Eine/r von hundert

Tagebuch aus dem Berliner (und Kölner) Sommer bis Winter 2022/2023

2023:Februar // Eine/r von hundert

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02-2023

13.7.2022 Literaturhaus
Isabelle Graw stellt im Gespräch mit Helene Hegemann ihr neues Buch Vom Nutzen der Freundschaft vor. Das Haus ist ausverkauft. Graw sieht strahlend aus, füllt den Raum mit ihrer Präsenz, ihrer Eloquenz und Wachheit. Sie hat dabei gleichzeitig etwas Angestrengtes, wirkt ein wenig streberhaft in ihrem Bemühen Gefallen zu wollen. Dabei teilt sie in Richtung des männlichen Geschlechts ordentlich aus.
Als sie einige Textstellen vorliest, finde ich, dass sie das gut macht mit dem persönlichen Ton und der gleichzeitigen Rückbindung an Philosophen und Vordenkerinnen. Ihr Ansatz: „Für das Buch habe ich mir vorgenommen, die sonst sorgfältig getrennten Ebenen ‚Analyse‘ und ‚Emotion‘ in diesem Projekt kurzzuschließen“, führt dazu, dass sich voyeuristisches Interesse mit der Neugier auf ihre Beschreibung des Konzept der professionellen Freundschaft vermischt, das im Kunstfeld so unerlässlich für die Karriere ist und gleichzeitig Ausbeutung und Machtverhältnisse mit sich bringt. Am Ende bleibt eine merkwürdige Gleichzeitigkeit zurück, weil sie ihre mitunter harsche Kritik mit einem Lächeln vorträgt; weil sie strukturelle Probleme anspricht, aber hauptsächlich um sich selber kreist; weil sie einen persönlichen Ton anschlägt, aber sich durch das Zitieren diverser Referenzen absichert (und unverständlicherweise auf ein Quellenverzeichnis verzichtet).


20.11. 2022 auf der Art Cologne
Der Prinz der Art Cologne 22 schwebt in Noppenfolie über den Teppichboden-Boulevard der Halle 11.3. Aus dem Verpackungsmaterial der Kunstwerke hat er sich sein Wams kreiert und dem violetten Zepterstab mit einer Plastiktüte eine gelbe Krone aufgesetzt.
Wie ernst nimmt man den polnischen Performance-Künstler mit seinem Kostüm in der Karnevalshochburg Köln? Adam Ritzke, der seine Aktion Trashformance nennt, wurde von der what remains gallery (Krakau, München, Köln) ausgesandt, seit 2009 Raum zur „Untersuchung und Transformation des bereits Vorhandenen“.
Vor einem Jahr genau starb der Künstler Jimmie Durham in Berlin. Seine Stein-Skulptur steht in der Koje der Galerie Christine König (Wien). Ein echter, ansehnlicher Felsbrocken auf einem Sockel. Dazu ein Text über Zeit und Raum eines Felsens an der Wand. „Isn’t it beautiful?“ Jimmie Durham wäre der Künstler der Stunde, wollte man eine neue umweltorientierte künstlerische Generation entdeckt haben. Doch Durham gehörte einer anderen Generation an, die bereits in den Siebzigern den Einklang mit der Natur suchte. Von ihm gab es schon lange Skulpturen und Kunstobjekte aus Verpackungsmaterial.
Aber wo sind sie nun die neuen Umweltorientierten? dittrich & schlechtriem bemühen sich mit präzise formulierten Info-Kärtchen, den Kaufwilligen komplizierte Hintergründe der ausgestellten Arbeiten zu vermitteln. Andreas Greiner scheint ein Volltreffer zu sein für Menschen, die in „Green Art“ investieren möchten. Dass Kunst nicht unsichtbar klein und bescheiden bleiben sollte, hat er von seinem Mentor Olafur Eliasson mitgenommen. Wie Durham folgt aber auch er außerhalb der Kunstwelt seinen Überzeugungen und setzt sich in aufwändigen Projekten zum Beispiel für die Aufforstung von Wäldern im Harz ein. Mit seinen neuen Studierenden möchte er, wie man im Semesterprogramm der Muthesius-Kunsthochschule erfährt, die Ausdehnung von Kunst auf Naturphänomene weiter erörtern. „Kreativität ist eine evolutionäre Kraft und offenbart sich auch in nicht-menschlichen Lebewesen als nicht-menschliche Kunst. Kunst ist Natur. Welche Art von Kunst macht uns glücklich und sichert unser Überleben?“
Man kann die Art Cologne ganz auf historischen Pfaden erwandern. Die millionenschweren Gemälde des Expressionismus und der Moderne regieren neben den New Positions in den Förderkojen. Physisch ist zu spüren, wie die Patina eines 100 Jahre alten Bildes von Willi Baumeister aus der Reihe Maschine und Mensch dem Sujet zu mehr Gewicht verhilft. Apoll, der Gott des Lichts, der zu Beginn der Moderne den Neuen Menschen repräsentierte, ist geglättet, fast wie aus einem Schnittmuster entstiegen, eine elegante Form in zwei Dimensionen. Ja, in Berlin hat wirklich fast niemand mehr schiefe Zähne, aber ironischerweise muss sich der Mensch von heute mit diesen elementaren Bedingungen des biologischen Lebens auseinandersetzen: Feuer, Wasser, Luft.
Ist man einmal mit dem klima-aktivistischen Blick gestartet, scheint selbst die Vertretung der 60er Jahre-Aktionisten bei der Galerie Konzett (Wien) wie eine Erinnerung an die unvermeidliche Physis zu winken. Als eine „Feier des Lebens“ möchte der Galerist die Aktionen verstanden wissen, von „Persönlichkeiten, die wie Intellektuelle ihre Kunst auf einem enormen Wissen aufbauten“. Auch an seinem Stand finden wir „Müll“ in Form von silbernen Folien, die von Rudolf Polansky zu einer Collage recycelt wurden. Letzterer ist ebenso vertreten mit Sitzbildern, die er mit Farbe am Hintern zustande gebracht hat – um eben das überfüllte Hirn auszuschalten.
Wütend, wild und frech sind auch die Übermalungen des Arnulf Rainer sowie andere Zeugnisse gelebten Lebens und einer Leidenschaft, die irgendwie aus einer bestimmten Konzeption von Mann und Künstler entstanden sind, die uns heute historisch und befremdlich vorkommt.
Die Kunst im Rheinland. Wie zum Weihnachtsmarkt strömen die blondierten Seniorinnen mit Lippenstift zum Rundgang der Düsseldorfer Kunstakademie oder eben zur Art Cologne. Ja, das Geld ist unterwegs. Aber auch die, die weit davon entfernt sind, sich ein Kunstwerk kaufen zu können, lieben dieses gesellschaftliche Ereignis. Dieses Jahr endlich wieder ohne Maske mit dem berühmten Lächeln, den Bützjern und Umarmungen unter Freunden.


