Marx und meine Widersprüche

2023:Februar // Kerstin Weßlau

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02-2023

Das Konterfei von Karl Marx nenne ich seit 1990 mein Eigentum. Vor einem Besuch wurde das nach links blickende Rauschebart-Porträt für die mögliche Bewertung durch die Teenage-Peer-Group als unbekannt oder zu gefährlich, als bedenklich eingestuft. Dann wurde es einfach von meinem Nachwuchs von der Wand im Brandenburgischen abgehängt. Das Gelände gehört jetzt zum größten Teil einer Bank, die auch in der Finanzkrise unterstützt wurde. Der erbauende Architekt und seine Frau sind durch die Verhältnisse der Nazizeit verschollen, eine spätere Besitzerin wurde auf Grund ihrer Weiblichkeit und ihrer Alleinstellung in der DDR gelenkt freiwillig enteignet. Eine Neueinstufung des Images von Marx von der derzeitigen sozialen Altersgruppe steht noch aus.
Dieses vorherige Volkseigentum, hergestellt durch einen mir unbekannten Künstler oder Künstlerin, in meiner Erinnerung in großen Auflagen in Essenssälen, Empfangshallen oder Büroräumen etc. des nicht mehr real existierenden Staates präsentiert, stammt von der Schule der Deutschen Post auf dem Funkerberg, bei der meine Mutter als Leiterin der Finanzabteilung arbeitete. Sie hatte mit der Übernahme durch die magentafarbene Telekom einige Managementschulungen machen dürfen, um zu erfahren, dass ihr ungerader sozialistischer Werdegang für den Sieg der Arbeiterklasse nicht zur Weiterbeschäftigung in gleicher oder ähnlicher Position im Westsystem taugt.
Irgendwie kam dann das Bild zu mir. Das Volk interessierte sich bisher dafür nicht mehr. Ich habe den etwas verträumten Gesichtsausdruck bald mit der Wirkung der Statue auf dem Londoner Highgate Cemetery abgeglichen und mir dann u. a. auch den beeindruckenden Arbeitsplatz im kapitalistischen Ausland des aus jüdischem bürgerlichem Elternhaus stammenden Karl Marx, die Londoner British Library, angesehen. Einige Werke von Lenin (Bibliotheksnutzername in der British Library: Jacob Richter) habe ich vor vier Jahren aus dem Abstellraum eines jetzigen Privat- Gymnasiums unter großem Unverständnis, vermutlich der Angst vor dem schon lange „umgehenden Gespenst“ Kommunismus der Umstehenden, vor dem Schreddern gerettet. Mich hatten die Überschriften, aber vor allem die Einbände angesprochen. Noch stützen die Bände nachhaltig ein Bücherregal und warten auf weitere Verwertung.
Über die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft dachte ich ausreichend durch das Fach Staatsbürgerkunde (seit der 7. Klasse), die Jugendstunden zur Jugendweihe und später durch das Pflichtstudienfach Marxismus/Leninismus an der Hochschule theoretisch studiert zu haben. Die Widersprüche der DDR haben mich damals trotzdem mehr beschäftigt und auch nachhaltig beeinträchtigt. Die eindringlich vermittelte Theorie ist jetzt wie u. a. die nicht mehr benutzten Russischvokabeln in meinem Kopf abgelegt und derzeit leider nur rudimentär abrufbar, z. B. einzelne Wörter mit K wie Kapital, Klassenkampf, Krisentheorie und die Abkürzungen des Unterrichtes wie z. B. AK = Arbeitskraft und PM = Produktionsmittel und einige Zitate …
