Onkomoderne

Das ozeanische Gefühl der Erschöpfung

2023:Februar // Christina Zück

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02-2023

Beim Besuch der documenta fifteen letzten Sommer war ich erstaunt, dass einige Künstler:innen ihre Überforderung mit dem Ausstellen thematisierten. LE18, ein Kollektiv aus Marrakesch, die dort einen Kunstraum betreiben, bedruckten im Wh22 (Werner-Hilpert-Straße 22) eine ganze Wand mit einem langen englischen Text, der von ihrem struggle mit der documenta-Einladung erzählte. Während unzähliger Arbeitstreffen entstanden immer unbrauchbarere und sich weiter dekontextualisierende Ideen, bis sich LE18 von einem djinn besessen fühlten, dem sie den Namen „predisposition to exhibition“ gaben. Ich wollte nicht herumstehen und zwei Seiten Text auf einer Wand lesen, es nervte, aber hier war von den Komplikationen die Rede, die der künstlerische Prozess beinhaltet und die bei einer ausgestellten Arbeit meistens unsichtbar bleiben. Am Ende bewertet ein kritisches Publikum das „Produkt“, während die durchgearbeiteten Nächte, die bürokratischen Schikanen, die Angst, überhaupt ein Visa für die Reise nach Kassel zu bekommen, die beendeten Freundschaften oder der Stundenlohn von 3 € sich als Folgeschäden noch sehr lange auf das Leben auswirken. LE18 entschieden sich, einen Film von 1989 zu zeigen, „A Door to the Sky“ von Farida Benlyazid, den ersten marokkanischen Spielfilm, bei dem eine Frau Regie führte. Sie entwickelten ein formelhaftes Ausstellungskonzept mit typischem Theoriejargon, collective, vernacular, decolonisation, und planten ein multidisziplinäres Event zwischen Marrakesch und Kassel. Unterdessen war die Hitzewelle in Marokko unerträglich geworden, seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet. Konzepte, Visaanträge und Aktenordner mit unrealisierbaren Budgetplänen stapelten sich in ihren Räumen. LE18 fuhren schließlich zum Wandern ins Atlas-Gebirge. Während eines Streits im Team erschien der djinn wieder und machte sich laut und turbulent bemerkbar. Als sie vor einer zaouira, der Grabstätte eines Heiligen, stehen blieben, verschwand das documenta-Gespenst darin, als hätten sie in diesem Moment eine exorzistische Reinigung erlebt. „These djinns thrive on institutions like documenta.“ Nachdem sie die Einladung fast abgesagt hatten, einigten sie sich darauf, dass die documenta ein Ort für alle werden sollte, die sich wie sie verloren und verrannt hatten, ein Ort, um die Verdurstenden zu tränken und vor der Hitze zu schützen, wie eine Tür zum Himmel, die sich öffnet, um ihre Erschöpfung und ihr Scheitern willkommen zu heißen. Soweit ich mich erinnere, standen in dem Raum ein paar Stühle und Sofas mit Tischchen herum, Publikationen lagen aus, in einem Nebenraum lief der 100-minütige Spielfilm. Ich hatte keine Zeit, mir den anzusehen. Ich musste noch durch all die anderen heilenden und sich der kolonialen neoliberalen Institution verweigernden Räume durchlaufen, auf deren Sitzsäcken niemand saß und miteinander sprach, die ich aber gut nutzen konnte, um mal in Ruhe meine Nachrichten auf dem Handy zu checken, bevor es weiterging, Mindmaps und Poster aus dem Formenkreis der pastellfarbenen Moderationskarten von Organisationsentwicklungsseminaren anzuschauen. In meiner Erinnerung tauchten die beeindruckenden Malereien von Miriam Cahn und Vivian Suter der letzten documenta auf, so etwas Schönes würde mir jetzt gut tun und mit meiner Seele in Resonanz treten. Einen halben Tag hatte ich bereits verloren, um in den Stadtteil Bettenhausen zu fahren, wo ich so