Christian Nagel

Gespräch

2018:März // Andreas Koch

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03-2018

Andreas Koch / Lieber Christian, mit unserem Schwerpunktthema „Die Neunziger – die Wahrheit“ versuchen wir so etwas wie eine vielstimmige „oral history“ aufzuzeichnen. Geschichtsschreibungen finden ja laufend statt und werden anfangs noch ständig umgeschrieben, um sich dann nach und nach zu verfestigen. Vielleicht können wir das ja etwas auflockern. Das Lustige und für mich persönlich auch Neue ist ja die Rolle der Zeitzeugenschaft, in die man zwangsläufig im Alter hineinrutscht. Du bist noch mal ungefähr eine Dekade älter als ich, geboren 1961, und hast genau 1990 deine Galerie in Köln gegründet. Du hast aber zuvor dein „künstlerisches Bewusstsein“ in den 80er Jahren entwickelt. Deswegen interessiert mich zuerst deine Einschätzung des Übergangs der 80er zu den 90er Jahren, es gab ja so etwas wie einen Markteinbruch Ende der 80er, dann den Fall der Mauer. Noch interessierte sich niemand für Berlin, die deutsche Kunstwelt spielte sich im Rheinland ab. Was änderte sich in der Kunst? War das schleichend oder doch schlagartig?

Christian Nagel / Lieber Andreas, im Sommer 1983 habe ich ohne Vorkenntnisse in München das Studium der Kunstgeschichte begonnen. Das Institut lag hinter der Akademie und es dauerte nicht lange bis ich die ersten Kunststudenten in der Cafeteria kennenlernte, darunter Stephan Dillemuth und Joseph Zehrer. Früh wurde ich ein Teil der Geschehnisse hielt Eröffnungsreden und organisierte Ausstellungen. Ein Praktikum im Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld und ein erster damit verbundener längerer Aufenthalt in Köln, ich wohnte damals bei Iskender Yediler, öffneten mir die Augen für die zeitgenössische Kunst. Zurück in München wollte ich bei Prof. Schneede studieren, der aber leider an meinen Fähigkeiten zweifelte und mich nicht in sein Seminar aufnahm. So landete ich bei Hans Belting. Gleichzeitig übernahm ich mit mit Matthias Buck die Leitung der Galerie Christoph Dürr. Unsere ersten vier Ausstellungen ab September 1986 waren Clegg & Guttmann, Martin Kippenberger, Franz West und Heimo Zobernig zusammen, sowie Thomas Locher. Günther Förg und ­Georg Herold folgten und Fareed Armaly und Michael Krebber waren die ersten Künstler, die wir sozusagen selbst entdeckt haben und es bestand bereits Kontakt zu Cosima von Bonin, Josef Strau, Andrea Fraser und Mark Dion, die später in Köln reüssierten. Wir schauten uns um und fuhren wie die Bekloppten durch die Kunstwelt – Köln, London, Wien, Zürich, Hamburg, Stuttgart, Paris, Amsterdam, New York … Die mit am interessantesten Ausstellungen sahen wir bei Isabella Kacprzak in Stuttgart (heute Galerie Isabella Czarnowska in Berlin): Richard Prince und ­Louise Lawler. Hier passierte etwas anderes. Nicht Malerei oder Skulptur standen im Interesse, sondern Kunst über Kunst mit kritischem Impetus stand im Zenit des Interesses. Der einsetzende frühe Diskurs um Jeff Koons, Haim Steinbach, Roland Jones u.a. tat ein weiteres, den Glauben an das autarke Objekt Kunst abzulegen. Diese neuen, teilweise theoretischen Kunstrichtungen trugen zu einem neuen Verständnis zu den historischen konzeptuellen Ansätzen bei: Michael Asher, Dan Graham, Joseph Kosuth, Andre ­Cadere, Martha Rosler, Hans Haacke, Daniel Buren, Marcel Broodthaers etc. Nach Jahren der reaktionären 80er Jahren mit ihrer traditionellen Kunst schien es möglich, auf die 70er zurückzugreifen und neue Positionen einer politischen und kritischen Kunst zu entwickeln. Aus dieser Gemengelage sollte sich die kontextuelle Kunst der frühen 90er Jahre entwickeln. Das geschah hauptsächlich in New York und Köln. Die ersten wichtigen künstlerischen Positionen ab Mitte der 90er versuchten diese Entwicklung zu Gunsten einer stärker materialbezogenen Kunst umzudrehen.

