„Alle, die nichts anderes haben, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sind Arbeiter“

Gespräch

2023:Februar // Christoph Bannat und Hansi Oostinga

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02-2023

Lieber Christoph,
vielen Dank für deine Hartnäckigkeit, aber falls Du auf D. anspielst, die ist noch viel dichter mit Terminen.
Ich stell mir unter transclasse übrigens nix vor, sondern es ist ein Begriff von Chantal Jaquet, der schlicht den Klassenwechsel beschreibt: https://www.k-up.de/9783835391048-zwischen-den-klassen.html
Ich würde dir vorschlagen, ihr Buch zu lesen und ein Porträt von ihr und ihrem Begriff zu machen. Das finden die Leute bestimmt sehr interessant.
Liebe Grüße!

„ ‚Wer den Klassenkampf für überholt hält, gehört der herrschenden Klasse an.‘
Pierre Bourdieu hat dem Bildungswesen wiederholt attestiert, soziale Ungleichheiten und Klassenprivilegien nicht etwa abzubauen, sondern zu reproduzieren. Dagegen spürt das Buch von Chantal Jaquet den Geschichten derjenigen nach, die das Schicksal ihrer ursprünglichen Klasse eben nicht wiederholen. Es fragt nach den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, familiären und je singulären Bedingungen, die ein anderes als das vorherbestimmte Leben möglich machen. Am Kreuzungspunkt von kollektiver und persönlicher Geschichte rücken die Formen von Individualität in den Blick, die keinen Platz in ihrer jeweiligen Umgebung finden und Klassengrenzen überschreiten.
Im Ausgang von Didier Eribons und Annie Ernaux’ sozialen Autobiographien lädt Chantal Jaquet dazu ein, biographische Singularität an der Schnittstelle von Philosophie, Soziologie, Sozialpsychologie und Literatur anders zu denken. Ihrem politischen Essay geht es um einen neuen Blick auf die sozialen Bedingungen des Menschlichen“.


(Verlagstext zu Chantal Jaquet, Zwischen den Klassen – Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht,
Konstanz University Press, 2018)



Christoph Bannat: Lieber Hansi (FAU 2), ich (FAU 915) will mich hier kurz erklären, jetzt wo Klassismus wieder hip ist. Plötzlich betonen alle, von Carolin Emcke bis Isabelle Graw, ihre Herkunft und damit verbundene Abstiegs- und Ausschlussängste. Das scheint sich in der bürgerlich-akademischen Welt auszuzahlen. Wie siehst Du das?

Hansi Oostinga: „Klassismus“ ist ja ein relativ neuer Begriff. Für mich stellt er den Versuch dar, über die Klassengesellschaft zu reden, ohne sie wirklich zu thematisieren. Statt über Ausbeutung und Unterdrückung zu sprechen, wird über Diskriminierung und Stigmatisierung diskutiert. Und statt in einem kollektiven Emanzipationsprozess wird die Lösung in der individuellen Chancengleichheit gesucht. Im Kern ist es die alte sozialdemokratische Aufstiegshoffnung, die nicht an den Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft rütteln will. Und – da hast du natürlich recht – in solch einem Diskurs kann ein Nachteil (Arbeiterherkunft) auf dem Markt zu einem Vorteil werden. Denn auch der kapitalistische Verwertungsgedanke hat letztlich kein Interesse an unüberwindlichen Klassenschranken – solange sie selbst nicht aufgehoben werden.

Bannat: Es gab von Marc Bausback (Text in der letzten von hundert, http://vonhundert.de/2022-05/927_bannat.php), der im Veranstaltungs-, Literatur- und Kunstbereich arbeitet, die Idee, eine Transclass-Plattform einzurichten. Er verwies mich auf Chantal Jaquet. Ich stehe dem kritisch gegenüber, … wie siehst Du das ?

Oostinga: Ich müsste es genauer kennen, um wirklich darüber urteilen zu können. Offensichtlich war es aber eher ein Projekt, um Gelder zu bekommen – sonst wäre es ja vermutlich online. Mit Kritik an Klassengesellschaft scheint mir das Ganze wenig zu tun zu haben. Und, dass Leute die Klasse wechseln, ist ja nun kein neues Phänomen – und für mich kein interessantes. Interessanter finde ich das Phänomen, dass Leute quasi zwischen den Klassen oszillieren.

