Zeit rumbringen

2018:März // Sophie Aigner

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03-2018

Per Zufall kam es, dass ich als eine von vielen sogenannten Monitoren im Dienst des verhüllten Reichstags arbeitete. Da das Gebäude rund um die Uhr bewacht werden sollte, brauchten Christo und Jeanne Claude eine Menge Aufsichtspersonal, das Tag und Nacht in wechselnden Schichten alle paar Meter rund um den Reichstag saß. Neben unserem Honorar bekamen wir ein graues Kittel-Shirt, das wir tragen mussten, später gab’s noch eine Signatur drauf, sowie einen Haufen Materialproben, die wir zeigen und verschenken sollten. Niemand der vielen Besucher sollte auf die Idee kommen, sich selbst ein Stück herauszuschneiden. Da die Schichten demokratisch verteilt wurden, ­saßen wir gefühlt nonstop dort herum, tagsüber mit Blick auf die grüne Wiese, nachts auf dem Asphalt, angelehnt ans Gebäude.

Mein Freund bevorzugte Ölfarbe und die Motive in seinen Arbeiten waren häufig hockende Menschen, auch mich zeichnete er oft. Da saß ich also manchmal hockend auf dem Boden in der Küche, einmal zusammengefaltet im engen grauen Badezuber, ein anderes Mal unter lauter Geldscheinen, die versehentlich von der Farbe überstrichen waren und die wir dann erst wuschen und anschließend zum Trocknen aufhängten. Wahlweise hingen an der Schnur auch Fotoabzüge, die ich versuchte, in der Küche abzuziehen, es war sowieso ständig dunkel. Das Klo war ein langer Schlauch mit Streifen verschiedener Brauntöne an der Wand.

Als ich mich bei Katharina Sieverding in der Klasse vorstellte und Pornocollagen zeigte, kam das ganz schön uncool rüber. Später kam dann ein Dia mit einem Scheißhaufen im Klo und Katharina meinte: „Das ist ein Bild.“ Mein Freund wiederum, der hatte es echt drauf. Da ihm die Wartezeit bis zur nächsten Bewerbungsrunde zu lang war, passte er einfach im Eingangsfoyer einen Malerprofessor ab. Er holte alle seine mitgebrachten Arbeiten heraus und verteilte sie auf dem Boden. Der Professor im langen Mantel hörte schweigend zu, während mein Freund auf einzelne Bilder zeigte und mit eingerolltem Rücken abwechselnd vor sich hin murmelte oder den Mann strahlend anblickte. Später sah ich den Professor mit einem riesigen Hefekloß vor sich in der Mensa sitzen.

Ein anderes Mal gingen mein Freund und ich, angetrieben von seinem Rausch, zu einer Galerie auf der Invalidenstraße und fragten, ob wir Arbeiten zeigen dürften. Im Rückblick erstaunlich, sagte die Galeristin: „Ja klar.“ Wir holten also Fotoabzüge aus den Drogeriemappen, und sie sah sie durch. Seine Malereien gefielen ihr, zu meinen sagte sie: „Sowas zeig ich nicht mehr“. Ich hab den Satz damals nicht verstanden und war doch irgendwie erstaunt, dass sie solche Sachen überhaupt mal gezeigt hatte. Meine Freund machte im Gegensatz zu mir ernstzunehmende Malerei. So ernst, dass er sich häufig besoff, tolle Musik beim Arbeiten hörte und die Farbe überall in der Wohnung verteilt war.

Wenn ich dann mal von seiner in meine Wohnung wollte, musste ich die S-Bahn nehmen, die einige Brachen durchquerte, und wenn ich an meiner Hausnummer ankam, musste ich durch den ersten, zweiten und dritten Hinterhof durch, um endlich zu meinem Haus zu gelangen. Eines Tages hatte sich zufällig herausgestellt, dass die Wohnung einer Freundin direkt gegenüber von meiner lag, ohne dass dieses aufgrund des komplizierten Hinterhofsystems der Gegend von vornherein deutlich gewesen wäre. Wenn ich nun nach Hause kam und Licht anschaltete, bemerkte meine Freundin meine Ankunft, trat ans Fenster und winkte herüber. So begann ich, um meine Anwesenheit nicht sichtbar zu machen, an manchen Tagen folgenden Trick anzuwenden: ich krabbelte im Dunkeln durch die Wohnung in ein Zimmer, welches vom Hof aus nicht einsichtig war. Dort knipste ich Licht an.

Manchmal, auf dem Weg zu ganz viel Glitzer in der Sniper Bar, hockten wir längere Zeit am Schaufenster und guckten in Käthe B.s Wohnung hinein. Käthe stellte damals sich und seinen Alltag aus. Die Räume, die man nicht von der Straße her sehen konnte, wurden per Monitor sichtbar gemacht. Über, neben und hinter uns war ein Baugerüst, das den Platz vor dem Fenster begrenzte, bei mehr als drei Leuten wurde es richtig eng. Drinnen fegte Käthe mit ausholendem Schritt Straßendreck und Asche zusammen.

Mein Freund hatte einfach immer die tollsten Ideen, und es kam öfter mal vor, dass wir spontan beschlossen, noch am selben Abend nach Paris oder nach Prag zu fahren. Seltsamerweise vollzogen wir dort ähnliche Rituale wie zuhause in Berlin. Wir besorgten uns Farbe und Skizzenbücher, tranken viel Kaffee und standen erst nachmittags auf. Auch auf den Zugstrecken war das Licht äußerst gedämpft und ich habe ausschließlich Fotos aus der Zeit, auf denen Menschen auf dunklen Bahngleisen zu sehen sind. Die Zimmer, in denen wir übernachteten, kosteten nie viel und ich habe später manchmal versucht, ähnlich billige Hotelzimmer zu finden, aber es gelang mir nicht mehr. Wir hatten damals einen Blick dafür, schreckten nicht vor irgendwelchen Absteigen zurück, nur die Gemälde an der Wand störten uns, weshalb wir sie meistens sofort abnahmen und unters Bett legten.

Irgendwann später sprang mein Nachbar im Wahn über die Berliner Mauer, um das Land auf der anderen Seite zu befreien, wenngleich es die Mauer schon seit einigen Jahren gar nicht mehr gab. Ich ging in eine andere Stadt, in der die Häuser Gärten hatten und die Kunst-Studenten heulten, während sie über ihre Arbeit sprachen. Ich wünschte, ich würde manches von alledem heute im Netz auf Facebook oder Instagram wiederfinden.  
Tacheles, 2008, Foto: De-okin, Wiki commons