Klassenfragen im Kulturkontext

2023:Februar // Andreas Koch

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02-2023

Wahrscheinlich ist die bildende Kunst gar nicht der beste Ort, um das Themenfeld Klasse, Klassismus und damit zusammenhängende ungerechte gesellschaftliche Bedingungen zu behandeln, also Fragen nach Herkunft, Produktionsbedingungen, Bildungs- und Marktzugang, kurz Gerechtigkeit, zu stellen, auch wenn eine Ausstellung der nGbK in der Berlinischen Galerie dies gerade versucht hat (siehe Seiten 24–26). Das es in unserem Zweig der Kulturproduktion schwieriger sein kann, liegt wohl genau an der Verstricktheit der bildenden Kunst mit der Klasse der reichen wenigen Prozenten der Gesellschaft, schließlich ist fast ausschließlich sie es, die Kunst kaufen kann. Und Kritik am System kommt dann meist auch von den 99 Prozent der Kunstschaffenden, die nicht vom Kunstmarkt leben (oder von ihm abhängig sind), sondern sich über institutionelle Förderungen oder andere Tätigkeiten außerhalb ihrer eigenen Kunstproduktion über Wasser halten.
Deshalb ein kleiner Blick über den Tellerrand der bildenden Kunst hinaus zu den anderen Künsten. Wo findet dort Kritik statt?


Film
Ruben Östlund –Triangle of Sadness
Blöderweise habe ich The Square desselben Regisseurs, der direkt im Kunstbetrieb angesiedelt ist, nicht gesehen. Aber zumindest jetzt diesen, seinen neuesten. Und ja, er ist lustig, wenn auch an Stellen recht langatmig. Aber darum soll es nicht gehen. Meine Kritik an seiner Kritik am kapitalistischen Klassensystem wäre das allzu holzschnittartige Herausarbeiten einer Karikatur unserer Gesellschaft. Gerade im zweiten Teil steht die Yacht mit ihren verschiedenen Decks für eine vereinfachte Klasseneinteilung. Unten die südostasiatischen Reinigungs-, Toilettenputz- und Küchenkräfte, dazwischen die Serviceklasse (das mit den Decks kommt nur bei der Schulung der Servicekräfte vor, die sich ja ansonsten auf den gleichen Ebenen wie die zu Bedienenden bewegen), durchweg weiß und strahlend, die am Ende ihrer Schulung über den Köpfen der Putzklasse in Erwartung zukünftiger fürstlicher Trinkgelder einen Geldtanz trampelt. Und dann die Milliardärsklasse, degeneriert und hochneurotisch, die ihr Geld mit „Scheiße“ (so immer wieder der ost­europäische Oligarch, der sein Geld mit einem Düngerimperium verdient) oder mit Waffen (ein altes englisches Upperclasspärchen, das während des Film an einer Handgranate aus eigener Produktion verendet) oder schlicht mit irgendwelchen Algorithmen verdient.
Das lässt sich gut erzählen und der Film baut das genüsslich aus, noch absurdere Wünsche der Reichen, noch strahlendere Mienen der oberen Dienstleister, selbst bei größtem Sturm und allgemeinen Kotzorgien ein noch beflissentlicheres Wegputzen der Exkremente von Seiten der Putzkolonne. Im dritten Kapitel wird dann der Spieß umgedreht und nach dem Stranden der Überlebenden der Schiffskatastrophe (dem Untergang des Systems) ergreift die vormalige Toilettenmanagerin das Kommando und erschafft ein Matriarchat, das dann auch nicht so viel besser aussieht (inklusive sexueller Ausbeutung und harter Strafen wie Essensentzug).
Das ist alles sehr amüsant, auch durch die groteske Überzeichnung, es bleibt aber auch wenig hängen. Das liegt an dem sehr groben Bild, das wir eh schon unser Leben lang haben und das natürlich alle feineren und subtileren Abhängigkeiten außen vor lässt. Die sind im ersten Kapitel (in dem es um ein Influencerpärchen und seinen Umgang mit Geld und seine Abhängigkeiten geht) präziser gezeichnet und das Klassenmodell wird modernisiert und erweitert um die sozial-kapitalistischen Medien. Die Influencer, so erfährt man von dem weiblichen Model, hätten nur kurz Zeit, um ihren Beruf in voller Schönheit auszuüben und müssten sich dann eine/n reiche/n Mann/Frau angeln, für Liebe sei da kein Platz. Wie gesellschaftlich relevant diese Erkenntnis allerdings ist, wage ich nicht zu beurteilen. Ich kenne zwar viele Menschen, aber keine/n Influencer/in.