Bannat: Ich denke, dass das etwas für Akademiker und für Feuilletonisten ist, die sich damit profilieren können, egal wie wichtig das Thema Klassenbewusstsein selbst ist. Du bist einer der Gründer der FAU in Berlin. Kannst Du hier kurz Deinen Werdegang beschreiben?

Oostinga: In der Grundschule habe ich eigentlich noch den für meine Herkunft vorbestimmten Weg eingeschlagen. Ich galt als aggressiver Schläger und lernbehindert. Ich wurde in einen Förderkurs für Deutsch gesteckt, wo ich mehr stigmatisiert wurde, als dass mir dort geholfen wurde. Auf der Orientierungsstufe, einer Zwischenstufe in Niedersachsen seinerzeit, wendete sich das Blatt, und ich konnte zum Gymnasium gehen. Das lag vermutlich vor allem am jüngeren, motivierteren Lehrpersonal. Ich habe dann auch ein Einser-Abi gemacht, aber ich fing da schon an, mich selbst zu sabotieren, was sich im Studium fortsetzte. Jeder Erfolg im Studium war für mich gleichzeitig ein Verrat an mir selbst – ein Ankommen in dem System, unter dem ich selbst so gelitten hatte. Letztlich habe ich als Diplom-Politologe abgeschlossen, habe aber nie in diesem Bereich gearbeitet. Ein veganer Fleischer quasi. Seitdem versuch ich eigentlich den Spagat zwischen ausreichendem Einkommen und sinnvoller Tätigkeit.

Bannat: Keiner, weder meine Eltern noch Großeltern, haben studiert. Ich komme aus der unteren Mittelschicht von Angestellten, die von der Hoffnung auf Aufstieg und der Angst vor dem Abstieg geprägt ist. Genährt vom Mythos, es aus eigener Kraft schaffen zu können. Wo kommst Du her?

Oostinga: Bei mir sieht es ähnlich aus. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und war der erste, der ein Abitur machen konnte. Ich kenne das mangelnde Selbstvertrauen, das lange Herumexperimentieren, das Zögern und Vor-Sich-Herschieben der eigenen Träume. Ich kenne auch die kleinen Verletzungen und die Unterschiede, die einem früh gezeigt werden.
Die Eltern möchten, dass man es einmal besser hat, aber das Besser lässt sich nicht an Vorbildern oder etwas Bekanntem festmachen. Und die eigenen Eltern können mit dem Weg, den man einschlägt, auch wenig anfangen – man befindet sich irgendwie in der Schwebe.
Meine Erfahrung ist, dass Arbeiterkinder wesentlich mehr um ihre Träume kämpfen müssen, obwohl sie nicht mal sicher sind, ob es die eigenen sind. Und ich will damit nicht dem „Klassismus“ das Wort reden, sondern einer wirklichen Emanzipation – einer Welt ohne Klassen.

Bannat: Ich hab alles richtig gemacht. Vom Realschüler zum Hochschulabsolventen, zum Selbstständigen. Ein Phänotyp von Ich-AG. Und nie politisch aktiv. Wie bist Du politisiert worden?

Oostinga: Das fing früh an. Ich habe schon mit sechs Jahren mit meinem Opa und seinem Kumpel am Sonntagmorgen Wahlwerbung für die SPD verteilt. Dabei habe ich zum ersten mal das Wort „Bourgeoisie“ gehört, da mein Opa meinte, es hätte keinen Sinn, zu gewissen Häusern hinzugehen, da sie dort lebe. Im Prinzip haben mich diese beiden großartigen Menschen geprägt, auch wenn ich mich dann von dem sozialdemokratischen Ansatz verabschiedet habe.
In meiner Jugend war ich dann in Umweltgruppen und BIs aktiv und fand meine politische Heimat im „Anarchistisch-Autonomen Plenum Leer“. Und obwohl diese Gruppe kulturell wie politisch ein wichtiger Faktor in der ostfriesischen Provinz war, merkte ich auch schnell ihre Beschränktheit, was eine ernsthafte politische Veränderung anging.
In Paris habe ich dann die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT kennengelernt. Dort fand grade ein Generalstreik statt und die CNT war ein wichtiger Faktor. Sie war nicht nur dynamisch und verankert in der normalen Bevölkerung, an ihrem Sitz in der „33, rue des Vignoles“ mischten sich diese aktuellen Kämpfe mit den Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs, die dort auch residierten. In dieser ehemaligen Werkstattgasse herrschte eine unglaubliche Atmosphäre und ich fragte mich, warum gibt es sowas eigentlich nicht in Deutschland. So kam ich zur FAU.