Koch / Wow, das sind viele Namen, vor allem viele bekannte. Das war ja damals bei vielen der Genannten noch nicht so. Interessant finde ich diese generelle Grenzziehung zwischen politischer, kritischer und kontextueller Kunst, die man zeitlich in den Siebzigern, Neunzigern und vielleicht auch wieder heute verortet und der „materialbezogenen“ Kunst der 80er, beziehungsweise dann wieder Nuller Jahre. Koons oder Kippenberger sind da bestimmt Grenzgänger und schwappen in der Rezeption vom einen Lager ins andere.
Mein erster Text für die 2006 gegründeten „von hundert“ war mit „Der Köln-Effekt“ übertitelt und meine These war damals, dass Ende der Neunziger, Anfang der Nuller mit dem Zuzug der Kölner, zum Beispiel auch dir oder der TzK, eben auch die marktgängigeren Abziehbilder von Kunst und Künstlern nach Berlin importiert wurden (http://www.vonhundert.de/index2728.html?id=16). „Das Klischee­bild des wilden exzessiven oder tiefst neurotischen Kunstproduzenten á la Kippenberger oder Genzken bis hin zu Verweishermetikern ähnlich Cosima von Bonin oder Kai Althoff wird seit einiger Zeit immer besser verkauft“ schrieb ich damals.
Könnte es sein, dass das autarke Bild von Kunst im Laufe der Zeit im wiedererstarkten Kölnmarkt der ­Neunziger Jahre wieder stärker wurde und schließlich mit dazu beitrug, dass wir in den Nuller Jahren einen konservativen Backlash erlebten? Hetzler stellte ja schon früh Teile seines Programms wieder stärker auf „Material“ um und Guido Baudach profitierte mit seinem Programm ebenfalls von der Renaissance von Bronze und Öl. Wobei du deinem konzeptionellen Ansatz weitgehendest treu bliebst. Wie erlebtest du diese Entwicklung, die sich ja schon in Köln andeutete?

Nagel / Ja, die meisten waren zwischen 30 und 40, einige bereits einschlägige Größen, andere am Anfang der ­Karriere. Die generelle Grenzziehung war damals kein Dogma. Krebber malte aber damals noch eindeutig konzeptionell und die Installationen ließen eindeutig mehr Material zu als in den 70ern.
In den wann auch immer gegründeten Zeiten des everything goes begann sich alles zu vermischen. „Miscellaneous“ titelte Renée Green eines ihrer Werke.
Eine erste Zäsur stellte das Texte-zur-Kunst-Cover von Jorge Pardo von November 1994 dar. Ein buntes abstraktes Bild ähnlich der Ästhetik der späten 20er, vergleichbar einer Papierarbeit von Otto Freundlich. Hier wurde klar, wir brauchen wieder Kunst, die den Markt zurückerobert. Kontextkunst interessierte intellektuell orientierte Sammler und einige Museumsleute, ein Geschäft war damit nicht einfach zu machen.
Eine neue Galerie, der die geschilderten Dinge sehr bewusst war, neugerriemschneider, trat an den Start und forstete die deutsche Kunstlandschaft auf. Ackermann, Majerus als Maler, aber auch Eliasson organisierten neues Material.
Bonin kehrte nach einer Ausstellung in Zürich bei Birgit Küng allzu konzeptuellen Vorstellungen den Rücken und ging bald Fonds-orientiert durch den Kunstdschungel. Althoff war von Anfang an der Meister der klassischen Zeichnung, setzte die aber auch äußerst subversiv und auch böse ein. Erst Jahre später kam Baudach mit seiner Männertruppe, die sich permanent in den Armen lag.

Koch / Das wäre auf jeden Fall eine Erklärung für das, was ich einmal „die Gentrifizierung der Kunst“ genannt habe. Die Gleichsetzung von Material und Geld erklärt Isabelle Graw auch mit Karl Marx in ihrem aktuellen Buch. Natürlich gab es damals in Berlin zu Beginn der Neunziger Jahre eine merkwürdige Naivität. Man hatte plötzlich viel Platz und der Neustart des Berliner Kunstbetriebs sah eher aus wie ein riesiger Abenteuerspielplatz. Zehntausende von Menschen tobten zu den Auguststraßenrundgängen durchs Viertel und bei den Eröffnungen ging es eher um den Bier- als um den Kunstverkauf. Ein paar wenige lösten sich früh und erkannten schnell, dass man von diesem 90er-Jahre-Charme alleine nicht leben konnte.
Neben neugerriemschneider vorallem die Galerie neu, Schipper und Krome, Gebauer und Thumm, aber auch Judy Lübke mit Eigen+Art. Tim Neuger arbeitete ja in den frühen Neunzigern bei Max Hetzler, der schon 1993 nach Berlin zog und auch Esther Schipper eröffnete 1995 einen Raum in Berlin, von Köln kommend.
Wir „Children of Berlin“ waren dann erstmal überrascht und mussten schnell erwachsen werden, wenn man behauptet, dass dies der zwangsläufige Weg ist, was ja so zu sein scheint. Der Weg, als Siegeszug des Kapitalismus, der sich in diesem extrem aufladungsfähigen Material namens Kunst am stärksten spiegelt.
Fallen dir Beispiele ein, von Künstlern oder Räumen, die sich bewusst diesem Weg zu entziehen versuchten? Du selbst standest schon am Rande des Bankrotts, hatte das auch was damit zu tun?