Ende Dezember 2022, zu Hause
Ich finde endlich Zeit, mir die Dokumentationsvideos des Kongresses zur Zukunft der Kritik anzuschauen, der an zwei Wochenenden im November in Bonn und Berlin stattgefunden hat, organisiert von Kolja Reichert, Kurator für Diskurs der Bundeskunsthalle, und Angela Lammert von der Akademie der Künste. Ich hatte im Vorfeld ein Gespräch der beiden im Journal der Künste gelesen, in dem konstatiert wird: „Es fehlt an finanzieller Unterstützung für freie Kritik: kein Kritikerfond, kaum Kritikerpreise, keine Corona-Hilfen für Kritiker*innen oder Kritik. Angesicht der Digitalisierung werden neue Schreibformate erprobt – ob in selbstorganisierten viralen Netzwerken oder durch die künstlerische Antizipation kollektiver Praktiken wie bei Memes. Wo aber bleibt das Expertenurteil und das Sprachspiel, wenn alle schreiben?“ Ich denke: in der von hundert! Und frage mich, warum von uns Autor*innen niemand beim Symposium dabei ist, sondern Big Names wie Niklas Maak und Julia Voss, die aus einer sehr etablierten/privilegierten Position sprechen und schreiben – ebenso wie viele der Akademie-Mitglieder. Als ich mir einige der Videos anschaue, checke ich, dass es gar nicht nur um Kunstkritik geht, sondern um Kritik allgemein, und dass neben Kunst auch Architektur, Theater, Musik diskutiert werden. Das führt dazu, dass ich alles interessant, aber nicht so wirklich ansprechend (im Sinne von mich betreffend) finde. Und mich frage, wer hat so viel Zeit, sich das alles anzuhören? Ich jedenfalls nicht (siehe Zitat oben).


