Onkomoderne

The Future Neuro

2018:März // Christina Zück

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03-2018

The Future Neuro

Lange Warteschlangen stauen sich vor dem Auditorium im Haus der Kulturen der Welt, wo die Eröffnungsdiskussion der transmediale stattfinden wird. Drinnen ist jeder Platz belegt, die Leute sitzen bereits zwischen den Stuhlreihen auf dem Boden. Ich muss gleich wieder rausgehen, weil ich einen Hustenanfall bekomme, während der Kurator die Rede beginnt. Auch in der Ausstellung drängen sich so viele Besucher durch das enge Labyrinth der Containerboxen, in denen die einzeln Arbeiten präsentiert sind, dass es unmöglich wird, überhaupt etwas zu sehen. Selbst am Tag danach muss man weiter zielorientiert um Aussichts- und Kopfhörerplätze konkurrieren. Worüber soll ich jetzt schreiben? Alle Ebenen des HKW sind am Eröffnungsabend brechend voll, und obwohl unten in einer Ecke ein DJ drone-artige Musik mit Video-Effekten generiert, wird niemand dazu tanzen. Am Boden sitzen Zuschauer und filmen alles mit dem Handy. Vereinzelt tauchen in der Menge ein paar Modestatements auf, viel zu große Workwear-Jacken und Baggy-Hosen. Eine kleine Gruppe ist wie Raver oder Clubkids der frühen Neunziger gekleidet, space buns, hellblaue Kunstfelljacken, Leggins mit Comicmustern. Die Modeleute wirken, als ordneten sie sich einigen prosperierenden Berlin- und Fashion-Hashtags aus einem Instagramfeed zu, nicht der sie umgebenden Transmediale-Crowd. Der Style der Neunziger hat Mühe, Aufmerksamkeit zu erwirtschaften und sich neben all den anderen Trends zu behaupten, er stößt hier auf wenig Resonanz. Mit der tonangebenden, unauffälligen Normcore-Streetwear kann man sich in jedem der vielfältigen gesellschaftlichen Kontexte der Stadt diskriminierungs- und aufmerksamkeitsfrei bewegen. Ich habe Produktionsdruck. Ich muss alle Eindrücke verwerten. Ich brauche ein paar Fotos für meinen Artikel. Ich brauche eine These. Irgendeine Geschichte, die den kleinteiligen, wuseligen Scheiß in Ketten legt. Die die Dissonanz zwischen den Phänomenen produktiv nutzt. Musik und Mode haben ihre popkulturelle Kraft verloren, zum Beispiel. Es ist jetzt die kritische Kunst, für die die Leute Schlange stehen, die einen erholenden und gleichzeitig anregenden Effekt auf zeitgenössische Nervensysteme ausübt. Kritische Reflexion rückt die durchgeknallte Welt wieder in die Angemessenheit, bündelt gefährliche Affekte und stabilisiert so leider auch die Verhältnisse. Vermutlich stimmt das gar nicht, es gibt wohl nur viel mehr unterstimulierte Besucher in der Stadt, die noch mehr und noch verschiedenere Events konsumieren wollen. Vielleicht ist das das neue große Ding doch auch eher gesundheits- und umweltbewusstes Essen. Im Vortrags­saal findet eine von Andrea Winkler und Stefan Panhans konzipierte Performance statt, „HOSTEL Sequel #1: Please Be Careful Out There, Lisa Marie – Hybrid Version“. Drei Schauspieler stellen den beklemmenden Status Quo des unter dem Neoliberalismus leidenden Subjekts dar. Sie kombinieren Formate wie gesprochener Text, Vorlesung, Videoprojektion und Skulptur und handeln gesellschaftliche Phänomene wie Hashtags ab: Hostel, Casting, Competition, Rassismus, Workout, Rollkoffer, Sneakers, Yogapants, Motorradhelm. Auf dem großen Projektionsscreen fallen Turnschuhe vom Himmel.