Kapitalismuskritik **** Komplexität *
Wirksamkeit * Humor *****



Buch
Anke Stelling
Viel näher an der Lebenswirklichkeit, zumindest der der Berliner 30-bis-60-Jährigen, bewegt sich Anke Stelling in ihren beiden Büchern Bodentiefe Fenster (2015) und Schäfchen im Trockenen (2018). Beide Bücher kreisen um die sogenannten Baugruppen und Baugemeinschaften, die erst ein Phänomen des neuen Jahrtausends sind. Stelling seziert sehr genau und auch böse die sozialen Gemengelagen sowie die psychologischen und ökonomischen Befindlichkeiten, die hier eng miteinander verwoben sind.
Der Clou des zweiten Romans ist, dass er aus der Perspektive einer prekären Schriftstellerin geschrieben ist, die sich mit ihrem Bekannten und Vermieter überworfen hatte. Diesem war es im Gegensatz zu ihr finanziell möglich, in eine Baugruppe zu ziehen und ihr dann seine Eigentumswohnung zur Miete zu überlassen. Zu ihrem Pech schrieb sie jedoch ähnlich der Autorin einen bissigen Roman über die Baugruppe, worauf sie ihr Bekannter aus der Wohnung werfen wird. Anke Stelling, die selbst in einer Baugruppe wohnt, erging es ähnlich ihrer Romanautorin und sie verdarb es sich, so hört man, mit einigen ihrer Mitbewohner.
Was ihre Kritik an den von ihr konstatierten Klassenunterteilungen in zum Beispiel Erben und Nichterben auszeichnet, ist auch ihr Mut als Nestbeschmutzerin. Tatsächlich kann man die Verhältnisse am besten aus der Innenperspektive beschreiben und ihre, vielleicht auch nicht neue, aber hier mit Wucht vorgetragene Erkenntnis der Ungleichheit in einer scheinbaren Egalität, die gerade einer bundesdeutschen Jugend der 70er und 80er, aber noch mehr natürlich den im Sozialimus Aufgewachsenen, selbstverständlich war, jedenfalls den meisten. Aber jetzt im mittleren Alter, wenn das Erben oder Schenken losgeht, und die einen sich mit Immobilien eindecken und die anderen eher im Dispo feststecken, trennt sich das scheinbar Gleiche wieder. Dies ist die Leistung der Romane von Stelling, kein/e andere/r benennt das so deutlich und lesenswert und zeigt gleichzeitlich, wie fragil unser konsumistisches Elfenbeinturmdasein hinter den bodentiefen Fenstern eigentlich ist und auf welchen Abhängigkeiten es eigentlich beruht. Und das beschrieb sie schon vor den Krisen, die uns seit 2020 zusätzlich beuteln.

