Die Neunziger Jahre

– oder die banale Versöhnung der Antagonismen im Spektakel.

2018:März // Matthias Raden

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03-2018

Eine situationistische Betrachtung

Ach, die 90er, denke ich und eine Vielzahl von Bildern und Eindrücken erscheint. Vielstimmig, schrill, disparat, Hochstimmung nach 1989 und die ersten Reisen in die neuen Bundesländer, die Diskussion, was von der DDR zu retten sei, aufgerissene Erdkruste im Braunkohlerevier, triste LPGs im weiten agrarischen Ödland, Immobilien und Unternehmen, die auf die rechtliche Klärung der Eigentumsverhältnisse warten. Autobahnbau und die an den Prenzlauer Berg drängende neue Szene.
Schrille bauchfreie Discofarben, die Eroberung der Straße durch die Spaßkultur, Technoglitzer für alle. Die Exkremente, der trübe Dreck nach einem Rave zum elektronischen Beat im Tiergarten. Ja, die 90er mit ihrem Fernsehserienfieber: Baywatch in Teenieträumen.
Im Kontrast dazu die Bilder, die den militärischen Einsatz der USA im Irak legitimieren. Die Metapher, die aus der militärischen Intervention ein Naturereignis macht: Desert Storm. Der Zusammenbruch der sozialistischen Ideologie-Träger, Jugoslawien nach Tito, das Morden im Kosovo. Flüchtlingsinitiativen bescheren das wohlige Gefühl der allgemeinen Hilfsbereitschaft, das Unverständnis über die kriegerischen Nachbarländer, Ernüchterung über die Verarbeitung der Vergangenheit. Hoyerswerda und Mölln! Sind wir nicht die Friedlichen, die Fleißigen, die Netten, die Guten, Moral hoch 2? Die Philosophie darf ein Roman sein, Sofies schöne Welt.
Die Globalisierung im digitalen Netz stolpert der Jahrtausendwende entgegen. Handys mit Clip am Badehosenbund summen auf italienischen Stränden, das neue Symbol zeitgemäßer Kommunikation. Die großen Verweigerungen der Vorjahre sind nur noch dumpfe Revolte. Düsternis paart sich mit dem Erlöserruf nach Spaß. Wo klingt das besser, authentischer als bei Nirvana. Die Stimme des unwiderstehlichen Pop-Helden Kurt Cobain. Im letzten Februar wäre er 50 geworden. Seine coolen Sprüche sind Grunge-Lebensweisheiten für diejenigen, die anders sein wollen: „Ich bin nicht wie die anderen, aber ich kann täuschen.“ Seine fatalistische Lust an provokanter Dekadenz: „Niemand stirbt als Jungfrau … das Leben fickt uns alle.“ Und sein ironischer Alarmismus: „Vögel schreien aus tiefster Lunge in entsetzter, höllischer Wut jeden Morgen bei Tagesanbruch, um uns vor der ganzen Wahrheit zu warnen, aber leider sprechen wir nicht ‚Vogel‘.“ Dazu empfehle ich natürlich den Nirvana-Song Smells like Teen Spirit. ­Michael Jackson weggefegt von der Nummer 1 der amerikanischen Charts! Nevermind! Wer kennt nicht das legendäre Album! Vergiss es!
Ach, die 90er, sinniere ich. Vertraut sind sie, wohl auch weil sie uns die Schleife der Wiederholung, die scheinbar ewige Wiederkehr des Verdrängten, das Zitat, den Mythos und seine Entlarvung so sympathisch vergegenwärtigen. In der Fülle nehme ich ein großes Spektakel wahr. Die voranschreitende Digitalisierung globalisiert die Spektakel, die Ununterscheidbarkeit von Schein und Wirklichkeit, Original und Zitat, das Gesagte und das Gemeinte. Die faszinierende Täuschung. Ein Buch über optische Täuschungen (Das magische Auge) wird zum Bestseller. Die Kunst der Avantgarde ist multimedial. Die documenta zeigt sie stolz im Jahr 1992 mit neuem Besucherrekord.
Was verraten mir die Worte und Unworte in ihrem geschwisterlichem Streit: 1991 Besserwessi und ausländerfrei; 1992 Politikverdrossenheit und ethnische Säuberung, 1993 Sozialabbau und Überfremdung. Diese Begriffe zeugen von camouflierten Unsicherheiten und sie dokumentieren ein Selbstverständnis im wiederkehrenden Tabubruch. Einheit und Spaltung, Internationalismus und Nationalismus, Reisefieber und Fremdenhass. Breit aufgespannt. Eine Spracharena im Diesseits von Gut und Böse, gekürt von der Gesellschaft für deutsche Sprache.
Aufbruch und politische Formiertheit, die ohne Charisma, ohne Brillanz von einem Kanzler Helmut Kohl in zwei Jahrzehnten bis ins Jahr 1998 getragen wird. Er scheint das Kanzleramt in heimlicher Erbfolge innezuhaben. Woran erinnert mich das heute? Die politische Macht in Deutschland hält das vielfältig Dissoziierte zusammen. Ist behäbig und unspektakulär. Im Spiel der Akzeleration, in der Angst vor der globalen Komplexitätslawine genieße ich den langsam schleppenden Schritt der politischen Führung – wenigstens diese überrascht uns nicht, auch dann nicht, wenn sie uns täuscht.