Zurück im Dämmerzustand vor dem Computerbildschirm stelle ich mir Linien und Strömungen vor, Diskurse, Memes, Topoi, Bilder, Metaphern, Codes, Klischees, die mal mehr oder weniger unscharf, mal mehr oder weniger angeschwollen oder ausgedünnt, gewunden, verknotet, mal wie mit dem Lineal gezeichnet, Zeit und Raum durchziehen. Sobald sie einmal in die Welt gesetzt werden, können sie nicht mehr sterben, nur versanden, bis sie irgendwann wieder freigeweht werden. Eine dieser Neuro- oder Quantenphysik-Wissenschaftsdokus, die ich gelegentlich auf Youtube ansehe, hat ganz anschaulich anhand der genretypischen lumineszierenden 3D-Animationen erklärt, wie Einstein mit der Relativitätstheorie nachgewiesen hat, dass die Zeit nicht linear verläuft und prinzipiell jede beliebige Richtung einschlagen kann. Man kann sie nicht unabhängig vom Raum auffassen. Der Zeitpfeil, den wir uns als unumkehrbar vorstellen, kann dieser speziellen Gesetzmäßigkeit zufolge ebensogut rückwärts laufen. Wir könnten im Prinzip Zeitreisen unternehmen. Doch die Relativitätstheorie reicht nicht ganz aus, um das Wahrnehmbare vollständig zu beschreiben, es fehlen noch ein paar ergänzende Fragmente, um zu erklären, warum das dann doch nicht geht. Offenbar macht die Entropie der Zeitumkehr einen Strich durch die Rechnung. Entitäten bewegen sich immer von einem geordneten Zustand unumkehrbar zur Unordnung und zur Auflösung hin. Ein zerbrochenes Glas würde sich nur dann wieder von selbst zusammenfügen, polte man die Richtung der einzelnen Atome um. In der Doku sieht man nun den Animationsclip rückwärts laufen: kleine, mit Pfeilen versehene Scherben und Flüssigkeiten fliegen nach oben und formen ein Weinglas. Später wird eine von vielen Gitternetzen durchzogene, transparent schimmernde Wurst eingeblendet – unser Universum. Es presst sich aus einem gleißenden Lichtpunkt, seinem Ursprung, schlauchförmig hervor. Seit dem Urknall expandiert und beschleunigt es mit voller Kraft, alle darin enthaltenen Teilchen rasen unaufhaltsam von einer zerfallenden Form in die andere. Die Zukunft ist die Zeitrichtung, in der das Chaos zunimmt. Ich verstehe die Theorie nicht ganz, denn Partikel können doch auch in unveränderlichen Ordnungen blockiert werden.

Beim Googeln nach besseren Erklärungen poppt ein Werbevideo auf, das ich nicht sofort wegklicke – wegen des Hashtags Turnschuhe. „Can I just stop?“ tönt eine autotune-verzerrte Stimme. Übereinandergelagerte Räume und Ebenen werden durchfahren, auf denen repetitive und fließbandartige Handlungen stattfinden: vervielfachte junge Menschen kicken Fernsehmonitore wie Fußbälle, steigen über Autos und glitzernde Müllhalden aus Elektroschrott, fahren Skateboard, klettern in die nächste Etage, schmücken sich mit Luxusprodukten, kontrollieren Prototypen, verpacken Turnschuhe, pressen Schallplatten, joggen unter einer Überwachungskamera, veranstalten im Jugendzimmer mit den Schallplatten eine Party. Die ewige Wiederkehr des sozialen Aufstiegs eines/r Jugendlichen von der sogenannten Straße, der kreativen Produktion und des erfolgreichen Wirtschaftens wird am Ende des Clips wie ein Setzkasten übereinandergebaut. Darüber legt sich der Remix eines House-Tracks von 1995, Boris Dlugosch featuring Inaya Day, mit dem Text: „Keep pushin on, things are gonna get better, it won't be long, keep on pushin to the top“. Der Clip für „Original is never finished“ analysiert und ironisiert hier seine eigenen Bedingungen als Werbung selbst. Die Adidas-Regisseure brauchen keine Kunst mehr, um die eigenen falschen Versprechungen kritisch zu reflektieren. Künstlerische Praktiken wie das Erschließen von Metaebenen und das Zumuten von Ambivalenz können die Kreativwirtschaft inzwischen selbst integrieren und fortschreiben: „Out of repetition, comes variation. Out of variation, comes iteration. Out of iteration, comes creation.“

