Klasse-Spezial

2023:Februar // Christoph Bannat

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02-2023

Klassismus

Schafft die Künstlersozialkasse ab! Schafft die Privilegien der avancierten Mittelklasse ab, damit sie sich den Arbeitern nähert. Soll das die Belohnung sein, dass wir Künstler versucht haben, selbst und das ständig, Kleinstunternehmer in Personalunion zu sein? Dass wir unseren Körper als Risikokapital betrachten?
Plötzlich ist die Klassenfrage wieder en vogue. Dabei gibt es doch im Marx’schen Sinne gar keine mehr; seit das Proletariat ins Ausland verlegt wurde, gibt es doch nur noch unterschiedliche Konsumentenklassen – so das Narrativ der letzten Jahrzehnte. Doch jetzt haben die Zweifel an der Dreifaltigkeit von Proletariat (das nur seine Arbeitskraft als Ressource hat), Mittelschicht und Großbourgeoisie wieder eine Renaissance. Vielleicht sucht man in einer immer komplexer werdenden Welt zunehmend nach einfachen Verhältnissen, oder hat festgestellt, dass der Kapitalismus eng mit Klassenfragen verbunden ist, so wie er eng mit ökologischen Fragen und diese mit kosmischen verbunden sind.
Mit der Einführung des Klassismusbegriffs sprechen plötzlich auch Medienvertreter öffentlich von ihren gesellschaftlichen Ab- und Ausschlussängsten. Nachdem Pierre Bourdieu den wissenschaftlichen Überbau, Annie Ernaux (Literatur-Nobelpreis 2022) sowie Didier Eribon (u.a. Foucault-Biograf, Rückkehr nach Reims) die literarische Unterfütterung dazu geliefert haben, scheint es sich, wenigstens im akademischen Feld, auszuzahlen, sich mit seiner Herkunft zu beschäftigen und zu berichten, wie sich Klassenzugehörigkeit von innen anfühlt. Dabei spielt der Begriff der Scham eine tragende Rolle. Scham, dass die soziale Herkunft, einmal aufgestiegen in eine höhere Klasse, in Gestus und Habitus dort sichtbar wird. So wird versucht, Herkunft, oft durch peinliche Überanpassung, zu verstecken. Angst, dass das wahre Selbst entdeckt wird und ein kulturelles Unbehagen sind die Folge. Es wird alles getan, um nicht aufzufallen. Die Lust am öffentlichen Bekenntnis kehrt die Scham in einen akademischen Clubcode um. Dabei dauert der Austritt aus der eigenen Klasse, laut Annie Ernaux, ein Leben lang – findet also nie wirklich statt. Und wo lässt es sich öffentlich besser über Gefühle sprechen als auf dem Feld der Kunst, dem Feld der As und Os.
Wie aber entkommt man seiner Klasse, um die Klassenverhältnisse nicht lebenslang zu reproduzieren? Für die Oberschicht, hauptberuflich damit beschäftigt ihre Privilegien zu bewahren, stellt sich die Frage bekanntlich nicht. Es sind Fragen einer avancierten Mittelklasse. Jener Klasse, die noch genug Ressourcen hat. Die es sich leisten kann, zu scheitern. Die ihr Selbst, und das ständig, hochhält. Und es gibt Arbeiter. Die ihren Körper (ihre Sinne) nicht vollständig als Arbeitskraft zur Verfügung stellen wollen. Die ihren Körper als Risikokapital einsetzen (ausgezahlt wird in Beachtung). Die als Kleinstunternehmer in Personalunion, als Kriminelle, als Selbstständige auftreten, nach den Gesetzen von Authentizität und Originalität, ihrem A und O. Bestenfalls sind das Künstler.
Jean Genet, Albertine Sarrazin, Hubert Fichte waren eigentlich nie ganz verschwunden, trieben aber nicht solch akademische Blüten, wie der Klassismusbegriff. Vielleicht auch weil das Wegenetz des Sozialen in den 1970ern noch enger und Klassenfragen selbstverständlicher waren. Es gibt aber auch ein anderes Selbst.
Der ambitionierte Proll will in die Mittelklasse und tritt in Konkurrenz mit dem hier angestammten Personal. Oder er überspringt diese als Neureicher. Dafür muss er seine Herkunft verleugnen. Die Distinktionsmerkmale jener, die in ständiger Angst um ihre Ressourcen und einen möglichen Abstieg leben, drücken sich in feinen Unterschieden aus. Wie also kann sich unter solchen Umständen Selbstbewusstsein und Stolz entfalten? Vom Selbstbewusstsein der Erben (und vererbt werden auch Gene, Blut und Boden – Vorsicht, hier lauert Rassismus!) wissen wir seit Thomas Piketty, dass diese nach einiger Zeit glauben, die Erbschaft auch verdient zu haben. Selbst wenn sie nichts dafür getan haben. Wahrer Stolz entsteht nur aus dem Selbst. Und bei vielen erfolgreich avancierten Mittelschichtlern geht der Stolz mit dem Glauben einher, es allein und aus eigener Kraft geschafft zu haben. Doch es gibt auch einen anderen Stolz; den des selbstorganisierten Selbsts, den der Band, Gang, Rotte, des Syndikats oder Schwarms. Der Stolz, dass das Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Einzelteile.