Nagel / Insbesondere beim Berliner Kunstmarkt der 90er Jahre vom Siegeszug des Kapitalismus zu sprechen, halte ich für etwas absurd. Selbstverständlich wurde hier und dort etwas verkauft, aber die Umsätze waren eher weniger als mehr. Hetzler und Achenbach gründeten ein Büro, das in Berlin Kunst am Bau vermitteln sollte: Jeff Koons, Gerhardt Merz, Dan Graham standen zur Debatte. Die Sache war professionell aufgezogen und so viel wie möglich Bauherren, Architekten etc. wurden kontaktiert. Soweit ich weiß, gab es fast keine Aufträge.
Die erfolgreichen Galerien in Berlin machten nicht nur damals, sondern auch heute den Großteil ihrer Geschäfte international. Nicht umsonst stellen die Berlinern Galerien eine große Anzahl in den wichtigsten Kunstmessen.Es wäre somit notwendig, die Diskussion von der Thematik Köln / Berlin zu lösen und allgemeiner zu analysieren, wie der Hase läuft.

Koch / Ja, klar, jeder Siegeszug fängt klein an, und wenn überhaupt, wurden im Berlin der Neunziger von der Handvoll der genannten Galerien erste Strukturen gebildet, die dann in den folgenden Nuller und Zehner Jahren ausgebaut wurden, übrigens sehr eng verknüpft mit der Immobilienwelt, denn auch dort wurden in den Neunzigern die Claims verteilt. Deswegen finde ich den Hetzler/Achenbach-Ansatz nur folgerichtig, wenn auch leicht verfrüht – kannte ich gar nicht. Die nächste „von hundert“ soll eben genau diese Verstrickungen der Kunst- und der Immobilienwelt behandeln. Das wäre die Analyse: der Kapitalismus ging eh seinen Weg, wir in Berlin waren aufgrund der speziellen Umstände kurz raus und dann kamen eben die Cleveren aus West- und Ostdeutschland, aus München, aus der Städelschule in Frankfurt, aus Köln und Düsseldorf, aus Dresden und Leipzig und scheuchten uns aus unserem Sandkasten raus und nahmen uns die Schäufelchen weg. Nicht schlimm, sondern auch folgerichtig. Ich weiß noch, wie ich mit Tim Neuger in einem Taxi saß und eben den Preis für den besten Stand auf dem Artforum gewonnen hatte, den gleichen Preis, den neugerriemscheider 1999 zwei Jahre zuvor bekommen hatten für eine Küche von Rirkrit Tiravanija, da meinte Tim zu mir sinngemäß: „Weißt du ­Andreas, der Preis war uns damals egal, wir haben den ganzen Stand für 100.000 Mark verkauft“, für wieviel genau weiß ich allerdings auch nicht mehr. Das war für mich auch eine Ernüchterung, es ging damals eben sehr schnell vom sogenannten Sozialkapital in Richtung echtes. Ob die Geschäfte jetzt hier oder woanders gemacht wurden, ist dann eigentlich egal. Das wird mir eh zu oft postuliert, dass Berlin keinen Markt hat. Einerseits stimmt das nicht mehr und andererseits ist es in der fortschreitenden Globalisierung wirklich unwesentlich. Und das war auch damals dann um die Jahrtausendwende das Signal, Basel expandierte, frieze wurde gegründet und die Bedeutung der Messen nahm wahnsinnig zu. Gleichzeitig zogen in den Nuller Jahren immer mehr Galerien nach Berlin und die Künstlerlisten doppelten sich schnell. Da musste richtig gekämpft werden. Tolle Galerien wie zum Beispiel Giti Nourbakhsch gaben auf. Wie erlebtest du diese Zeit direkt nach den Neunzigern, dein Umzug nach Berlin fand ja erst (oder schon, je nach Perspektive) 2002 statt?