Was wird aus uns?
Mit Beginn des letzten Jahrzehnts des vergangenen Jahrtausends – welch epochales Pathos lässt sich hier schon hochziehen – scheinen die sozialistischen Utopien ausgeträumt. Vom Marxismus befreien sich die Seminare der Politologen und Soziologen. Die Auflösung der sowjetischen Blockmacht und das Ende der politischen Litaneien aus dem Osten, die mit einer routinierten Langeweile den Sieg des Kommunismus beschwuren, lassen sehr viele Bürger aufatmen. Die Annäherung zwischen Ost und West wird von großen Wörtern begleitet: Freiheit, Selbstbestimmung der Völker, Frieden. Das kapitalistische Herrschaftsideal lockt mit einer möglichen Teilhabe der Fleißigen am Wohlstand. Hielten die Menschen der Bürgerbewegung doch Kerzen und nicht Waffen, versammelten sie sich doch in und vor den Kirchen. „Wir sind das Volk“ klang nach als friedliche Macht des lange entmachteten Souveräns. Wie schön! Revolutionen sind also friedlich möglich! Hier scheiterte nun die marxistische Revolutionstheorie. Die Arbeiter und Studenten der ehemaligen DDR können endlich die Seminare zum Marxismus-Leninismus vergessen. Die triviale Schwundstufe des Überbaus darf belächelt werden. Eben noch mussten sie die Parteitagsbeschlüsse der SED wie ein sozialistisches Bürgerbrevier aufsagen können. Never mind! Vergiss es einfach! Verschämt verstummen Marxismus-Debatten in den Hörsälen und verblassen im Zigarettendunst weniger Szene-Kneipen der neuen oder alten Linken.
Der dritte Oktober 1990 wird zum harmlosen, zum gutmütigen Nationalfeiertag ausgerufen. Die DDR tritt der Bundesrepublik bei. Es gibt sie fortan nicht mehr, die DDR – höchstens noch als Komödie, als verlängerte Illusion komatös Gestriger wie im Film Good bye Lenin oder produkt- und begriffsostalgisch mit Goldbroiler und Clubcola. 19 Tage später, wie wenig verwundert die Kontingenz, stirbt im Nachbarland Frankreich einer der größten Philosophen des Marxismus in der Psychiatrie, die er in seinen letzten Jahren kaum mehr verließ, nach einem Leben zwischen genialischem Denken und Abstürzen in den Wahnsinn manisch-depressiver Phasen: Louis Althusser. Klug, analytisch meisterhaft hatte Louis Althusser als Professor der École Normale den Marxismus von seiner Selbstüberschätzung befreien, ihm die Hybris der totalitären Gewinnerideologie nehmen wollen, indem er das Scheitern reflektierte und kritisch auf den Marxismus hin bedachte. Gering war seine Resonanz in Deutschland, außerordentlich war sie bis 1980 in Frankreich. Die Generation seiner Schüler emanzipierte sich teilweise wie die darwinschen Horden der vatermordenden Söhne. Hatte sich der Philosoph doch selbst mit dem Mord an seiner Frau in jenem Jahr vom Sockel begeben. Die Justiz konstatierte seine Unzurechnungsfähigkeit, seine Schuldunfähigkeit. Wer möchte sich zu diesem Denken bekennen, es fortführen. Es scheint erledigt. Zu den berühmten Freunden und Schülern zählen der brillante Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Alain Badiou, Régis Debray, Henri-Bernard Lévy, Philippe Sollers, Jean-François Lyotard. Bezeichnend ist für diese Folgegeneration die Abkehr vom Marxismus. Lévy, der anarchische Maoist, mutiert zum eloquenten Kolumnisten der neuen Rechten und freut sich über die begeisterte Bildungsfreude derer, die ihr konservatives oder neo-liberales Weltbild beim Lesen des Figaro auffrischen. Natürlich ist das eher zu genießen als der ideologische Wandel eines Horst Mahler, dessen verachtende Radikalität das einstige Gründungsmitglied der Rote-Armee-Fraktion Ende der neunziger Jahre als Neonazi und NPD-Sympathisant am rechten Rand der Gesellschaft ideologisch innerviert.
Der reputierte Literaturwissenschaftler und Autor Eric Marty überbietet mit seiner 1999 erscheinenden Schrift Louis Althusser, un sujet sans procès: Anatomie d‘un passé très récent die sich distanzierenden Schüler des Philosophen, indem er gegen Ende des Jahrzehnts den marxistischen Philosophen Althusser, den Mörder ohne Schuldspruch, eloquent aburteilt. Althussers Philosophie sei rationalisierter Wahnsinn. Der Mord sei die Aufhebung der Differenz von Körper und Geist. Althusser habe der verhassten Wirklichkeit den Kampf angesagt und folglich Hélène, seine Frau, die ihm wirklich nahe, die nahe Wirklichkeit, vernichtet. Marty löste mit seiner Veröffentlichung in Frankreich keine Kontroverse aus. Möge man den schweigenden Gebildeten zugutehalten, dass sie Martys simple Umkehrung der Gedanken Althussers durchschaut haben. Althusser definierte den philosophischen Materialismus als „Procès sans sujet“, als Prozess, als Bewegung ohne Subjekt. Das cartesische Ich ist für den Kritiker der idealistischen Philosophie die fiktive Setzung eines Anfangs. Dieses Ich hat – so Althusser - immer schon eine Geschichte, ist (im) Prozess.