Bannat: Annie Ernaux sagt, dass es ein Leben lang dauert, seine Klasse zu verlassen. In den 1990ern hieß es, dass es keine Klassen im herkömmlichen Sinne mehr gibt. Du bist als einer der Ersten bei der FAU. Siehst Du heute eine Wandlung zum Klassenbewusstsein?

Oostinga: Ja, ganz klar. Zumindest kann wieder über Klassen geredet werden. Als ich Mitte der 1990er in die FAU einstieg, wurde ich noch ausgelacht, weil wir Begriffe wie „Arbeiter“ oder „Klasse“ benutzten. Einige Jahre später ließen sich einige derjenigen, die damals lachten, ihre Doktorarbeiten zum Thema von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanzieren. Heute ist die „Neue Klassenpolitik“ en vogue – mit manchen Skurrilitäten und manchen Rädern, die neu erfunden werden sollen. Aber all dies ist ja auch nur Ausdruck davon, dass wieder vermehrt Klassenkämpfe stattfinden.

Bannat: Ich kenne einen Arzt, der arbeitet wahnsinnig viel und will sich in seiner Freizeit nur mit schönen Dingen beschäftigen. Wie definierst Du Arbeiter ?

Oostinga: Ich bin da erst mal ziemlich oldschool an Marx orientiert: Alle, die nichts anderes haben, als ihre Arbeitskraft
zu verkaufen, sind Arbeiter. Natürlich gibt es da auch kulturelle Aspekte, aber die sind nicht entscheidend. Ohnehin geht es mir eher um eine Arbeiterbewegung, also etwas Dynamisches. Und als Friese weiß ich, dass etwas wie die Küstenlinie nie zu definieren ist, aber dennoch existiert.

Bannat: Ich sehe, dass mich der Widerspruch, die Aufteilung des Sinnlichen angetrieben hat. Ich sehe das wie Rancière, Schiller oder Marx – der davon spricht, dass wir heute Fischer, morgen Handwerker und übermorgen … sind. Ich bin während meiner Lehre in Aktzeichenkurse gegangen. Nicht weil ich Künstler werden wollte, sondern weil ich irgendein Ideal vom Selbst hatte. Ich denke, wenn man anfängt, außerhalb der Arbeit (in der man seine Sinne dem Arbeitgeber zur Verfügung stellt) z. B. sinnvoll zu schreiben beginnt, man bereits den einen zugewiesenen Platz verlässt. Bei Rancière heißt das „ Die Nacht der Arbeiter“, die tagsüber arbeiten. Das Selbst und die Erfüllung des Sinnlichen ist der Antrieb. Schreiben hier als sinnlicher Akt. Dabei sehe ich Parallelen zur FAU. Über das Wörtchen „Selbst“ steht die FAU in der Tradition der Selbstbeschreibung, -erkenntnis und -verwirklichung. Ich habe keine Vollversammlung erlebt, bei der die Schwarmintelligenz nicht ihren Auftritt hatte. Neben den vielen Oral-History-Momenten. So zum Beispiel, wenn Berliner Web-Cleaner oder Journalisten, die durch KI-Programmen ersetzt werden sollten , von ihren Arbeitsbedingungen erzählten. Was schätzt Du an der FAU?

