Misk Art Institute

Neue Schule für Fotografie

2023:Februar // Andreas Schlaegel

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02-2023

Die ganz große Welle aus der Wüste?

Einen Monat lang, von Mitte September bis Mitte Oktober, versammelte die Ausstellung Arbeiten von neun Künstler*innen aus Saudi-Arabien, die in den letzten zwei Jahren an Programmen des Misk Art Institute teilgenommen hatten, koordiniert mit dem Berlin Art Institut in der Neuen Schule für Fotografie. Nicht weniger als drei Institutionen arbeiteten hier zusammen, um diese Präsentation auf die Beine zu stellen. Trotz des betriebenen Aufwands blieb die große Welle aus. Und gerade deshalb war es interessant, die Ausstellung anzusehen, nicht nur – aber auch wegen der gezeigten Werke.
Zum Hintergrund – auf der Website der Misk Foundation findet sich folgende Information: „Die Misk Foundation, die 2011 von Prinz Mohammed bin Salman bin ­Abdulaziz gegründet wurde, ist eine gemeinnützige Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Lernen und die Führungsqualitäten junger Menschen für eine bessere Zukunft in Saudi-Arabien zu kultivieren und zu fördern.“
Förderung von jungen Menschen klingt erstmal prima, aber man bleibt unwillkürlich beim Namen des Gründers hängen – ist das nicht der starke Mann in Saudi-Arabien, der unter dem Kürzel MbS bekannt und gefürchtet ist? Der vom amerikanischen Geheimdienst für das Verschwinden des Washington-Post-Journalisten Jamal Kashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul im Jahr 2018 verantwortlich gemacht wurde? In den Mediatheken von 3sat und der ARD war bis vor Kurzem noch die verstörende Dokumentation Der Dissident (2020) von Bryan Fogel zu sehen. Dem dennoch im November letzten Jahres vom US-Außenministerium aufgrund seines Amtes als saudischer Premierminister Immunität zugesichert wurde, nicht zuletzt weil die USA sich um bessere Beziehungen mit Saudi-Arabien bemühen wollten (gerade vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine und dessen Auswirkungen auf die Ölpreise).
Wenn die Künstler*innen in dieser Ausstellungen nun hier das freundliche, das intellektuelle, künstlerische Gesicht Saudi-Arabiens präsentieren – ist diese Ausstellung dann nicht schlicht Teil einer billigen Propaganda-Aktion, die in der deutschen Hauptstadt die fortschrittliche Seite Saudi-Arabiens vorstellen soll, in der Absicht das Image des Prinzen zurechtzurücken und ihn als Förderer von Kultur und Bildung darzustellen? Kann eine derartige Ausstellung überhaupt guten Gewissens besucht werden oder müsste sie nicht boykottiert werden? Oder wäre das nicht wiederum bigott angesichts der Tatsache, dass Saudi-Arabien einer unserer wichtigsten Handelspartner in der Region ist?
Beim Gang durch die Ausstellung wird schnell klar: Wer eine plakative Stellungnahme der Künstler*innen erwartet, wird enttäuscht. Ihre Qualitäten liegen woanders.
Beispielsweise zeigt Abeer Sultan eine Raum­installation mit dem projizierten Video AlBidaya (2021), das nur scheinbar alltägliche Beobachtungen zeigt: Straßenaufnahmen von Passanten, Tieren und Fliegen auf rohem Fleisch, die in einem lyrischen Text zusammengeführt werden. Beim genaueren Zuhören und Hinsehen lässt das Videoessay eine künstlerische Reflexion um Vergänglichkeit, Tod und Trauer erkennen, die sich auf arabische, ägyptische und mediterrane Rituale und Mythen beziehen und darüberhinaus den digitalen Alltag einbeziehen.
In der Auseinandersetzung mit einem derart existenziellen und universellen Thema wird die Schwierigkeit deutlich, die künstlerische Leistung in einen anderen Kulturkreis, also von Riad nach Berlin zu vermitteln, aber auch das künstlerische Ringen um mögliche gemeinsame Narrative. „Wenn wir uns zu fragen beginnen, warum wir eher Zugang zu bestimmten Narrativen haben als zu anderen, schließen wir die Lücke zwischen unseren Kulturen und erlauben, dass die Wahrheit der Modernität bestimmt, wie wir mit der Welt um uns herum interagieren.“ 1
Ich bin mir nicht sicher, was genau mit „Wahrheit der Modernität“ gemeint ist, aber ich glaube zu ahnen, worum es der Autorin geht. Einerseits erleben wir eine Globalisierung, die sich auch und gerade im Kosmos kultureller Narrative niederschlägt, in den Kulturen, die wir teilen, aber auch eine Nischenbildung, wo sich lokale Kulturen erhalten und lebendig bleiben. Und die Brücke zwischen kulturellen Nischen zu bauen ist nicht einfach und muss zahlreiche Barrieren überwinden, nicht zuletzt sprachliche und literarische. Vielleicht ist die „Wahrheit der Modernität“ als Vermittlung einer Akkumulation verschiedener ­aktuell kursierender Wahrheiten zu beschreiben?
