demut üben, wie du vorschlägst. An Silvester dreht es sich dann um die freundschaftlichen Beziehungen. Haben Künstler:innen einen Vorteil, indem sie eventuell kreativ mit diesen Herausforderungen umgehen, freier, experimenteller und selbstbestimmt? 1998 hatte ich eine öffentliche Foto-Inszenierung an Heiligabend gemacht. Das war zum Beispiel so ein Experiment, dem gesellschaftlichen Druck zu entgehen bzw. damit zu spielen.

Koch: Also für Silvester habe ich mich schon seit Jahrzehnten von allen Erwartungen befreit. Ich geh auf keine Feier, nicht mal zu der in meinem Haus mit meinen 30 Mitbewohnern. Ich sitze genau wie an Heiligabend mit meiner Kleinstfamilie am Tisch und warte auf Mitternacht.
Überhaupt, Erwartungen von außen an mich oder andersherum, an Aussehen, Habitus, Status oder Leistung, übrigens alles Klassenmerkmale, versuche ich weitestgehend zu ignorieren. Und alles was schillernd und außergewöhnlich klingt an meiner Existenz, von Kommune über Golfspiel, Kunst und Kunstmagazin bis hin zu Buchgestaltungen für manche hippen Künstler, mache ich, weil es sich so ergab, weil es sich für mich als gut herausgestellt hat, nicht um damit nach außen zu glänzen. Ich lebe das alles auch in einer recht schluffigen Haltung, die mir entspricht. Das macht mein Leben für mich, entschuldige die Wortwahl, angenehm unsexy. Deswegen auch meine Silvesterphobie.
Hier dann gleich die daraus folgende Klassentheorie (denn wir sollten beim Thema bleiben), dass Hierarchien, Klassen, Unterschiede auch Begehren erzeugen, dass Macht- und Repräsentionsbedürfnisse einen auch reizvoll machen. Vielleicht wäre eine klassenlose, gleichere Gesellschaft auch wahnsinnig öde.

Chat: Was du sagst, klingt ein bisschen nach FDP. Ich glaube, es gibt eher zu viele Unterschiede als zu wenige. Die Gesellschaft ist total ausdifferenziert und das wird immer mehr. Deswegen sind auch die sozialen Plattformen so erfolgreich, die gleichzeitig die Entwicklung weiter vorantreiben.
Die materiellen Unterschiede sind nach wie vor die entscheidendsten. Da gibt es himmelschreiende Ungerechtigkeiten wie im feudalen Zeitalter. Also ja, Klassen, Einkommensklassen.
Aber werden diese Einkommensklassen heute nicht durch andere Herausbildungen von Gruppen ergänzt, die selbst wie Klassen funktionieren, also exklusiv. Diese zunehmende Unvereinbarkeit scheint mir problematisch zu werden. Es handelt sich da jeweils um geschaffene Identitäten. Und diese Identitäten sind sehr fragil. Das macht unsere ganze Gesellschaft fragil. Sie ist am Wackeln. Das muss nicht schlecht sein. Das bedeutet produktive Fluidität und gefällt der FDP.

Koch: Das stimmt natürlich und ich bin natürlich für mehr Gleichheit, ich frage mich eben nur, warum das nicht klappt und komme dann eben auf Begriffe wie Neid, Gier, Begehren, Macht, die das ganze System am Laufen halten und nicht aus dem Menschen rauszukriegen sind.
Ich komme gerade von einer Podiumsdiskussion in der Berlinischen Galerie, Teil des Programms zu der Ausstellung „Klassenfragen“, und die Diskutantinnen hatten eigentlich alle wichtigen Punkte angesprochen. Herkunft, materielle Ungleichheit, soziale Hierarchien und dies auch anhand ihrer persönlichen Erfahrungen. Deshalb waren auch die Lösungsansätze direkt damit verknüpft und leuchteten sofort ein. Also mehr Transparenz vor allem der ­materiellen Voraussetzungen (Gehalt, Besitz, Erbe), denn um die Unterschiede zu bekämpfen, müssen sie erst mal sichtbar sein. Dann mehr Solidarität (wenn die einen mehr Geld, Zeit, Raum haben, können sie den anderen davon abgeben), mehr Steuergerechtigkeit (höhere Erbschaftssteuern, progressivere Einkommenssteuer usw.). Das steht alles selbstverständlich seit Jahrzehnten auf der Agenda, wird aber nicht umgesetzt, da sich große Teile der Gesellschaft dagegen wehren und nicht mitmachen wollen. Natürlich die, die eh schon privilegiert sind und an den entscheidenden Stellen sitzen.
Ich fand dann tatsächlich einen Beitrag aus dem Publikum noch erfrischend, sie konstatierte, dass wenn wir die ­Hierarchien immer wieder so stark betonen und kritisieren, wir sie auch gleichzeitig anerkennen und zementieren, indem wir teilhaben wollen, aber an was? Was wäre, wenn wir das alles gar nicht wollen, zum Beispiel in Galerien ausstellen, die die Kunst an die reichen Ignoranten verkaufen, in Museen ausstellen, abhängig vom Goodwill der Kuratoren, was wenn wir an der Leiter einfach vorbeilaufen und unser Ding machen? Also nicht, ich will das auch haben, ich will da auch hin, sondern ich finde oder schaffe ein Netzwerk, das mich stützt und zu dem ich was beitrage.