schnell und effizient wie möglich durch die Etagen der großen Fabrikhalle gehinkt war, um wenigstens einen Überblick zu bekommen. Durch Inflation waren die Preise für Übernachtungsmöglichkeiten und Transport gestiegen, der billigste Snack in den documenta-Imbissbuden kostete 5 €, der Eintritt 27 € pro Tag, ein günstigeres 2-Tagesticket von 45 € konnte man nur an zwei aufeinanderfolgenden Tagen buchen – es wirkte wie die bösartige Rache der Verwaltungsbürokratie an den sich von den kunstinstitutionellen Erwartungen befreienden Kollektiven. Mehr als zwei Tage konnte ich mir nicht leisten, also musste ich so gut es ging durch. Ich schleppte mich durch Entspannungsräume, Überreste von Protesten, Kinderbetreuungslounges, Töpfer- und Handwerkstätten, eine Druckerei, eine leere, überteuerte asiatische Kantine – Orte, an denen Leute gearbeitet oder pädagogische Workshops veranstaltet hatten. In den Räumen waren die Erinnerungen an oder die Hoffnungen auf gemeinschaftliche Erlebnisse gespeichert, die den zur falschen Zeit vorbeikommenden Besucher:innen vorenthalten blieben.
Ganz dringend muss sich etwas ändern. Die Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung, auf der unsere Gesellschaftsordnung basiert, lässt sich nicht länger weiter verleugnen. Das ausgeschlossene Wissen muss sichtbar gemacht werden, es muss zirkulieren und die patriarchale, hierarchische, koloniale, kapitalistische Struktur des Globalen Nordens ins Wanken bringen. Die epistemologischen Grenzen müssen sich öffnen. Alles Lebendige kann in der Zukunft friedlich koexistieren. Da die ganze Misere aktuell immer deutlicher in den Vordergrund tritt, und auch journalistische und wissenschaftliche Medien über nichts anderes berichten, und das Verdrängte sich inzwischen auch mehr oder weniger in mein individuelles psychophysisches Wesen integriert hat … jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich diesen Satz zu Ende führen soll. Die Künstler:innen der documenta fifteen waren zwar sehr erfolgreich darin, alle Erwartungen der Institution und des Publikums zu sabotieren – standard operating procedure in der bildenden Kunst – aber es machte keinen Spaß mehr und generierte nur noch trostlose Erkenntnisse. Die Ideen, Bilder, Narrative, Formen waren durch eine bereits stabile Kultur ausformuliert und konnten in das Gerüst des Kunst-Großevents eingebaut werden, ohne es tatsächlich neu zu koppeln. Das Gefühl, das zurückblieb, war eine umfassende Erschöpfung. Auch das Ausruhen in den Quiet-Spaces mit lärm- und lichtreduzierter Umgebung brachte keine Linderung.
War es die Blockadehaltung, die ein Großteil der Bevölkerung und der Politik einnimmt, und deren Weigerung, sich den sich rapide verändernden gesellschaftlichen und ökologischen Gegebenheiten anzupassen, die die Erschöpfung zum vorherrschenden psychophysischen Zustand unserer Zeit haben werden lassen? Die äußeren Bedingungen verschärfen sich; in Europa nähern wir uns den Gegebenheiten an, über die die documenta-Künstler:innen in ihren Arbeiten erzählen, mit denen sie leben und arbeiten. Hier schreitet eine zusammenbrechende Verkehrs- und Bildungsinfrastruktur fort, hohe Inflation ganz besonders der Energie- und Wohnkosten, Ökosysteme kippen und Tiere sterben aus, Teile der Bevölkerung leben in Armut, gesetzlich garantierte Gesundheits- oder Dienstleistungen des Staates sind oft nur noch über Beratungsstellen oder Justizverfahren zu erkämpfen – die Arbeit und die Anstrengung wächst. Wären wir weniger erschöpft, wenn unsere zusammengetragene Veränderungsenergie in Bewegung geriete?