21.1.2023 Linienstraße, ifa
Bei der ifa-Tagung sind auch zwei ehemalige Mitarbeiter des Zentrums für Kunstausstellungen der DDR dabei, deren Bestand zum 1. 1. 1991 der ifa übertragen wurde. Es ist offenbar das erste Mal seit 32 Jahren, dass sie vom ifa eingeladen wurden und ein Dialog stattfindet. Die Tagung ist der Abschluss eines zweiteiligen Ausstellungsprojektes, dessen Ziel eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bestand der ifa war. Was dabei ans Licht kam, war die Tatsache, dass viele der Werke aus dem Bestand des ZfK noch nie ausgestellt wurden und quasi ein Schattendasein fristeten – auch was die Aufarbeitung und Digitalisierung betrifft. Peter Hartmann und Hans-Jörg Schirmbeck jedenfalls erzählen von ihrer Arbeit am ZfK und der guten Ausstattung des Hauses mit Mitarbeiter*innen und Geldern, und enden mit dem traumatischen Ende durch die Übernahme der ifa. Das Treffen, sagen sie, wäre sehr unschön und ohne jegliche Perspektive für die ehemaligen ZfK-Mitarbeiter*innen verlaufen. Zwar wären dann einige Mitarbeiter*innen übernommen worden, aber nur aus dem Bereich Technik, Organisation, niemand aus dem Stab der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, die wertvolles Wissen über die Werke und die Ausstellungspraxis hätten weitergeben können. Wenn heute oft behauptet wird, es gäbe keine Informationen, dann hat dies eben auch damit zu tun, dass sich weder die Zeit noch die Mühe gemacht wird, zu recherchieren – oder den Kontakt zu suchen. Das setzt sich bis heute fort, wenn zwar die Digitalisierung des Bestandes vorangetrieben wird, aber zum Beispiel die Karteikarten, auf denen die Ausstellungsstationen verzeichnet sind, nicht mit digitalisiert werden.
Die jahrzehntelange Ignoranz und Abwertung hat Spuren hinterlassen und man kann verstehen, warum die beiden Herren bemüht sind, das ZfK positiv darzustellen, obwohl sie um die Widersprüche der Institution wissen. Man merkt ihnen, die es geschafft haben, weiter im Kunstfeld zu arbeiten, die Verletzung an, die diese Erfahrung hinterlassen hat.
Als ich beim Abendessen neben einem der beiden sitze, kommen wir noch einmal auf den Bestand zu sprechen. Wer wurde von ZfK ausgestellt und angekauft? Vorwiegend Künstler*innen aus dem Verband Bildender Künstler. Doch wer war dort organisiert? Doch vor allem die staatskonformeren, während der Untergrund, also die Prenzlauer-Berg- Szene um Cornelia Schleime und Tina Bara oder die Erfurter Gruppe um Gabriele Stötzer dort nicht vorkamen. Ist es also einerseits gut, den Bestand das ZfK zu heben und auszustellen, muss man ihn zugleich kontextualisieren und in Bezug setzen zu denen, die damals vom VBK ausgeschlossen waren und vom langen Arm der Stasi (so der Titel von Stötzers neuem Buch) an ihrer Arbeit gehindert wurden.


25.1. 2023 im Büro
Irgendwie vergesse ich das immer wieder, aber jetzt, als ich in der Texte zur Kunst blättere und sehe, dass TzK 300.000 Euro an den Karuna e.V. spendete (d.h. ich sehe es nicht, ich rechne, denn TzK hat bestimmt die komplette 110er-Auflage der 9.800 teuren Richter-Edition verkauft und versprochen 30% der Erlöse zu spenden) fällt mir wieder auf, wie die Kunstszene in der Obdachlosenzeitungsszene sitzt. Ich selbst habe ja jahrelang die motz layoutet und gar nicht schlecht verdient (wir bekamen anfangs, Ende der 1990er Jahre, 2000 DM pro Ausgabe, mittlerweile hat sich das aber halbiert und ich bin eh raus).
Karuna e.V. ist natürlich mehr als nur die Karuna Kompass-Zeitung mit Astrid Mania als Chefredakteurin, und der Verein hilft Straßenkindern und hat etliche Präventivmaßnahmen im Angebot.
Aber weil auch Arts of the Working Class (hey, haben wir nicht hier gerade ein Klasse-Spezial) von eher weniger aus der Arbeiterklasse heraus gestaltet und herausgegeben wird (der Verkauf natürlich schon), sondern eben auch von der Kunstszene mit María Inés Plaza Lazo als Chefherausgeberin dirigiert wird, frage ich mich, ob hier nicht schon immer eine clevere Fördertopftaktik am Start ist. TzK spart jedenfalls Steuern (135.000) und entscheidet selbst wo das Geld hinfließt.
Vielleicht sollten wir die von hundert doch auf Zeitungspapier drucken und von der, nennen wir sie „Arbeiterklasse“, verkaufen lassen, sie heißt dann hunderte von hunderttausend und wir werden ein gemeinnütziger Verein. Spenden und Förderungen willkommen.