Ich war mein Leben lang brav. Hab mich um mich selbst gekümmert, mich selbst weiter gebildet und bin auf der Schnauze gelandet. Ich habe den Gesellenbrief gemacht, mich ein Jahr lang reisend weitergebildet, einen Hochschulabschluss, einen Führer- und Gabelstablerschein. Mich als Selbstständiger verschuldet und die Schulden als Angestellter abgezahlt. Daneben habe ich mein Leben der Kunst gewidmet. Ich bin dem Versprechen gefolgt, es damit selbst zu schaffen. Ich hab mir immer ein Atelier geleistet, als Fluchtpunkt und Möglichkeitsraum. Ich glaube immer noch an die Trennung von Ausdrucks- und Arbeitswelt. Dann wurde ich entlassen und mein Selbstbewusstsein bekam einen Schlag. Es stellte sich die Frage, wer bin ich ohne Atelier? Wer ohne Öffentlichkeit? Wer ohne meinen symbolischen Körper? Ohne digitales Erscheinungsbild (ich leide unter starker digitaler Schüchternheit)? Wer ohne virales Gebet an die Gesellschaft? Wer bin ich ohne soziale Spannkraft? Das jahrzehntelang gezüchtete Selbst bekam Risse. Mein Selbstbewusstsein, meine Selbsterkenntnis und Selbstsicherheit, die so lange Ressource und Treibstoff für meine Kunst waren, gingen gegen Null. Ich stand auf der Straße und vor Scham, es nicht geschafft zu haben, kamen mir die Tränen. Ich wollte nicht, dass jemand mich so sah, doch der Befehl, vom Kopf an die Füße, sich zu bewegen, war so langsam, dass ich das Gleichgewicht verlor.
Dass ich die Stadt und nicht das Erdloch, in dem ich lebendig begraben lag, wieder als einen lebenswerten Ort empfand, habe ich der Freien Arbeiter Union (FAU) Berlin zu verdanken, einem linken Gewerkschaftssyndikat. Verdi wusste nicht, da weder Künstler noch Arbeiter, wohin mit mir. Die FAU vertrat mich, ohne nach meinem Selbstverständnis zu fragen, vor Gericht. Hier erlebte ich hautnah, und es ging schließlich darum, meine Haut zu retten, ein anderes Selbst – das kollektive Selbst sich selbst organisierender Arbeiter.
Die einzige politische Handlung in der Geschichte meiner Familie war, dass mein Großvater zu Hitlers Geburtstag als Letzter in der Straße flaggte. Die FAU hat proletarische Kulturtechniken bewahrt, entwickelt und ausgebaut, die mir jetzt zu Gute kamen. Techniken, die mir halfen, wieder Luft holen zu können. Allein der Weg ins Vereinslokal gab mir Halt. Zur Zeit, da viel von Klassismus gesprochen wird, lautet meine Forderung: Lasst die Leute (Arbeiter, darunter viele prekär beschäftige) einfach machen und unterstützt sie darin, die organisieren sich schon selbst – die FAU wird zur Zeit vom Verfassungsschutz beobachtet, so viel zum „machen lassen“. Die FAU hat mir auch gezeigt, dass nicht ich mit der Kündigung gemeint war, sondern dass ich (als Arbeiter) ganz einfach, nach klassischen Arbeitgeberregeln, rausgemobbt wurde. Ich hab durch die FAU Abstand von einem Selbst nehmen können und ein anderes, das organisierte Selbst der Arbeiter erlebt und als heilsam empfunden. Das klingt sentimental und ist als Dank und Aufforderung zu verstehen, weiterzumachen.
Die exemplarische Suche von Künstlern nach neuen (Lebens-)Formen beinhaltet das Versprechen, durch diese auch zu neuen Inhalten zu gelangen. Ich habe bei den FAUs eine für mich neue Lebensform erfahren. Eine demokratisch funktionierende Gesellschaft braucht dermaßen wertvolle Kulturtechniken und davon möglichst viele miteinander vernetzte.
Das Privileg der Künstlersozialkasse trennt Künstler- und Arbeiterschaft. Es schafft einen Billiglohnsektor im Kunstbetrieb und fördert den Selbstbetrug von der Selbstständigkeit. Was spätestens beim ersten Rentenbescheid für viele Künstler sichtbar wird. Dann hilft nur noch der Glücksfall: die Erbschaft. Aber bis es soweit ist, hat sich das Problem vielleicht schon gelöst, da keiner mehr weiß, was Kunst eigentlich war, und es nur noch die Kreativwirtschaft gibt. Dann haben wir ein anderes Problem.