Womöglich war es der Urknall, der soviel Energie in alle Atome des Universums hineinwirbelt hat, dass einige Konglomerate jetzt wie Weltraumschrott im All herumschwirren. Auf der Umlaufbahn tauchen sie immer wieder auf und drohen, angezogen von mehr oder weniger starken Magnetfeldern, irgendwo auf der Erde einzuschlagen. Im All wird es ganz schön eng. Jeder leere Raum, der sich irgendwo auftut, wird sofort besiedelt und mit produktivem Denken befüllt. Die ehrenwertesten Wünsche werden hineingepumpt, denn in der Zukunft soll alles besser werden. Die Neuro- und Quantenphysik-Dokus auf YouTube erzählen, dass wir alle in einem riesigen Bewusstseinsnetz miteinander verbunden sind. Wenn wir gute Gefühle herausbilden und alles positiv umpolen, wird es mit uns und der Erde gut ausgehen. Allerdings entstehen immer mehr unerwünschte Entitäten, die sich ebenfalls weiter verschachteln und verkomplizieren. Zahlen, Messungen und Beobachtungen multiplizieren alle Phänomene mehrmals und bilden sie neu ab, so dass vielfältige Backups und Second Lifes entstehen. Das Universum expandiert nicht nur auf planetarem Level, sondern auch in die Metadaten unserer Geschichten und Bilder hinein. Das Gehirn ist zur Neuroplastizität fähig, unsere zappeligen Synapsen können sich nach und nach an neue Bedingungen wie Beschleunigung, Expansion und Verdichtung anpassen. Da es sich um Bio-Materie handelt, dauert ihre Regulation jedoch viel zu lange. Für einige empfindliche Neuros kommt es zu trauma-ähnlichen Effekten. Das autonome Nervensystem lässt sich nicht einfach so unter Kontrolle bringen. Es kann nur über Umwege angesteuert und in einen homöostatischen oder Entspannungszustand gebracht werden. Heilsame Übungen, die das Gehirn positiv verändern, brauchen ein paar Jahre tägliche Wiederholungen, um allmählich die Ökologie der Subjektivität wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Vorher wird der älteste und tiefliegendste Teil des Nervensystems, umgangssprachlich Reptilienhirn genannt, das Steuer an sich reißen und noch mehr Schaden anrichten.
Künstlerisch Tätige, die mit den kreativen und politischen Möglichkeiten der neuen Technologien und der sogenannten Medien arbeiten, können nicht umhin, sich an den dunklen Visionen der Zukunft abzukämpfen. Zurückgehend auf eine lange Folklore aus Mythen, Religion und Science-Fiction-Filmen, werden die Angstszenarien ständig aktualisiert und intensiviert. Neben dem Umwelt- und Klima-Kollaps taucht als noch finsteres Phantasma die totale Überwachung durch eine technologische Singularität auf. Wie die Schlangen auf dem Kopf der Medusa winden sich ihre Netze und Algorithmen in unsere Leben hinein. Gegenwärtig erscheint es unmöglich, politisch etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind starr vor Panik. Der Zeitpfeil wirkt in die umgekehrte Richtung hinein, die Ereignisse gehen von der Zukunft aus und erschaffen den Angstgroove der Gegenwart. Walter Benjamins Engel der Geschichte starrte auf den zum Himmel wachsenden Trümmerhaufen, während ein Sturm „vom Paradiese her weht“. Am Ende der Plasma-Tunnel-App unseres Universums wirbelt ein neuer Urknall hervor, als hätte er schon stattgefunden. Unser Zeitempfinden hebt sich aus den Angeln. Gerne würde ich mich zurück in die Neunziger beamen, als Kunst, Philosophie, elektronische Musik und das Internet noch tolle Verheißungen waren. Die Fantasien von einer offenen Zukunft in einer optimierten Welt rotieren weiter auf der Umlaufbahn als Instagram-Hashtags oder pastellfarbener Marketingkitsch.