Was will ich mehr?
Die radikalen Entweder-Oder-Vereinfachungen ­mögen sich dem Lob der Vielfalt, dem Überdruss an der Undurchschaubarkeit der Komplexität verdanken. Der Vielstimmigkeit, der Pluralität verschaffen in den 80er und 90er Jahren Philosophen wie Lyotard als Denker der Postmoderne das theoretische Fundament. Die Pluralisierung der Meinungen und Wahrheiten löst die gewaltsam empfundenen holistischen Diskurse der Psychologie, des Marxismus, des Existentialismus und der dem linguistic turn verpflichteten Philosophen ab. Das Ende der großen Geschichten wird ausgerufen. Ein postmoderner Jargon der weltgewandten Intellektuellen bedient sich unbekümmert begrifflich bei den Naturwissenschaften. Kokett schreiben sie sich Erkenntnisgewinne durch wissenschaftliche Unbekümmertheit zu. Als Bastler-Philosophen („philosophes bricoleurs“) erlangen sie Ruhm und verkraften sogar die Sokal-Affäre. Theorien der Vielstimmigkeit. Ein engagiertes So-oder-auch-Anders, eine Mischung aus Provokation und spaßiger Gaukelei prägt die geisteswissenschaftlichen Diskurse und wirkt, um noch einmal auf Althusser zurückzugreifen, nicht bloß als simpler Überbau einer Basis, sondern in den Bildungsinstitutionen, in der gesellschaftlichen Produktion von Gütern, Erkenntnissen und Entscheidungen. Vulgarisiert besitzen diese Theorien spektakuläres Zerstreuungspotenzial.