Auch Hana Almilli, die zuerst in Kalifornien, dann in Rom studierte, wählt als Ausgangspunkt für ihre ausgestellte Installation eine universelle Erfahrung. In Weaving Ancestry (2021) (in etwa: Abstammung (ver)weben) zeigt sie einen Webstuhl, aus dem sich eine lange Bahn heterogener Materialien, teilweise durch Erden verschiedener Orte unterschiedlich stark gefärbt, durch den Raum schlängelt. Die Darstellung der eigenen Geschichte als bewusste Konstruktion anhand der Geschichte(n) der eigenen Vorfahren wird besonders eingängig, wenn man weiß, dass die Künstlerin die eigenen Erfahrungen als Ausländerin vor dem Hintergrund einer multi-ethnischen Abstammung wahrnahm, mit saudischen Wurzeln, aber auch syrischen, türkischen und kurdischen.
Der Maler Ziad Kaki wurde in der Schweiz geboren und studiert in London am Central Saint Martins College. Das sieht man seinen selbstbewussten Figurationen auch an, die sich offenbar an bekannten Malern wie John Koerner, Tal R, Tim Stoner und vergleichbaren Positionen orientieren. Locker hingeworfen auf großen Formaten bleiben die dargestellten Figuren im Ungefähren, beziehen selbst keine Stellung, stehen ein wenig da, wie bestellt und nicht abgeholt. Aber vielleicht ist genau das die Qualität, die hier Sinn macht – man könnte auch anführen, viele der Künstler*innen sind hierher bestellt worden, aber wozu? Ist die Arbeit das Dilemma oder stellt sie ein Dilemma dar?
Die herausragende Entdeckung der Ausstellung findet sich in den auf den ersten Blick spröden Grafiken von Sara Khalid, in denen sich Texte in arabischer und lateinischer Schrift, sachlich in Schwarz auf weißem Papier ausgedruckt, ineinander verschränken. So entstehen klare, aber hochkomplexe Gebilde, die wirken wie Text-Diagramme, konkrete Poesie, oder als würden sie mechanische Konstrukte darstellen, die sich in Abhängigkeit zueinander ­bewegen könnten. Imagine Arabic Technology (2021, in etwa: „Stelle Dir Arabische Technologie vor“) ist der übergreifende Titel dieser Arbeiten, bei denen über Schriften auch auf Sprachen und Sprach- und kulturelle Räume hingewiesen wird, inklusive Computersprachen. Dabei erforscht sie in der digitalen Rhetorik von Computersprachen und der Sprache des Korans überraschende Analogien, was insbesondere Erzählstrukturen und ihre Ausrichtung auf bestimmte Erzähler angeht.
„Die koranische Erzählung weist besondere Merkmale auf, von denen eines der Erzähler ist. Der Erzähler ist ein aktiver Empfänger des Korantextes; da er in die Lektüre so viel einbringt, wie der Text bietet, macht dies seine Erfahrung auf allen Ebenen personalisiert und individuell“, schreibt sie auf ihrer Website über ihre webbasierte Arbeit Hyperlink v1.0, The Opening und an anderer Stelle: „Heute werden unsere Stimmen von der Informationsinflation und dem passiven Bedürfnis nach Austausch überdeckt; auch die kulturübergreifende Kommunikation ist ‚lost in translation‘. Wie können wir also digitale Plattformen so umgestalten, dass sie die Mittel und Techniken zur Schaffung von kontextbezogenem Wissen bereitstellen?“
In dieser Frage steckt bereits ein Stück Kritik an bestehenden Ordnungen. Aber die geht über die Welt des Digitalen hinaus und ist mehr als ein Postinternet-Kunst-Aufguss mit arabischen Vorzeichen, denn mit analytischer Schärfe reflektiert die Künstlerin ihr eigenes „kontextbezogenes Wissen“ auf eine Weise, die es Betrachtenden ermöglicht, ihr (zumindest im Ansatz) zu folgen, ohne dabei genau zu wissen, wohin die Reise geht. Die Künstlerin geht in den weiteren Folgen ihrer Hyperlink-Trilogie darüber hinaus und kommt dabei weniger auf konkrete Antworten, aber auf weitere spannende Fragestellungen. Ich möchte anfügen: Wie können wir entsprechende reale Plattformen schaffen?
Vielleicht in Ausstellungen wie diesen, die aufzeigen, dass Kunst mehr kann, als sich aus westlicher Perspektive ausdenken lässt, und dass selbstständiges Denken eine globale Ressource ist, die auch in autokratischen Staaten und unter restriktiven Verhältnissen vorkommt. Und dass es eine gute Idee ist, diese Künstler*innen zu fördern.

Next Wave, Neue Schule für Fotografie mit
Abdulmohsen Albinali, Abeer Sultan, Bashaer Hawsawi, Fatma Abdulhadi, Hana Almilli, Sara Khalid, Yousef Almana, Nada Alturki, Ziad Kaki, 14.9.2022–14.10.2022


1
Nada Alturki, aus: „Ein Brief der Residence-Autorin“, Ausstellungskatalog Next Wave, 2022.
Abeer Sultan, Stills aus dem Film AlBidaya, 2021
Ziad Kaki, Study of Sound 2, Öl auf Leinwand, 2021