Oder tritt die Erschöpfung aus dem Inneren hervor, aus dem sogenannten Ich, ein Konstrukt, das sich anpasst und auflöst und aus verschiedenen Theoriebildungen hervorgegangen ist? Alte weiße psychoanalytische Theoretiker:innen haben sich die Frage gestellt, warum Menschen nicht gegen die gegebenen Lebensbedingungen aufbegehren und sich scheinbar freiwillig unterwerfen. Mit den seit über einem Jahrhundert laufenden Umwälzungen durch den Kapitalismus hat sich auch die psychische Struktur der Individuen verändert. Gilles Deleuze beschrieb es als die Transformation von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, in der die Machtinstanzen ins Innere des Subjekts wanderten und es zu einer permanenten Arbeit an der Selbstkontrolle und der Selbstregulation nötigten. Die Autorität, die Freud als Über-Ich bezeichnet hatte und die die Psyche der vorausgegangenen Generationen durch Befehle und Verbote gesteuert hatte, war in einen Desintegrationsprozess geraten. Um Stabilität zu generieren, richteten die Subjekte sich an einem Ich-Ideal aus, am kontinuierlichen Streben nach Erweiterung und Verbesserung des Ichs in Konkurrenz zu den vielen anderen sich abmühenden Ichs, ist die These der Philosophin Isolde Charim, die sie in „Die Qualen des Narzissmus“ entwickelt. Der einst als pathologisch geltende Narzissmus hat sich als gesellschaftlicher Normalzustand eingenistet. Wo früher Moral und strenge Normen versuchten, übermäßigen Narzissmus einzudämmen, entwickelte sich im Kapitalismus das Ich-Ideal zum gesellschaftlichen Antriebsmodus. Wie auch von Andreas Reckwitz beschrieben, wendet sich die Moral des Einzigartigen und Singulären gegen Allgemeinkategorien und verbindliche Maßstäbe und untergräbt nach und nach die Stabilität gesellschaftlicher Beziehungen. Der Wettbewerb ist zum zentralen Drive geworden. Wir sitzen im Hamsterrad, aus dem uns nur ein Sieg oder ein Erfolg einen kurzfristigen Ausstieg verschaffen kann. Alain Ehrenberg beschrieb bereits in La Fatigue d’être soi (Das erschöpfte Selbst) die Depression als Nebenfolge der Befreiung des Subjekts aus den repressiven autoritären Verhältnissen und als die Kehrseite des Kapitalismus, der das Ich als Produktivkraft ausbeutet. Während dieser Entwicklung erweiterte sich das Vokabular für das innere Erleben, Subjekte lernten über ihre Empfindungen zu sprechen und ihre psychischen Zustände detailliert auszuloten. Auch für den Historiker Georges Vigarello (Histoire de la fatigue – Du Moyen Âge à nos jours) ist die Ausweitung der Sensibilität für das eigene Ich und die sich verfeinernde Wahrnehmung von Unwohlseinszuständen eine Ursache für das allgegenwärtige Symptom der Müdigkeit.
Mir erschien im Sommer ziemlich unklar, vielleicht möchten sich die unterschiedlichen Künstler:innen-Kollektive der documenta fifteen vom autonomen Ich, von der Unterdrückung und vom Drive des Kapitalismus befreien und in einer hierarchie- und repressionsfreien Gemeinschaft im Austausch mit allen Spezies leben, jenseits stabiler Grenzen und Identitäten? Während alte weiße Männer wie ­Slavoj Žižek schon wieder warnen, dass sich im Spätkapitalismus bereits ein anarchististisches Moment eingenistet hat, das die Elemente des Sozialstaats zerstört, Institutionen, Schienenverkehr, Krankenhäuser, Altenpflege, die Regeln des sozialen Umgangs, die Höflichkeit, und dass es ganz präzise die modischen Manifestationen des Neo-Anarchismus wiederspiegele, wo auf der Ebene von kleinen Kollektiven jede Form von Herrschaft abgeschafft werden soll.
