Manaf Halbouni

Monument

2018:März // Peter K. Koch

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03-2018

Kontextverschiebungen

Die Strategie der Kontextverschiebung ist eine in der zeitgenössischen Kunst sehr verbreitete und nicht selten ist sie auch eine sehr wirksame. Es ist immer wieder spannend zu beobachten, was mit Dingen passiert, die ihrer tatsächlichen Bestimmung enthoben und in eine Situation transferiert werden, die unerwartet ist und beim Betrachter neue und mitunter waghalsige Gedanken ermöglicht. Wenn zum Beispiel ein einfaches Fahrradrad auf einen ebenso einfachen weißen Schemel montiert wird und es dann vom Autor dieser Vereinigung kurzerhand zur Kunst erklärt wird. Kennen wir natürlich alle, klingt aus heutiger Sicht relativ lapidar, war aber faktisch eine intellektuelle Meisterleistung und kunsthistorische Revolution. Ein Akt radikaler Freiheit. Als selbstbestimmtes Individuum hat man die Möglichkeit, diese radikale Freiheit in der Kunst zu suchen, was bei manchen schon eine Lebenswelt voraussetzt, die an sich ziemlich frei ist. Man kann natürlich auch mithilfe der Kunst nach einer Freiheit suchen, die es in der realen Lebenswelt möglicherweise so nicht gibt, um so verändernd zu wirken. Oder man sucht vollkommen ohne Kunst nach Freiheit, weil man zum Beispiel in einer komplett unfreien Lebenswelt lebt, konfrontiert mit Repression und Ungerechtigkeit. Das letztere war und ist der Fall in Syrien. Und wir alle beobachten, mit dem Abstand derer, die in sicheren Verhältnissen leben, was tagtäglich in Syrien passiert, wie das Streben nach individueller Freiheit in den Kollaps führen kann, wie sich aller Optimismus in eine einzige Apokalypse verwandeln kann. Wie ein Traum verbrennen kann.

Ein Linienbus ist in erster Linie ein Verkehrsmittel, das überwiegend dem innerstädtischen Transport von Menschen dient. Im sogenannten öffentlichen Personennahverkehr. Entstehen aber innerstädtische Umstände, die dazu führen, dass gar kein Personennahverkehr mehr stattfinden kann, weil kein Bus mehr einsatzbereit ist, weil die Busse ausgebrannt sind oder zerschossene Reifen haben, oder weil es einfach kein Benzin oder keine lebensmüden Fahrer mehr gibt, oder weil es als Passagier schlichtweg wahnsinnig wäre, sich der ständig lauernden Lebensgefahr auszusetzen, wenn man in einem Bus von A nach B gelangen will. Kommt es zu so einer scheußlichen Situation, dann kann es sein, dass aus dem Transportmittel Bus ein Schutzwall Bus wird, der nun rein gar nichts mehr mit seinem ursprünglichen Einsatzzweck zu tun hat. Der Bus, jetzt reifenlos und aufrechtstehend, ist in einen neuen Kontext gesetzt worden. Transformiert vom öffentlichen Personennahverkehr zum öffentlichen Personenschutzwall. So geschehen in Aleppo, Syrien, wo drei aufrecht stehende Busse von den Bewohnerinnen und Bewohnern als Schutz vor Scharfschützen genutzt wurden.