Das Wort Manifest, ein gut rezipierter, 23 Seiten langer, programmatischer Text der kommunistischen Partei von 1848, ein Aufruf von Marx zur Vereinigung des Proletariats zur Veränderung der Gesellschaft und Aneignung der PM ist seit den gesellschaftlichen Umbrüchen final ausgelöst durch den Protest friedlicher Revolutionär:innen, die etwas später, zu diesem Zeitpunkt noch gemeinschaftlich, mehrheitlich nach der D-Mark riefen, von mir mit Sarkasmus verbunden und auf den Begriff „Money Fest“( MF) gekürzt worden. Das Bild von den Auswüchsen des Kapitalismus in seinen letzten Zügen hilft im (künstlerischen) Lebensalltag für das Verständnis, auch wenn es mich nicht beruhigt oder vorwärts trägt. Entgegen der Verzichts- und Klimawelle singt meine jüngste Tochter wie viele andere auch lautstark und ehrlich: „Ich will Immos, ich will Dollar … Ich hab Hunger, also nehm ich mir alles vom Buffet … (1982 hieß es: „Ich will, was mir gefällt“). Ich wollte u. a. gern auch in diesem Jahr einige Reisen unternommen haben. Den Widerspruch zwischen den Wünschen und Gegebenheiten dieser Freiheit müssen sie und ich wie viele andere auch erst mal aushalten, z. B. u. a. während der Arbeit im Selbstauftrag in einer Bibliothek. Es hilft dabei nicht zu denken, dass die Familie väterlicherseits eigentlich Landbesitz hätte, den mein Vater auf Grund der Bodenreform unfreiwillig an die LPG überlassen musste, was rechtlich bisher nicht anfechtbar war.
Durch Zufall fiel mir im letzten Jahr das Buch von Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, 2020 im S. Fischer Verlag erschienen, in die Hände. Bei ihr wird (schon) geteilt, regeneriert, gepflegt, gerettet. Das Eigentum, so wie ich die Autorin verstanden habe, wird nicht abgeschafft, sondern „umgesetzt“ und der Mensch von der Sachherrschaft befreit und mit Liebe zum Territorium, also einem Standort, beschrieben, von dem die Welt gestützt wird, für die Freiheit – auch der teilenden weltwahrenden Revolutionär_innen. Das bedeutet für mich eine etwas diffuse, aber wieder verstärkte Verschiebung des Fokus vom Individuum zum (Gruppen-)Kollektiv bzw. zum kollektiven (Gruppen-)Geist, zum guten Klima, zur Gerechtigkeit und Anteilnahme, ohne (menschlich verständlich) den eigenen Wohlstand zu vernachlässigen, aber ihn in Bezug zum Luxusideal umzudenken. Der Begriff Standort (und die Findung dessen und den Anspruch darauf) ist für mich nach der Lektüre weiterhin ein offener Begriff, ebenso die Absicherung von dauerhaft menschenwürdigem Leben, fern von Hierarchien, Leistungsbewertungen und dem effektiven monetären (d. h.) besteuerbaren Output des erweiterten Arbeitsbegriffes für die Staats- bzw. Weltgemeinschaft.
Überlegungen zu neuen gesellschaftlichen Formen werden nach meinem Verständnis leider noch vom Unvermögen der Überwindung antagonistischer Kräfte mit ihren verschiedenen Ausgangslagen, dem Wettbewerbsdenken, Sozialneid, Egoismus und purer Unkenntnis menschlicher Eigenarten oder schlicht wegen dem Gefühl des Aufmerksamkeitsdefizits stark begrenzt. Die Vor-und Nachteile von (künstlerischen) Kollektiven, die Beteiligung einzelner Künstler:innen und die Bedeutung ihrer Arbeit (deren Rezeption und Nachfrage) sowie ihr Bezug zum Gerechtigkeitsbegriff wurde bereits verstärkt, wenn auch im letzten Jahr nicht im Ergebnis abschließend intensiver diskutiert. (Mediale) Kämpfe sind überall zu verzeichnen. Dabei geht es schon lange nicht mehr um Bourgeoisie und Arbeiterklasse, sondern um das Überleben, jeder gegen jeden – in Gruppen von Geschlechtern, Geschichten, Ländern, Identitäten, sozialen wie medialen (Zu-)Ständen, Interessensgebieten, nach dem Alter, der Machtpositionen, Ranking im Liking-System, der Einkommens- bzw. Steuergenerierung, dem angenommenen Spaß-Luxusfaktor, dem Bereits-Bewährten/Sinnvollen/Sinnfreien, der Zugehörigkeit … aus welchem Grund auch immer. Natürlich wird trotzdem punktuell und visionär ein Miteinander angestrebt, Gemeinschaftswohl-Wahlsprüche aufgehängt, gelebt und die Einheit temporär gefeiert. Das wäre sonst bis hierher nicht gegangen.