Kapitalismuskritik ***** Komplexität ***
Wirksamkeit *** Humor *****




Fotobuch
Anne Schönharting – Habitat Charlottenburg
Hier wäre eine eventuelle Kapitalismuskritik deutlich subtiler als in den vorangegangen Beispielen, denn die Fotografin besucht die Upper-Class Charlottenburgs und porträtiert sie. Wie sie das tut, ist jedenfalls bemerkenswert. Habitat, ein vornehmlich für die Pflanz- und Tierwelt verwendeter Begriff als Titel, zeigt schon die ironische Brechung ihrer Besuche. Wie eine Ethnologin besucht sie die bürgerliche Klasse in ihren groß- und vielräumigen Wohnungen in Charlottenburg. Gleichzeitig inszeniert sie diese Spezies mit deren Mithilfe in oft surrealer Weise, was genau diesen zoologischen Charakter verstärkt. Da sitzen sie in ihren sorgsam gestalteten Käfigen und man blättert durch die Seiten, als ginge man über einen Jahrmarkt mit prachtvollen Dioramen und ausgestellten Ethnien während der Kolonialzeit. Gleichzeitig zitiert die Fotografin all die gemalten Porträts der Reichen und Herrschenden der vergangenen Jahrhunderte, all die Alten Meister vom niederländischen Barock bis zum deutschen Biedermeier. Dieses Bild einer oberen Klasse, des Geld- und/oder Kulturadels, ist trotz oder vielmehr dank der Ironie liebevoll. Der kritische Blick entsteht vielmehr beim antibürgerlichen Betrachter, der sich in seinen Vorurteilen bestätigt sieht und lieber nicht eingeladen werden würde in das Show-Off einer in sich zurückgezogenen Klasse, in der Geschmack den eigentlichen Wert darstellt. Diese Oberfläche aus Form und Haltung wirkt unproduktiv, verstaubt und in sich gekehrt. Die zeitgenösische Kunst an den Wänden bestätigt hier nur die beschriebene Abhängigkeit und Unwirksamkeit von bildender Kunst, die in den Räumen eben nur auf Geld und Geschmack hinweisen kann.

Kapitalismuskritik * Komplexität **
Wirksamkeit * Humor **




Laden
Rafael Horzon
Aus dem Inneren der bürgerlichen Klasse agiert Rafael ­Horzon schon seit Jahrzehnten. Er bewegt sich auf deren Parkett als eleganter Unternehmer und karikiert ­nonchalant sämtliche Kultur-, Bildungs- und Verkaufstechniken. Ob als Romanautor, als Bildungsinstitution, als bildender Künstler, Innenausstatter oder Popsänger, er imitiert das jeweilige Feld, stellt Produkte her und in seinen Läden auf der Torstraße aus, ohne sich jemals als Künstler oder die Dinge als Kunst zu bezeichnen. Es sind „Dekorationsobjekte“, die er herstellt oder Unternehmen, die er gründet, und selbst diese Bezeichnungen treffen Horzons Erzeugnisse und Gründungen nicht. Denn selbst als Dekoration ist es Fake und fällt, wie das aktuelle Raumdekorationsobjekt, durch alle Raster. Angefangen von Duchamps Ready-made bis zu Schaufenstergestaltungen eines Kamin- oder Dachdeckerbedarfs, nichts trifft es wirklich. Am Ende sind es hier tatsächlich formschöne Edelstahlkaminaufsätze auf Marmorplatten und Sockel, für die eventuelle Käufer ein Vielfaches des Kaminaufsatzpreises zahlen, wenn auch weniger als für eine, sagen wir mal, Eliasson-Skulptur. Genau wie seine Streifenbilder, seine „Wanddekorationsobjekte“ aus farbigem Plexiglas, günstiger als Anselm-Reyle- oder Michael-Laube-Bilder sind.
Dieses Zwischen-allen-Stühlen-Sitzen agiert komplett in der Logik des Kapitalismus, der aus Nichts Gold machen kann. Horzon ist der Kaiser in seinen neuen Kleidern und wir jubeln ihm gerne zu. Nur seine Bücher, die natürlich auch nur Fake-Literatur sind, lesen wir nicht, denn postmoderne Ironiehohlheit kombiniert mit dem Faktor Zeit ist dann doch nur Langeweile. Aber vielleicht stellen wir sie uns ins Regal (ein Eigennachbau eines Horzon-Regals, dem unironischsten Produkt Horzons).