Wenn man dann wiederum drei fahruntüchtige Busse, die den drei hochkant aufgestellten Bussen in Aleppo ähneln, in Deutschland aufstellt, um genauer zu sein, in Dresden vor der Frauenkirche, dann ist das eine weitere weitreichende Verschiebung des Kontextes. Es handelt sich nämlich plötzlich weder um funktionierende Transportmittel noch um einen lebensrettenden Schutzwall, sondern schlicht und ergreifend um eine Skulptur, um ein Kunstwerk. Gedacht als Monument, als Mahnmal, das an Bedrohung, Kampf, Tod, die tägliche Verunsicherung und das Verbrechen in Syrien erinnern soll. Errichtet an einem Ort, der ebenfalls für die zerstörerische Kraft des Krieges steht. Dresden, Neumarkt. Wir alle wissen, wie stark Dresden am Ende des zweiten Weltkriegs zerstört wurde, spät zwar, aber dann verheerend, von der Frauenkirche und der Altstadt nichts übrig als ausgebrannte Ruinen. Die Frauenkirche ist seit Jahren wieder aufgebaut, der ganze Neumarkt strahlt in neuem Glanz, hinter den historisierenden Fassaden der Stadthäuser verbergen sich heute teure Eigentumswohnungen oder schicke Hotels. Hört man den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt zu, bekommt man schnell ein Gefühl dafür, welch emotionale Beziehung die Dresdnerinnen und Dresdner zu ihrer neuen Mitte haben. Ein emotionaler Mix, der einerseits mit der relativen Bedeutungslosigkeit der Stadt zu tun hat, die nach dem Verlust ihres Status als Residenzstadt nie wieder auch nur annährend den Stand erlangt hat, den sie im Barock hatte. Anderseits spielt auch der verspätete Wiederaufbau eine Rolle. Hatten westdeutsche Städte wie Frankfurt am Main (Römer) oder Köln (Altstadt) das Glück, dass sehr viel früher das nötige Geld für einen teilweisen Wiederaufbau der historischen Stadtkerne vorhanden war, so musste Dresden sehr lange auf diesen Moment warten und in der Zwischenzeit mit den Ruinen leben. Der Zwinger und einige andere Barockperlen waren in Ordnung gebracht worden, aber an das Mammutprojekt Frauenkirche und Neumarkt hatte sich die DDR nicht herangetraut, warum auch, schließlich handelte es sich ja um eine Kirche. Wer braucht das schon im Sozialismus, wo das Kollektiv die eigentliche Kirche ist. Es war auch einfach nicht genug Geld da, um das Projekt zu stemmen.

Bewegt man sich durch Dresden, wird einem recht schnell bewusst, welch pittoreske Bürgerlichkeit diese Stadt in großen Teilen ausmacht und wie selbstbesoffen und engstirnig Menschen ihre eigene Geschichte wahrnehmen können, wie stabil das barocke Erbgut in den Genen der Bewohnerinnen und Bewohner verankert ist und mit welcher Leichtigkeit dieses Erbgut die ebenso strapaziöse wie kurze Episode des Sozialismus überdauert hat. Dieses Erbgut der niederen Wahrnehmung zeigt sich heute in einer weithin sichtbaren Intoleranz gegenüber des Andersartigen und jedweder gefühlten Einmischung in eben diese pittoreske Gemütlichkeit, die wahrscheinlich nur hier in dieser Stadt ihre vollständige Blüte erlangen konnte. Was sicher auch damit zu tun hat, dass Dresden von jeher geografisch so liegt, dass es, hat man einmal die Stadtgrenze nach Süden übertreten, nur noch nach Nirgendwo geht. Was natürlich nur stimmt, wenn man das Erzgebirge als ein solches Nirgendwo bezeichnet, was ich mir in diesem Text erlaube. Die meisten Menschen, die Dresden per Zug verlassen, steigen erst in Prag wieder aus.