„Wissen ist Macht“ laut Marx und „Nicht-Wissen macht nix“ – nein –, wird auch benutzt. Schuld und Zweifel erklären sich daraus. Verdrängung ist ein fester, sehr trauriger Begriff in der Bearbeitung von Vergangenheit.
Klare öffentliche kritische Handlungen und Äußerungen zählen als unangepasst. Besonders bizarr erscheinen Reaktionen von (religiös wie sozial geprägten) Gemeinschaften auf andersartiges Tun. Das ignorierte bzw. ausgestoßene Sein aus der Mehrheits-und/oder herrschenden Gruppe ist ein weites, oft erst einmal trockenes Feld.
Das Leben in der DDR und das Abarbeiten mit den sich daraus ergebenden Einschränkungen als Mensch wie als Künstlerin thematisiert z. B. der aktuelle ­Dokumentarfilm Rebellinnen von Pamela Meyer-Arndt mit der Musik von Ulrike Haage. Er porträtiert die etablierten Künstler:innen Cornelia Schleime, Gabriele Stötzer und Tina Bara.
Mir unbekannt ist der Entbehrungsreichtum von Cao Fei, einer chinesischen, hauptsächlich in Peking lebenden Künstlerin, die z. B. in der Serpentine Gallery in London 2020 mit Blue Prints eine interessante virtuelle wie reelle Parallelwelt-Kinolebenslandschaft erschaffen durfte. Sie nimmt u. a. (digitales) urbanes Leben mit seinen Verwerfungen der Wünsche unter den Bildschirm und ist z. B. mit der Gestaltung des BMW-Neuwagens in bzw. zwischen beiden politischen Systemen angekommen, auch mit ihrem (Avatar) The New Angel auf dem Eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper.
Unbestritten ist die Annahme des Einhaltens eines Minimums an Regeln (der jeweiligen sozialen Gruppe) – neudeutsch: soziale Kompetenz – in allen Menschenvereinigungen, auch bei Religionen (bei Marx als Opium für das Volk beschrieben). Grundregeln aus dem Kindergarten für das menschliche Zusammenleben und das Überleben sind: „Nicht treten, nicht beißen, nicht kratzen, nicht spucken, nicht schreien“ + Zusätze wie „nicht bedrohen, nicht lästern, nicht ausschließen“. Soweit ich das bisher wahrnahm, werden diese Regeln selbst beim (mehrheitlich wertgeschätzten) weltlichen (Gruppenkampfsport) Fußball trotz Ahndungen regelmäßig ausgehebelt. Der Aufruf „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“1 wurde sehr selten als Leitspruch für Held:innen interpretiert. Es sind zwar reduzierte, naiv anmutende, aber erst mal von Eigentum/Sachherrschaft unabhängige und nahbare Basis-Aufforderungen. Das Tabu der Handlung des Tötens, dessen Urmotive und ihre Aufdeckung (der Wirkungsmechanismen ökonomischer Beziehungen und Erscheinungen (vom Rufmord bis zum Totschweigen)) sind eine immer weiter wachsende und von Literatur, Film und Fernsehen bediente, weil viel rezipierte Erzählung über die Abgründe der Menschheit.
Die Sehnsucht nach dem arkadischen, friedvollen Reigen unter Palmen findet sich als Thema in der Malerei wieder, hat aber auch dramatisches Potenzial, wie durch die Arbeiten des in Berlin lebenden Malers Erik Schmidt in der Ausstellung Retreat im Kunstraum Potsdam zu erfahren war. Er hatte das Glück (und einen überzeugenden Lebenslauf samt Werk), Aufenthaltsstipendien u. a. in Rom und Sri Lanka zu erhalten. Die Reflexion seiner Identität als bildender Künstler, seine einstigen Wünsche und die Bedeutung von Malerei in der heutigen Welt wurde im Film Inizio, 2021 erarbeitet. Ähnlich ungeschliffener Schweißnähte einer Metallplastik verleugnen die gezeigten Gemälde weder ihren (fotografischen Palmen-)Hintergrund in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Ereignissen noch ihre Arbeitspuren als Verweis auf zeitliche Handlung. Die Arbeiten auf Zeitungsfrontseiten erscheinen wie skizzenartige Chiffren aus den persönlichen Beobachtungen von Menschen im Alltag(sgeschäft) – in Bezug zu weltpolitisch wahrgenommenen Ereignissen. Nur unter Abschottung aller Informationen vom Rest der Welt und der Blindheit gegenüber offensichtlichen gesellschaftlichen Probleme wären schlussfolgernd sorgenfreie paradiesische Landschaften langfristig zu genießen. Die Darstellung dieser Desillusion mit viel Mehrwert zu verkaufen, würde vielleicht Karl Marx konsequent gefunden haben.