Kapitalismuskritik * Komplexität *
Wirksamkeit * Humor ****




Buch
Daniela Dröscher
In Daniela Dröschers Büchern fehlt die Ironie im Gegensatz zu Rafael Horzon ganz. Auch würde sie wahrscheinlich niemals so selbstverständlich durch die Öffentlichkeit surfen, wie es ein Horzon tut und warum dies so ist, ist genau das Sujet ihrer Untersuchungen. Sie bezeichnet ihre Herkunft als aus einer Aufsteigerklasse kommend. Typischerweise wäre dies in unserer Generation der um die Fünfzigjährigen, die Elterngeneration, die es in der Wirtschaftswunderzeit der 50er und 60er Jahre zu mehr Wohlstand brachte und deren Kinder dann studieren konnten, um den Wohlstand mit Bildung anzureichern und einen Aufstieg in die bürgerliche Klasse zu schaffen. Dröscher seziert sehr genau, zuletzt in ihrem Buch Lügen über meine Mutter (2022) die Ängste, die Scham, das Bedürfnis nach außen etwas zu repräsentieren, das ambivalente Verhältnis zu Geld. Diese Aufsteigerklasse hat nicht das Selbstverständnis einer schon über Generationen „angekommenen“ Klasse, mit all deren zugehörigen Bildungs-, Kultur- und Geldattributen. Und auch die Kinder haben diese Klassenangst, nicht wirklich dazuzugehören, teilweise übernommen. Ähnliches könnte man über eine ganze ostsozialisierte, zur Zeit der Wende erwachsen gewordenen Generation sagen. Auch hier dominiert erstmal Unsicherheit. Was wird aus mir, wie verhalte ich mich richtig, was sind die Anforderungen des westlichen Kapitalismus an mich, und sie versuchte um so mehr, alles richtig zu machen. Dennoch sind die Ängste auch nach über 30 Jahren vielfach überlagert zu spüren. Bei migrantischen Hintergründen in Familien gibt es ähnliche Muster.
Dröscher untersuchte schon vor ihrem Roman in einer Art Sachbuch ihre eigenen sozialen und damit auch psychischen Wurzeln (Zeige deine Klasse: Die Geschichte meiner sozialen Herkunft, 2018) mithilfe unterschiedlichster literarischer Bohrtechniken. Sie erstellt Listen (z.B ihrer Privilegien in der Grundschulklasse gegenüber Ärmeren, Themen bei Familienfeiern, ein Alphabet der Scham), setzt in unterschiedlichen Narrationsformen sich, ihre Eltern, ihr Dorf, ihre Region in Relation zu anderen, zitiert Eribon und Ernaux schon lange vor dem spätestens nach dem Nobelpreis angebrochen Hype um eben diese. Es ist ein sehr vielschichtiges und differenziertes Bild, in dem am Ende aber vor allem der Leistungsdruck, den die beschriebene Mittelklasse ständig aufrecht erhält und an die nächsten Generationen weitergibt, dominiert. Aus der Aufsteigermittelklasse wird die Angst-vor-dem-Abstieg-Mittelklasse. Dröscher bescheinigt ihr jedoch am Ende des Buches, sollte sie sich jemals von ihren Ängsten freimachen können, ein zwischen den darüber und darunter liegenden Klassen vermittelndes Potenzial.

Kapitalismuskritik **** Komplexität **
Wirksamkeit *** Humor **


Still aus dem Film Triangle of Sadness
Cover der beiden Bücher von Anke Stelling, beide im Verbrecher-Verlag
Doppelseite aus dem Fotoband Habitat von Anne Schönharting, hier Frank Dingel und Karsten von Kuczkowski
Schaufenster von Rafael Horzons Raumdekorationsobjektladen
Cover der beiden Bücher von Daniela Dröscher, Hoffmann und Campe und Kiepenheuer & Witsch