90er-Jahre-Spezial

Die Wahrheit

2018:März // Andreas Koch

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03-2018

Eine Einführung

Wir werden langsam alt und die Treffen mit Altersgenossen, in welchen Zusammenhängen auch immer, ­sehen manchmal aus wie Klassentreffen halbgreiser Ewigjugend­licher. Denn das waren die Neunziger (und hier ähneln sie vielleicht den Endsechzigern/Anfang Siebzigern), das heimliche Versprechen untereinander, für immer jung bleiben zu wollen. Ob es nun die Raver auf den ersten Technoparties waren, die Kunsthausbesetzer in Mitte und Prenzlauer Berg mit ihren bunten Skijacken und Ost­schlaghosen, ob es die Stadtraumaktivisten aus Süddeutschland oder die Kunstschulabsolventen aus allen Akademien Deutschlands waren, alle, und ich behaupte hier einen Unterschied zum Beispiel zu den nachfolgenden Generationen der Nuller oder Zehner Jahre, alle wollten ihr Jungsein kompromisslos leben und dies sah man auch äußerlich.
Natürlich gab es viele Neunziger Jahre. Jeder hat sie anders erlebt, je nach Aufenthaltsort waren sie verschieden, auch das Arbeitsfeld spielte eine Rolle, das Alter. Ein 40-jähriger Westberliner Wehrdienstflüchtling erlebte sie anders als eine 25-jährige Ostberliner Malerin, Hausbesetzer in Mitte durchlebten ein anderes Jahrzehnt als Texte-zur-Kunst-Autoren in Köln oder als Lehrer in Stuttgart.
Für meine Generation der um die 1970 Geborenen war es die Zeit, in der wir anfingen, uns als Erwachsene zu definieren. Die Achtziger waren Pubertät, auf die man nun peinlich berührt zurückschaute. Durch den Fall der Mauer 1989 tat sich, vor allem in Berlin, ein kurzzeitiges Fenster der absoluten Freiheit auf, das sich im Lauf der Neunziger Jahre allmählich wieder schloss. Aber eben nur allmählich. Die freieste Zeit, so wurde mir als 1992 Zugezogener berichtet, hätte ich schon verpasst. Dieser Zufall, dass das eigene bewusste Erwachsenenwerden mit dem Neustart der bis dahin über 40 Jahre lang verhärteten Geschichte zusammenfiel, war etwas Besonderes.
Man könnte die Geschichte der letzten 60–70 Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg als ein ewiges Hin- und Herschwingens eines Pendels von freien, progressiveren Bewegungen zu reaktionären, konservativen Zeiten beschreiben, von rechts nach links und wieder zurück. Dem­nach folgten auf die Heile-Welt-Fünfziger, Mitte der Sechziger, die libertinären Hippies oder radikallinken 68er, darauf kamen, mit einer Zwischenphase des Pendels im Nirgendwo der etwas punkigen Nofuture-70er und des beängstigten Deutschen Herbsts 1978, die soft-konservativen Popper-Achtziger. Die Neunziger wären demnach wieder eine Zeit der Freiheit und der eher linkeren Utopien, die relativ pünktlich mit Beginn der Nuller Jahre wieder beendet wurde und in eine bis dato andauernde neoliberale Ebene mündet, mit all ihren digitalen Start-up-Eruptionen und einem immer wilder galoppierenden Kapitalismus. Das Pendel steht nicht nur bei den Bundestagswahlen wieder deutlich rechts. Tatsächlich kann man die deutschen Bundeskanzler, wenn auch leicht verzögert, relativ passgenau den Links-rechts-Bewegungen der Zeitläufe zuordnen. Von Adenauer, Erhardt und Kissinger eben zu Brandt und Schmidt. Die darauf folgende, sechzehn Jahre lang andauernde lähmende Kohlregierung fand acht Jahre lang auch in den Neunzigern statt und es dauerte, bis der sich drehende Wind auch das tiefste Westdeutschland erreichte. Und obwohl Schröder nicht die linke Offenbarung mitbrachte, sondern für viele eher das Gegenteil, hatte Rot-Grün damals 1998 eine Mehrheit von 10 Sitzen im Parlament – das war linker Wählerwille. Heute, 20 Jahre später, haben die Mitte-links-Parteien, also SPD, Grüne, inklusive der ehemaligen PDS gerade noch 40 Prozent der Sitze (1998 57 Prozent) und rechts außen sitzen fast 100 Afdler. Manchmal, wie in den 1930er Jahren, reißt sich das Pendel auch los und schwenkt nicht mehr zurück.