Der Schwede Ruben Östlund erzählt in Triangle of Sadness von Klassen- bzw. Überlebenskonflikten, wie schon 2019 der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho in seinem Film Parasite. Östland erweitert die radikale, dystopisch-bissige Untersuchung der Klassen- und Geschlechterkonflikte in Bezug zu Machtverhältnissen und dem Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg. Beide Filme gewannen damit die Goldene Palme in Cannes, Östlund sogar seine zweite. Das Vergessen des Restes der Welt überbrücken die superreichen Reisenden einer Luxusjacht mit Alkohol, gutem Essen und mit der entschlackenden Seekrankheit sowie mit partieller Wohltätigkeit gegenüber ihrem Dienstpersonal (das im Mitteldeck die Internationale hört, die Allüren der Gäste auch mit Alkohol und mit der Hoffnung auf viel Trinkgeld erträgt – hier ohne geschärften Geschlechterkonflikt. Und im Unterdeck mit uniformiertem, mehrheitlich weiblichen asiatischem vermeintlichem Stoismus) sowie mit Zitate-Wettbewerb über den Kapitalismus im Untergang zweier sorglos sich betrinkender weißer Männer, bis sich das Blatt vorläufig wendet.
Die Arbeiten von Mona Hatoum – eine in London und Berlin lebende, palästinensische Künstlerin – deren Wirken im letzten Jahr gleich von drei Berliner Institutionen2 gewürdigt wurde, sind für mich beeindruckend klar und präziser. Sie bilden u. a. prekäre Zustände ab, zeigen die Auswirkungen von Machtverhältnissen als emotionale Gratwanderungen der Existenz zwischen Stabilität und Chaos auf, beleuchten den Exilzustand in Bezug zur weiterhin unmenschlichen Welt und zielen stärker auf den Sinn des eigenen Tuns ab und damit auf die eigene Verantwortung.
Die aus der Wahrnehmung gesellschaftlicher Konflikte entstandene Theorie und Vision von Marx (und Engels) stößt bei der Umsetzung auf menschliche Besonderheiten und Herausforderungen des jeweils temporären Zustandes des Systems, denen künstlerisch mit genauer Erforschung, Reflexion und Vision begegnet werden kann. Bettina Wegner, eine aus der DDR ausgebürgerte Liedermacherin mit kommunistischem Hintergrund, hat 1980 sich selbst mit Pathos „Gebote“auferlegt – ein praxisnaher menschlicher, im Ergebnis zu diskutierender Ansatz für eine veränderte (transformierte) Gesellschaft, an dem sich jeder und jede messen könnte.3


1. Johannes Hartmann, Graffiti auf dem Hamburger Bunker, 1981
2. nGbK, Georg Kolbe Museum, KINDL-Museum
3. https://www.youtube.com/watch?v=jvEgGhQDFgk
Siehe auch Lutz Pehnert: Bettina, 2022, Dokumentarfilm







Volkslied
Für Bettina W.

Zwischen Dir und mir die Tür
die Grenze, das Meer, Land
verlogen, verrannt
viele Bäume biegen sich
lassen Blätter wie Federn
entgegen dem Licht
die Ränder wechseln nicht
nur tiefe Wurzeln halten
könnten das Glück verwalten
Samen, Sporen verzogen
verwehen zu fast freiem Boden

Vermint Dein Blick mit Haben
Und das Selbst lieben
Voller Pfeile, Tore, Maschinen
Anders sein, ist geblieben.

Könntest Du ein Vogel sein,
Dann wäre ich nicht mehr allein
Spräche deine Sprachen
träumte weg die Blutlachen
Wärest Du ausgegangen,
hätte Ich dich gefangen
getragen wie die Beute das Tier
Mit dem Verlangen nach Dir und mir
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