Nagel / Wer sind eigentlich die Leute im Sandkasten? Die scheinen von einem Zuzug von Kunstprofis, der immer stattfindet, wenn ein Ort sich interessant entwickelt, überrannt worden zu sein. Alle Seiten bilden eine Art Humus für eine kulturelle Entwicklung und sind notwendig für ein Vorankommen. Berlin war hitzig in den 90er Jahren. Wir waren noch nur in Köln mit den Räumen, haben aber aktiv am Artforum mitgearbeitet und die INIT Kunsthalle mitgestaltet. Berlin glaubte, mit den Kunststädten New York, LA oder London und Paris gleichziehen zu können. Der Zuzug von Künstlern und auch Galerien rechtfertigte kurzzeitig diese Aussage, aber irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Zug auf halber Höhe steckengeblieben ist. Der unsägliche Schlossbau mit einer Führung, die nicht wirklich eine Ahnung von einem Weltausstellungsprogramm hat, oder die Zerstörung einer der besten deutschen Sprechbühnen, die Volksbühne, oder der mittlerweile einschlafende Hamburger Bahnhof seien hier nur exemplarisch erwähnt. Die Berliner Kulturpolitik jagt ein Prestigeprojekt nach dem anderen, vergisst aber eine Zusammenarbeit nicht nur mit den ansässigen Kulturproduzenten.

Koch / Ja, du hast recht. Es ging alles einigermaßen Hand in Hand und viele im Sandkasten profitierten von der Professionalisierung selbst, wenn sie, wie zum Beispiel ich, eher Verweigerer waren. Ich schloss meine typische Berliner Neunziger-Jahre-Galerie dann 2004 und bin ziemlich froh darüber, dass ich mir die weiteren Marktkämpfe ersparte. Dennoch lebe ich vom Geld, das der hiesige Kunstbetrieb erwirtschaftet, teils aber auch von staatlichen und städtischen Förderungen.
Einerseits teile ich deinen Eindruck, dass es nicht wirklich vorangeht, würde aber eher sagen, dass sich der Kunstzug ausgepowert hat. Man hat keine wirkliche Utopie mehr, nachdem die Saat auf dem Humus so vor sich hin blüht. Die Kapitalismusutopie wäre ja sowas wie ein Gehry-, Getty- oder Guggenheim-Ding. Wir wandern jetzt eher Richtung Schweiz, alles wird ein bisschen besser, schöner, teurer und reicher und dann finanziert Berlin auch noch etwas mehr mit. Was anderes fällt mir auch nicht ein. Ist halt langweilig.
Gerade die Schließung der Volksbühne markiert für mich das finale Ende der Neunziger. Keine Bühne stand mehr für den Geist dieser Dekade und sie trug ihn immerhin noch siebzehn Jahre ins neue Jahrtausend, ohne wirklich alt auszusehen. Das, was jetzt dort kommt, ist eben auch langweilig. Alle verhalten sich, als wären sie nur noch Avatare ihrer selbst. Da waren mir die Nullerjahre-Materialschleuderer noch lieber. Was tun? Vielleicht wieder einen etwas dreckigeren Salon gründen. INIT reloaded?

Nagel / Jetzt haben wir uns ein wenig über die Freiheit der Berliner Kunstwelt nach der Wende unterhalten. Eigentlich könnte man darüber ein Buch schreiben. Die Frage, welche Kunstwerke produziert wurden und welche Auswirkungen diese hatten, wurde leider vernachlässigt. Was waren die besten Ausstellungen? Heimo Zobernig, Isa Genzken, Albert Oehlen und Martha Rosler in der INIT Kunsthalle zählen sicher dazu. Imi Knoebels „Raum 19“ in der Nationalgalerie war ein Höhepunkt. Joseph Beuys in der ständigen Sammlung, aber auch die Wechselausstellung im Hamburger Bahnhof stachen heraus. Tausende eintrittsfreie Ausstellungen in Galerien und nicht kommerziellen Räumen konnten ein neues Wissen über zeitgenössische Kunst in Berlin aufbauen, das mittlerweile über 25 Jahre die Kunststadt Berlin ausmacht. Schauen wir mal wie es weitergeht!
 
Textabbildung: Dank an Galerie Nagel Draxler
Cosima von Bonin „Die Fröhliche Wallfahrt“, 1991, Videostill mit Josef Strau und Christian Nagel (© Friedrich Petzel Gallery)