Was für ein Spaß!
Beispielhaft rufe ich es mit dem Hinweis auf die Sokal-Affäre in Erinnerung und ich erinnere mich zugleich an das Jahr 2011 und die Plagiatsaffäre, die den Politstar des Boulevards Karl-Theodor zu Guttenberg als Minister zu Fall brachte. Doch nun zur Sokal-Affäre: Der Physiker Alan Sokal ließ in sublimer Weise seinem Ärger über den unbedarften Import naturwissenschaftlicher Begriffe in den Geisteswissenschaften und hier speziell in den Diskursen der Postmoderne freien und kreativen Lauf. In postmodernem Jargon verfasste er einen Beitrag zur Debatte im amerikanischen Streit zwischen wissenschaftlichen Realisten und postmodernen Geisteswissenschaftlern, spickte ihn mit fachlichen Fehlern und Nonsens-Behauptungen. Bereits der Titel ist eine skurrile Phrase begrifflich aufgeladener Pseudogelehrsamkeit. Molière hätte daran seine Freude: Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity. (Die ­Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation). Wer lässt sich da nicht schon einmal als Laie beeindrucken. Ganz angetan war offensichtlich die Redaktion der geisteswissenschaftlich-postmodern inspirierten Redaktion, der Sokal seinen Beitrag zur Veröffentlichung geschickt hatte. Auf Veränderungswünsche der Redaktion geht Sokal selbstbewusst nicht ein. Sein Beitrag erscheint wie von ihm eingereicht in der reputierten Zeitschrift Social Text. Wenig später deckt Sokal in einem Beitrag für die Zeitschrift Lingua Franca seinen eigenen parodistischen Unsinn auf. Es geht ihm und anderen in den Folgedebatten um verlässliche Standards in der (geistes-)wissenschaftlichen Forschung und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Was bleibt: Es bleibt das hochmütige Lachen. Das Spektakel der Parodie. Der hohe Unterhaltungswert, der sprachliche Sog für Insider, den der ins Unsinnige gesteigerte Jargon auch noch demjenigen vermittelt, der ihm unkritisch vertraut.

Was noch?
Ich fürchte, die Komplexität immunisiert gegenüber dem Ringen um adäquates Verstehen. Selbst das Wissen um die Trivialität, um den schönen Schein, lässt uns von eben diesem schwärmen. Verzückt, scheinbar harmlos, kreiert der schöne Schein begeisterte Zuschauer. Das gehört sich so für große Spektakel. Es lässt die Menschen als Begeisterte soziale Verbrüderung fühlen, liefert ihnen flüchtige und dennoch ins Spektakuläre aufgeheizte Themen für ihre verbindenden Gespräche, Meinungen und Kommentare. So rücke ich die verzückten Teenies, die allwöchentlich serientreu den Abenteuern der Rettungsschwimmer (Baywatch) und vor allem ihrem David Hasselhoff seit 1989 über zwölf Jahre entgegenfiebern, in die Nähe der Amateure des Denkens. Die Freunde der Zerstreuung werden nicht müde zu plappern. Mal über den Krieg, mal über Ozonwerte, über Liebeskummer in Malibu, über neue und alte Rechte. Solange wir für eine Weile vergessen, ist es möglich, sich zu erinnern, etwas von früher im Jetzt ganz neu zu entdecken.
Ich trage Vergessenes nach: Althusser las Spinoza, entdeckte Spinoza, um Spinoza, den vormarxistischen Denker, zur Inspiration marxistischer Erneuerung zu machen. Althusser scheiterte in seinem Erneuerungsprojekt mit Spinoza, den heute die Glücksphilosophen gerne und viel zitieren, in der Hoffnung, alle Plausibilitätskrisen, der Druck der Akzeleration, die zunehmende Komplexität ließen sich aufheben in Einübungen des Glücks. Junge Entrepreneure erzählen („bizslammen“) heute stolz-beredt vom erfolgreichen Scheitern, das ihr Glück mehrte.
So möchte ich schließen – waren es nicht irgendwie doch glückliche Jahre diese 90er Jahre? Jugend der jetzt Älteren, vielleicht unsere.
It smells like teen spirit!:

Load up on guns and bring your friends It’s fun to lose and to pretend She’s over-bored and self-assured Oh no, I know a dirty word …

Never mind!