Und damit komme ich zurück zur Kunst und dem Aufruhr, den die – und diese Tatsache muss hier fett unterstrichen werden – lediglich temporäre Installation des Monuments von Manaf Halbouni vor der Frauenkirche in Dresden ausgelöst hat. Ohne das vorherige Einlesen in die Dresdner Seele ist der Aufruhr schwer zu erklären. Die von Pegida und der Identitären Bewegung stammenden Kampfablehner dieses so eindrucksvollen wie starken und wichtigen Kunstwerks haben es als unerträglich empfunden, dass ihre Frauenkirche durch dieses Etwas, das sie offensichtlich verachten, entstellt wird, dass ihr schöner Neumarkt verschandelt wird und insbesondere, und das ist das eigentlich Pikante, dass der Jahrestag des Gedenkens an die Dresdner Zerstörung im Februar 1945 durch die Anwesenheit eines Kunstwerks entweiht wird, das an die Zerstörung einer Stadt erinnert, nur das diese Stadt eben eine syrische ist. Diese Tatsache an sich ist schon so fatal, dass es schwer fällt sich etwas Engstirnigeres und Dümmeres vorzustellen.

Obwohl ich grundsätzlich überzeugt bin, dass eigentlich jede gesellschaftliche Kontroverse, die ein Kunstwerk auslöst, in erster Linie eine gute ist, bin ich mir in diesem besonderen Fall nicht so sicher, weil diese Geschichte noch eine weitere Kontextverschiebung bereithält, denn das Monument ist nun nach Berlin gekommen, wo es im Rahmen des „Berliner Herbstsalons“ im Auftrag des Maxim Gorki Theaters für einige Zeit errichtet worden ist: Vor dem Brandenburger Tor, auch hier handelt es sich um einen symbolträchtigen Ort, auch dieser Ort steht für Krieg, Zerstörung und Teilung. Andererseits hat auch dieser Ort, wie der Neumarkt in Dresden, eine zweite Geschichte zu erzählen, nämlich die Geschichte von Wiedervereinigung, Aufbau und Hoffnung. Ganz im Gegensatz zu den Dresdnerinnen und Dresdnern scheinen die Berlinerinnen und Berliner mit dem Monument ganz anders umzugehen. Keinerlei Ablehnung ist zu spüren, kein Hass und kein Geschrei, eher eine leichte Gleichgültigkeit und großstädtische Akzeptanz. Vielleicht handelt es sich auch einfach nur um die legendäre Berliner Kaltschnäuzigkeit, frei nach dem Motto: Die BVG macht Werbung fürs Schwarzfahren! So what!? Ein nackter Bär verkauft Opium vorm Kanzleramt! So what!? Drei Busse stehen hochkant vor dem Brandenburger Tor! So what!?

Ruft also das gleiche Werk mit der gleichen Message an einem Ort (Provinz) kochende Empörung hervor, so kann es an einem anderen Ort (Metropole) gleichzeitig stille Gleichgültigkeit hervorrufen, was jetzt sicher eine etwas überspitzte Darstellung ist, denn weder war in Dresden nur Empörung, sondern ebenfalls heiße Unterstützung – und in Berlin sind auch nicht alle gleichgültig, aber was glasklar zu Tage tritt, ist die einfache Tatsache, wie entscheidend der gesellschaftliche Kontext für dieses Werk ist. Und genau deswegen fällt eine Bewertung auch so schwer, denn die eigentliche Qualität des Werks schwankt ja nicht, es ist ja noch dasselbe, sondern lediglich die Qualität und Quantität der Rezeption. Ist die Kontroverse rund um das Werk hitzig, so wie in Dresden, dann garantiert das Aufmerksamkeit und hilft womöglich bei der Verbreitung der werkimmanenten Information, allerdings sind die vorgebrachten Gegenargumente innerhalb der öffentlich geführten Auseinandersetzung oft schwer erträglich. Bleibt die Kontroverse rund um das Werk aber weitgehend aus, wie in Berlin, dann schwächt dies auch die Brisanz der Message ab, was allerdings insgesamt auf eine aufgeklärtere und tolerantere Gesellschaft deutet. Was will man also haben? Wir haben es zweifelsohne mit einem großartigen Kunstwerk zu tun, der Kontext bleibt aber der entscheidende Faktor für seine Wirksamkeit. Vom Bus als Transportmittel über den Bus als Schutzwall zum Bus als Skulptur in Dresden und als Skulptur in Berlin.