Das Textpensum ist bewältigt, alle Motive wiederholt und ein bisschen zerfasert – ich kehre zu meinen täglichen Aufgaben zurück, Werbung wegklicken, Backups anlegen, Speichernutzung optimieren, Passwörter erinnern, eine Hotline anrufen, Antragsformulare ausfüllen. In der Warteschleife von 1&1 läuft wieder „Nights Interlude“ von Nightmares on Wax von 1995, neben Kruder & Dorfmeister, Massive Attack, Café del Mar der gechillte Lounge-Sound der späten Neunziger, der in seiner Cupcakehaftigkeit schon die zwangshöflichen Callcentermitarbeiter vorwegnahm, die nicht weiterhelfen, nichts regeln, nichts ändern und mich weiter in die nächste Warteschleife verschieben. Die Internetverbindung bleibt wochenlang unterbrochen. „Nights Interlude“ unterlegte die Hammondorgel-Akkorde von Quincy Jones wunderbarem „Summer in The City“ von 1973 mit Trip Hop Beats und schrieb sich durch das mehrfache Sampeln und Verdoppeln des Songs der Lovin’ Spoonful von 1966 ins kulturelle Gedächtnis ein. Nun nimmt es seinen Weg in die Zukunft als stock audio. In der Warteschleife von 1&1 programmiert es Nervenverbindungen in meinem Hirn neu und vernetzt das fluffy Gefühl der Hammondorgel aus der guten alten Zeit mit Wut- und Ohnmachtsgefühlen: Neurons that fire together, wire together. Um zu entspannen, suche ich in dem riesigen informellen Archiv, das auf YouTube entstanden ist, nach der Zukunft. Plattenliebhaber haben ihre über Jahre gesammelten Maxisingles digitalisiert und dort hochgeladen. Solange das Internet funktioniert, braucht man den Platz vor dem Bildschirm nie wieder zu verlassen. Hier eine Playlist von etwa 1995–1996:


Gemini – Welcome to the Future
Gene Farris presents The DEB Project Vol. 2 – Visions of the Future (Remix by Roy Davis & DJ Skull)
Tuff Little Unit – Join the Future
Bobby Konders – The Future
Armando – The Future (Armando’s Original)
Disco City – Future (Techno Mix)
Mister Monday – Future (See Da Future Mix)
Kevin Saunderson Feat. Inner City – Future (Kenny Larkin Tension Mix)
Deep Dish feat. Everything But The Girl – The Future of The Future (Stay Gold)
Phuture – We are Phuture
Glenn Underground – Future Shock
K.C.C. – „Future III“ (Richard Sen Edit)
H2O – Livin’ For The Future (Future Dub)
Susumu Yokota – Future Memory
Uptown Connection – From The Future (McMillans Deep Beats)
Danell Dixon – I Saw The Future (Roy's Last Laugh Mix)  
Zach Blas, „JUBILEE 2033“, Ausstellung Territories of Complicity, transmediale, 2018, Foto: Christina Zück
Olivia Hyunsin Kim in: Andrea Winkler & Stefan Panhans, „HOSTEL Sequel #1: Please Be Careful Out There, Lisa Marie – Hybrid Version“, transmediale, 2018
Broshuda, „The Supraliminal Café“, transmediale Eröffnungsabend