Oostinga: Da gibt es natürlich verschiedene Ebenen. Erstmal hat die historische Arbeiterbewegung uns nur rostige Waffen hinterlassen und ich glaube, dass der Syndikalismus hier – mit ein wenig Öl hier und da – noch die interessanteste ist.
Sein Transformationskonzept scheint mir nach wie vor eine Antwort auf viele offene Fragen der Linken zu geben. Zudem ist er offen, die verschiedenen Strömungen, die sich auf eine selbsttätige Arbeiterklasse berufen, zu vereinen.
Und bei allen Nackenschlägen und unangenehmen Sachen, die ich persönlich in dieser Organisation erlebt habe, sehe ich einfach, was sie für Menschen gemacht hat, und welche Menschen hier zusammenkommen – ohne Profit-, ­Karriere- oder sonstwelchem Interesse.

Bannat: Ich möchte der FAU, außer meinem Mitgliedsbeitrag, etwas zurückgeben. Ich möchte, dass diese für mich als lebensnotwendig erlebten Kulturtechniken erhalten bleiben. Allein einen Ort in der Stadt, ein Vereinslokal, zu haben, wenn man dermaßen unter Schock steht, wie in meinem Fall, von dem ich heute weiß, dass es vielen (fast einer ganzen Bevölkerung, denken wir an Ostdeutschland) so erging, bedeutet es schon etwas. Mit Lockdowns und der Online-Kommunikation habe ich etwas den Kontakt verloren. Mein Browser war wohl veraltet. Wie siehst Du die Digitalisierung der FAU?

Oostinga: Die Digitalisierung, also, dass viele Diskussions- und Entscheidungsprozesse auf online umgestellt wurden, ist ja nicht zuletzt durch die Pandemie forciert worden. Ich möchte dies auch nicht verteufeln, da dies für manche erst eine Teilnahme ermöglicht und bei weniger wichtigen Fragen Prozesse vereinfacht. Andererseits schließt es aber – sofern es das einzige Instrument ist – auch viele Leute aus und reduziert Entscheidungsprozesse oftmals auf eine Stimmabgabe. Dieser kühle, technische Vorgang hat aus meiner Sicht auch nochmals eine Individualisierung vorangetrieben und Konflikte verstärkt, da eine menschlichere Ebene des direkten Austausches fehlte.
Dieser Prozess spiegelt aber vielleicht auch ein generelleres Problem der FAU wider. Die historische Arbeiterbewegung arbeitete im selben Betrieb, lebte im selben Kiez, ging zum selben Fußballklub und in dieselbe Kneipe – das alles gibt es nicht mehr. Dies hat sicherlich auch Vorteile, was eine individuelle Lebensgestaltung angeht, erschwert aber auch eine kollektive Organisierung. Und die Kulturbranche ist hier sicherlich ein Vorreiter.
Wenn ein Bruchteil der Mitgliedschaft sich nur auf Vollversammlungen trifft und danach wieder in ihre fragmentierten Lebenswelten abtaucht, wird es schwierig, einen kollektiven Prozess in Gang zu setzen. Und es verstärkt natürlich die Tendenz zur Zentralisierung: Atomisierte Mitglieder brauchen Betreuung und lassen sich nur schwer in Entscheidungsprozesse jenseits eines digitalen Ja-Nein-Votings einbinden.
Ich denke, eine Kollektivität vor dem Hintergrund fragmentierter Lebenswirklichkeiten herzustellen, ist die Kern­aufgabe einer neuen Arbeiterbewegung. Digitalisierung kann da ein Instrument sein, aber, wenn sie das einzige ist, ist sie eher schädlich.

Bannat: Ich hab in der Mediensektion der FAU die Überlegungen eines Artworker-Streiks erlebt. Auch wenn der nicht stattfand, zeigte er, wie sensibel dieses Feld, in dem es meist um Symbolpolitik geht, zwischen den Künstlern, Galeristen, Direktoren, Kuratoren und den Arbeitern ist. Es zeigte aber auch, wie der Mythos Kunst (viele die hier arbeiten, haben Kunst studiert) auf die Arbeiter wirkt, die dann nicht wissen, ob sie Fach- oder Hilfsarbeiter oder partizipierende Künstler sind.


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