Die Künstler:in Johanna Hedva schreibt in ihrem von fast allen Care-Ausstellungen der letzten Jahren zitierten Essay „Get well soon“ (2020): „Jetzt könnte ein guter Zeitpunkt sein, unsere Vorstellung davon, wie eine Revolution aussehen könnte, zu überdenken. Vielleicht sind es keine wütenden, leistungsfähigen Körper, die als Demonstrationszug durch die Straßen ziehen. Vielleicht sieht es eher wie ein Stillstehen der Welt aus, weil alle Körper erschöpft sind – Care muss Priorität bekommen, bevor es zu spät ist.“ Erschöpfung ist ein Zustand, der sich nicht verwerten lässt, der sich nicht mehr in irgendein Programm integrieren oder ausbeuten lässt. Ich verbinde mich mit der kosmischen Müdigkeit, in der mein Ich verschwimmt und verschlammt. Es ist der paradigmatische nutzlose Überschuss des sich desintegrierenden Spätkapitalismus, wie es jene weißen alten Psychoanlytiker:innen ausdrücken würden. Als Nebenfolge des SARS-CoV-2 Virus, oder auch des mRNA-Impstoffes, der die Ausbreitung des Virus hemmen sollte, als neue Krankheiten mit den Namen Long Covid und Post-Vac-Syndrom, und schon etwas länger als ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) ist die Erschöpfung in die Zellebene der Körper gewandert. Die biochemischen Teilchen, die in der Zelle irgendeine spezielle Kraft-Antriebs-Arbeit verrichten, die Mitochondrien, schaffen es nicht mehr, sich zu regenerieren und die Körperzellen mit Energie zu versorgen.
Im Januar hat die Initiative „Nicht Genesen“ 400 Feldbetten auf der Wiese vor dem Berliner Reichstag aufgestellt, um auf die Situation der an chronischer Erschöpfung Erkrankten aufmerksam zu machen. Am Kopfende jeder Liege war das Schwarzweißporträt eines/r Erkrankten mit Kabelbinder befestigt. Auf dem Foto standen Informationen wie Vorname, Alter, Bundesland, Beruf, Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit. Die Bedeutung der Arbeit und der Arbeitsunfähigkeit wurden stark in den Fokus gerückt. Die ausgedehnte Fläche voller Liegen war ein beeindruckendes Bild, das an künstlerische Praktiken angelehnt war – mich erinnerte es eher an Katastrophen, Verletzte oder Geflüchtete. Die an Long Covid, PostVac oder CFS Erkrankten liegen im schlimmsten Fall dauerhaft im Bett, vereinzelt, in abgedunkelten Zimmern. Ihre Kraft reicht oft nicht aus, um auf den Beinen zu stehen. Die Initiative forderte mehr Geld für biomedizinische Forschung, die staatliche Erfassung von Fallzahlen, Zulassungsstudien für das von einer Berliner Firma entwickelte Medikament BC 007, interdisziplinäre Behandlungszentren, die Aufklärung von Ärzten und die Vereinfachung bürokratischer Prozesse für Schwerstbetroffene. Wenige Meter neben dem Open Air Lazarett war ein Halbkreis mit farbigen Porträtfotos von iranischen Teenagern aufgebaut, die von der Revolutionsgarde gefoltert und ermordet wurden. Die Demonstration von Iraner:innen gegen die Diktatur und die Initiative „Nicht Genesen“ mussten um Aufmerksamkeit konkurrieren. Etwa 20 Demonstrierende standen vor dem Paul-Löbe-Haus, hielten iranische Fahnen hoch und skandierten: „Die Mullahs müssen weg“, ihre Freunde kamen vorbei und lösten sich ab, so dass dauerhaft gesungen und gerufen wurde.


Alle Bilder: Christina Zück