Chat: In der Kunst sind die Hierarchien so offensichtlich wie im Sport, obwohl man die Qualität einer künstlerischen Arbeit nicht mit einer Latte messen kann. Alle wollen in die Bundesliga.
Als Künstler:in nicht gesehen zu werden, ist eine ­Tragödie. Wie jede Tragödie kann man auch diese als Komödie betrachten. Das ist nicht der schlechteste Weg. Eine Zeit lang dachte ich, bei „Misserfolg“ einen anderen Beruf zu ergreifen, sei am sinnvollsten, mittlerweile glaube ich, dass das nur in Ausnahmefällen überhaupt in Frage kommt. Künstler:innen kleben schon sehr an ihrer Identität. Außerdem muss man sich in einem anderen Beruf genauso mit Karriere-Fragen herumschlagen, wenn auch nicht überall die Hierarchie so offensichtlich ist wie in der Kunst und im Sport.
Eine Deutsch-Araberin, Sozialarbeiterin im Wedding und mit der Integration von Langzeitarbeitslosen beschäftigt, berichtete mir, sie habe seit der Einführung des Bürgergeldes quasi keine Argumente mehr, die Leute vom Sofa runterzuholen. In kürzester Zeit hätten sie die negative Wirkung merken können. Ohne Druck kommt niemand mehr zu den Maßnahmen, zur Weiterbildung, zu den Kursen.Ich gebe hier nur wieder, was sie sagte. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ideal für Menschen, die sich selber gut beschäftigen können, die Fantasie haben, kreativ und produktiv sind, für Künstler:innen eben. Für Leute, die keine Zeit haben, Geld zu verdienen. Aus meiner Künstlerin-Perspektive bin ich natürlich eine begeisterte Anhängerin des bedingungslosen Grundeinkommens. Ich weiß gar nicht, Andreas, ob in meinem Fall in der Kunstproduktion Neid und Machtstreben eine Rolle spielen. Das turnt mich eigentlich total ab, vielleicht sogar zu sehr. Da halte ich es eher so wie die, die sich da gemeldet hat.

Koch: Das bedingungslose Grundeinkommen gibt es ja noch gar nicht, wir haben jetzt ein Bürgergeld, das immer noch an Bedingungen geknüpft ist, und die FDP atmete auf, dass die Hartz-iV-Reform in ihren Augen entschärft wurde. Aber du berührst da auch einen wichtigen Punkt, mit der Annahme, dass eine Existenzsicherung zu Faulheit und Antriebsarmut führt. Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich etwas Druck und Zeitverdichtung brauche, um produktiv zu werden. Und der wird meist über die Notwendigkeit erzeugt, auch für Geld arbeiten zu müssen. Da ich kein Atelier­künstler bin, gilt für mich eben nicht, je mehr Zeit ich für meine künstlerische Arbeit habe, desto besser. Im Gegenteil, ich fang an zu hadern, mache gar nichts mehr, werde depressiv. Auch alle anderen Umsonstarbeiten, wie hier zum Beispiel die Arbeit an der von hundert werden verschoben, verzögert, prokrastiniert. Insofern verstehe ich die Sozialarbeiterin. Andererseits kann ich das auch nicht verallgemeinern, da ich mit relativ wenig Zeit meinen Lebensunterhalt verdienen kann und dann ­immer noch genug Zeit übrig habe für alles andere und eben auch viel ohne Bezahlung mache. Um glücklich arbeitslos zu sein, braucht man, wie du schon sagtest, eine sehr stabile Psyche und ein gutes System, um sich zu beschäftigen.
Das hat aber nichts mit der alleinerziehenden Mutter zu tun, die kaum Kinderbetreuung findet, nichts mit prekären Jobbern, die auf Mindestlohnbasis arbeiten, nichts mit Menschen, die einen Großteil ihrer Zeit für die Pflege oder Betreuung anderer aufbringen müssen. Die sind über jede freie, selbstbestimmte Stunde froh. Und deshalb kann man nur für eine gerechtere Umverteilung sein.
Trotzdem plädiere ich schon immer innerhalb des Betriebssystems Kunst dafür, dass „Geld“-Tätigkeiten, abseits der Kunst, die auch notwendig zur Existenzsicherung sind, mehr Anerkennung finden, und sich nicht nachteilig auf die sogenannte Biografie auswirken, auch nicht auf die Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse, auch nicht bei der Vergabe für Stipendien. Jemand, der nicht von seiner Kunst leben kann, ist kein schlechterer Künstler, sondern normal!

