Philipp Simon

Schiefe Zähne

2018:März // Kenneth Hujer

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03-2018

Zwischen Hashtags und Erzeugerschemata

Das Denken hat bei denjenigen, die von Berufs wegen denken, bekanntlich nicht den besten Ruf. Kunstproduktionen vergangener Jahrzehnte flankieren die intellektuelle Kritik an der menschlichen Ratio, die sich die Welt und ihre Phänomene durch Klassifikationssysteme und Ordnungsprinzipien gewaltsam Untertan macht. Wie das Denken seine Gegenstände überschreitet, so überschreitet die künstlerische Revolte der Unvernunft fortan das Denken. Viel zu oft blieb jedoch nicht viel mehr als billige Polemik jenseits jeder ästhetischen Erfahrung.

Philipp Simon ordnet auf wenigen Metern mit seiner Ausstellung „Die dritte Person“, die derzeit in der Berliner Galerie „Schiefe Zähne“ zu sehen ist, die künstlerische Kritik an den Ordnungsprinzipien selbstkritisch. An den zwei längeren und sich damit gegenüberliegenden Wänden des Ausstellungsraums hängen insgesamt vierzehn Bleistiftzeichnungen. Notabene nicht in blöder ­Symmetrie: eine Wand zählt sechs, die andere acht seiner Zeichnungen. Eine jede zitiert dabei einen anderen Stil und damit ein anderes, bereits bestehendes Erzeugerschema. Das zur Ausstellung ausliegende Papier, auf dem jeder Zeichnung eine Aufzählung zugeteilt ist, reflektiert diesen Sachverhalt: Wenngleich nicht konsequent, so tauchen bei einigen Aufzählungen Stilrichtungen und Künstlernamen auf. Die Aufzählungen selbst folgen keiner festen Logik. Zwar beginnen sie allesamt mit der Trias „image, natural, drama“, daraufhin jedoch fügen sich Adjektive ohne erkennbares System an Städtenamen und Währungseinheiten, Geschlechterzuschreibungen an Tageszeiten und Zeitformen. Anders als zu vermuten, eröffnen die Aneinanderreihungen neue Ebenen und erweitern die Wahrnehmung, anstatt sie zu verengen. Nur an einer Stelle wird der offene Charakter der Enumeration gleichsam ironisch gestört. Das aufgezählte „daskindwillnichtzumimpfengehen“ verknappt die Wahrnehmung der Zeichnung nachhaltig und erinnert uns dadurch an den Rubrizierungscharakter millionenfacher Hashtags unserer digitalen Gegenwart. Bilder und Fotos vollkommen zu verstehen, bedeutet ihr Ende. Eben dies bringt Simon zur Einsicht, indem er nicht die Kategorien an sich verneint, sondern deren Gebrauch differenziert.
Nicht nur durch die ihnen gemeinsamen Listen korrespon­dieren die Zeichnungen miteinander. Statt einzeln werden sie durch eingeschnittene Wellpappen gerahmt, die ihrerseits aneinanderhängen. Durch die kleinen Fugen, die sich zwischen den großflächigen Pappen ergeben, entsteht ein Raster – und damit ein visuelles Äquivalent zur Klassifizierungsleistung des Denkens. Doch taugt das Raster nicht zum Ordnungsprinzip der Ausstellung, da sich die einzelnen Zeichnungen ihrerseits ordnen, indem sie in gleichem Abstand zueinander gehängt sind und dadurch an manchen Stellen die Fugen der Pappen überschreiten. So ergibt sich ein formaler Widerstreit der verschiedenen Ebenen. Die Grenzen des Rasters sind durchlässig.

Mitten durch den Ausstellungsraum – parallel zu den beiden Wänden mit den Zeichnungen – hat Simon ein horizontales Gitter aus Spanplatten eingezogen, das das Durchschreiten seiner Ausstellung kontrolliert. Es zwingt zur fixen Chronologie. Man muss zuerst eine der Wände ablaufen, um zur gegenüberliegenden Wand zu gelangen. Bei letzterer angekommen, entdeckt man hinter der Gitterwand, deren Ende vollständig verkleidet ist, jeweils zwei rechtwinklig ineinander gesteckte Pappen, auf die Simon Gesicht bzw. Hinterkopf und Profil zweier Menschen gezeichnet hat. Während die Bleistiftzeichnungen an den Wänden allesamt den Charakter von Vorstudien noch zu realisierender Bilder haben, sind die beiden Köpfe Abstraktionen. Bewegen sich die Zeichnungen hin zu etwas, bewegen die Pappgestelle der Köpfe sich von ihrem Bezugspunkt weg. Gleichzeitig erinnern die beiden abstrahierten Köpfe an die Erkenntnis der Wahrnehmungstheorie, dass man stets nur einen Teil einer Sache sehen kann. Schaute man aus allen möglichen Perspektiven gleichzeitig auf den Kopf, fiele er in sich zusammen. So wären auch die Zeichnungen selbst dann noch vorläufig, wenn sie zu Bildern würden. Es gibt kein Ankommen, keine Endpunkte, kein An-sich, wie auch jede Aufzählung genuin unvollständig, stets weiterführbar ist.

In seiner Vorläufigkeit ist auch das Denken zu retten, als behutsame Hypothese behält es sein Recht. Dass über Philipp Simons Zeichnungen an dieser Stelle nicht mehr geschrieben steht, bedeutet die Einsicht in die Grenzen der Theorie. Deshalb lohnt ein Besuch der Ausstellung umso mehr.

Philipp Simon „Die dritte Person“, Schiefe Zähne
Schliemannstr. 37, 10437 Berlin, 20.1.2018 – 23.3.2018  
Philipp Simon, Ausstellungsansicht Galerie Schiefe Zähne, 2017