10.1.2023 spätabends im Büro
Künstler die König verlassen haben:

Monica Bonvicini
Jorinde Voigt
Katharina Grosse
Elmgreen Dragset
Jeremy Shaw
Camilla Engström
Corinne Wasmuth
Daniel Arsham
Zhanna Kadyrova

Hier noch eine Miniliste aller bei Johann König ausgetretenen Künstler*innen. Eine Gruppe unter dem Namen Soup du Jour übte seit der Veröffentlichung des Artikels über Johann Königs Verfehlungen Druck auf die von ihm repräsentierten Künstler*innen aus. Den Anfang zum Ausstieg machte ­Monica Bonvicini. Es folgte mit u.a. Katharina Grosse, ­Jorinde Voigt und Elmgreen&Dragset sicherlich ein zweistelliger Millionenumsatz, der die Galerie verließ. Dass König schon immer ein koksender, übergriffiger Typ war, sah bestimmt jeder und jede, die jemals auf einer seiner After-Show-Partys war. Aber er ist auch nicht der oder die Einzige im Kunstbetrieb, wo Erfolg, Geld und Drogen, gepaart mit unstabilen psychischen Grundkonstruktionen unschöne Grenzüberschreitungen verursachen. Und ja, ich will hier relativieren, in Relation setzen. König überschritt nach jetzigem Stand niemals die strafrechtliche Grenze und wäre wohl auch sonst gesellschaftlich-moralisch einhegbar gewesen im Sinne von „Johann, du Idiot, sowas macht man nicht“. Das Tolle am Strafrecht ist, dass eine gewisse Objektivierung und gesellschaftliche Einigung über viele Rechtssprechungen und Gesetzgebungen vorausging und nicht eine selbstermächtigte Gruppe andere verurteilt und das Umfeld in Sippenhaft mit einschließt. Die Rechtssprechung zieht gesellschaftlichen Entwicklungen mit zeitlicher Verzögerung nach, auch wenn diese von den lautesten Gruppen vorangetrieben werden, aber das dauert und es wird auch noch stark abgewogen (man erinnere sich an die Waage und die verbundenen Augen der Justitia (Neu­tralität)), jedenfalls sind wir noch nicht in den USA, wo jeder falsche Satz vor Gericht landet. Das Strafmaß, das im Falle von König jetzt der mögliche Ruin sein könnte, muss bei unserer Judikative bleiben.
Dass sich mittlerweile die sogenannte Vierte Gewalt, also der Journalismus und die Medien, auf die ganze, in sozialen Medien agierende Gesellschaft ausgebreitet hat und dies auch wieder rückwirkt auf die Seriosität eben dieser klassischen Medien, wirft unser gesellschaftliches Miteinander, unser Commitment eher wieder zurück und wir landen auf dem mittelalterlichen Marktplatz, nur dass der heutzutage riesig ist.
Die von hundert als Beispiel agiert mit ihrem oft persönlichen Ansatz, Dinge öffentlich und transparent zu machen und zu bewerten auch im Grenzbereich zwischen Seriosität und Polemik. Niemals würden wir jedoch Macht ausnützen (falls wir sie jemals hätten), um andere zur Strecke zu bringen. Einmal, weil wir die Macht gar nicht anstreben, zum anderen weil das, wenn nötig, wie gesagt Aufgabe von Gerichten sein sollte. Die Artikel über Kirsa Geiser (Index-Machtmissbrauch, Ausgabe 06/2009), neugerriemschneider („Strippenzieher“, 07/2011) oder Rüdiger Lange („Immobilien-Connection“, 12/2018) mögen anklagend gewesen sein, auch verletzend, aber nicht vernichtend.
Ich habe nichts gegen Moral und auch nichts gegen Moralisieren, im Gegenteil, ohne Moral würde unsere Gesellschaft so nicht existieren. Aber allumfassende soziale Ächtung und Ausschluss hat noch nie etwas gebracht. Und ein Zeigefinger ist etwas anderes als ein Schafott auf dem die Existenz hingerichtet wird. Don’t hunt them down. Ein Galerist ohne Künstler ist kein Galerist mehr, vorallem wenn niemand mehr die verbliebenen Reste bei ihm kauft.
Zu Bedenken gab mir noch der Satz eines Bekannten: Solltest du dich pro König äußern, kannst du gleich dicht machen. Wie bitte? Wir schauen mal …

Isabelle Graw und Helene Hegemann, Foto: Literaturhaus Berlin