Chat: Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, ist so eine beliebte „Geld“-Tätigkeit zur Existenzsicherung. Ein großes Auffangbecken für Menschen aus der Kreativ-Branche, aber auch ein Haifischbecken. Für diejenigen, für die ein Angestelltenverhältnis wie Gefängnis klingt und die deshalb zur Wahrung ihrer Freiheit (man kann quasi wöchentlich festlegen, wie viel man arbeiten möchte) neoliberale Arbeitsbedingungen unter Verzicht der meisten etablierten Arbeitsrechte in Kauf nehmen. So ein Betrieb ist zum Beispiel die Sprachenschule GLS in der Kastanienallee. Ich hatte in den zwei Jahren meiner Tätigkeit immer die romantische Vorstellung, dass wir ganzen Künstler:innen dort doch auch was für uns machen sollten. Projekte mit Theater, Musik, Film, Literatur, das wäre alles theoretisch möglich gewesen. Die Vergeudung von Talent schrie zum Himmel.
Mich beschäftigt mehr diese Ausdifferenzierung in unendlich viele Identitäten als die Klasse. Es reizt mich, homogene Gesellschaften aufzumischen, egal eigentlich, um was für eine Klasse es sich da handelt: als Lesbe unter Heteros, als Hete unter Lesben, als Protestantin in der katholischen Kirche, als Theatermacherin in der bildenden Kunst, als bildende Künstlerin im Theater und in der Literatur, als Mieterin auf der Eigentümerversammlung, als Eigentümerin in der Mietwohnung, als Junge unter Alten, als Alte unter Jungen, als Vegetarierin am Grill-Stand, als Klima-Aktivistin im Flugzeug – wir sind überall Ausländer:innen auf der Welt, außer in … Eine starre eigene Identität ist mir immer suspekt. Generell. Das geht schon los, wenn jemand sagt: „Ich bin ein Mensch, der …“ So eine Sicherheit find ich ziemlich dumm. Das theoretisch Andere mitzudenken ist nicht schlecht. Das schützt vor Ideologie und Wahnsinn.
Aber das Flexible steht auch für das nicht enden wollende Herumstreunen. Als ich mit 38 Jahren Mutter wurde, habe ich das als erleichterndes Faktum wahrgenommen. Und immer wieder bringt mich meine Tochter zurück auf den Boden. Ich bedaure, dass ich ihr keine Familie als Netz zur Verfügung stellen kann.
Als wir an Silvester in die Nähe der Kulturbrauerei kamen, meinte Elke: „Jetzt lass uns mal nicht länger hier als Falschgeld rumlaufen.“ Für sie war die Sache eindeutiger als für mich. Die größte Silvesterparty Berlins war wahrscheinlich Horror, aber ich wollte auch nicht in das kleine Begegnungszentrum für Lesben über 50 in Schöneberg.

Koch: Ja, da vermischt sich viel, Klassenkampf und Identitätspolitik. Man weiß gar nicht mehr, wo die Benachteiligung anfängt und wo sie aufhört. Diskriminierung überall und trotz mehr Aufmerksamkeit und Achtsamkeit nimmt sie nicht ab. Unsere Gesellschaft sitzt auf dem Therapiestuhl und vielleicht gibt es erst mal eine Verschlimmbesserung. Trotzdem – das Reden über Herkunft, Klassenzugehörigkeit und damit verbundene Ängste hilft, sich freier, vor allem angstfreier zu verhalten und sich so vielleicht von seinen Identitäten zu lösen – da bin ich ganz bei dir. Ziel müsste es nicht nur sein, sich besser zu verorten, sondern sich gleichzeitig davon zu lösen, Therapie eben. Das Heft ist ein ganz schönes Sammelsurium von verschiedensten Positionen und Sichtweisen geworden und hilft hoffentlich dabei.
Chat, „Die Klasse“ 1997