Aber zurück zu den Neunzigern. Sie werden nach zwanzig Jahren zu unserer jüngsten Geschichte, wir selbst geraten immer mehr in die Rolle von Zeitzeugen. Jetzt werden die Jahre einsortiert in die lange Erzählung der Menschheit und nur weniges wird übrig bleiben, so wie aus allen anderen Jahrzehnten nur wenig blieb, was unser Bild davon bestimmt. Wie erstaunlich fand ich kürzlich ein Interview mit einem Altachtundsechziger, der behauptete, Sexualität spielte damals gar keine Rolle (Heinz Bude), wobei doch das, so denke ich, die Geschichte der Sechziger überhaupt ist. „Wer zweimal mit derselben …“ als einer der wenigen Sätze, die weitererzählt werden und im Kopf kleben bleiben.
Wir können jetzt selbst miterleben, wie Geschichte gemacht wird, wie entschieden wird, was übrig bleibt – und vielleicht können wir mit zu einem zukünftigen Bild der Neunziger beitragen. Das Buchprojekt „Berlin Wonderland“ beziehungsweise „Berlin Heartbeats“ macht genau das. Im zweiten Band versammelt es Kulturleuchtturmgestalten, die im Berlin der Neunziger Jahre ihre Karriere starteten. Die Liste liest sich lustig: Judith Hermann, Klaus Biesenbach, Robert Lippok, Sven Marquardt, Flake, Dimitri Hegemann, Ol, Frank Castorf, Christiane Rösinger und Sasha Waltz – ok, vielleicht doch eher Leuchten als Leuchttürme. Aber diese Mischung aus Club, Musik, Tanz, Theater und mit Biesenbach nur ein der bildenden Kunst zuzuordnender Protagonist, fast alle aus der sogenannten Subkultur stammend, diese Auswahl fügt sich zu einem Bild, das das Jahrzehnt ganz gut beschreibt. Aber eben nur als Bild.
Die, die damals noch Bilder machten, hatten erst mal zu kämpfen. Die achtziger Jahre, mit ihren Bildheroen und Malerhaudegen, mit ihren Büttners und Oehlens und Kippenbergern hatten erst mal abgedankt. An deren punkigen Ölwitzbildern hatte man sich sattgesehen. Diese ehemalige Antihaltung wurde zu schwer und man spürte, wie sich der Markt mit hineinsog, und als dieser dann in sich zusammengesackte, wollte man endlich wieder anderes sehen.
Überhaupt kam plötzlich die Frage auf, was das eigentlich ist, das Sehen. Und damit auch die Frage nach dem Sehenden, also dem Betrachter. In keinem Jahrzehnt war der Betrachter wohl wichtiger als in den Neunziger Jahren. Die relationale Ästhetik, die dann in einem Buch von Bourriaud von 1998 auch so benannt wurde, bestimmte die Haltung. Also die Frage, inwieweit wir als Betrachter das anschauende Objekt mitbeeinflussen, welches eigentlich nur als Katalysator diente und das nur als Teil, oder Zwischenknoten eines vielverflochtenen sozialen Beziehungsgeflechts wahrgenommen wurde. Da klingen ein bisschen die Hippies der 68er durch, aber auch jede Menge Poststrukturalismus und -moderne.
Die Kunst sah gar nicht mehr aus wie Kunst, das konnte eine thailändische Küche (Tiravanija) sein, eine Cam­ping­wagenmesse (Guillaume Bijl) oder ein Wassertropfen im Stroboskoplicht (Eliasson), auch Dienstleistungen wie Sozialarbeit mit Randgruppen (Hohenbüchler), Bardekorationen (Rehberger und Pardo) oder der Betrieb von finnischen mitteltemperierten Saunen (rampe 003) wurden in den erweiterten Kunstbegriff und -betrieb aufgenommen. Das Duchamp-Moment kam zurück – Readymades everywhere. Das passte auch gut zur raumwuchernden Besetzerszene in Mitte, deren Protagonisten allerdings trotz unzähliger Fake-Spielhöllen oder Pseudo-Peepshows die höheren Weihen des Kunstbetriebs versagt blieben. Was man wiederum von Künstlern des frühen Neunziger-Künstlernetzwerks Botschaft e.V. wie ­Natascha Sadr Haghighian, Daniel Pflumm oder Christoph Keller nicht sagen kann. Auch Tino Sehgals Performance-Kunst atmet den Geist der Neunziger Jahre. Beim Googeln nach seinem Namen werden weitere Künstler genannt – „Werden auch oft gesucht“ – Philippe Parreno, Pierre Huyghe und Boris Charmatz in dieser Reihenfolge.
Letzterer spielt eine große Rolle an der Volksbühne Chris Dercons, genau wie Tino Sehgal, der dort beim Wieder­eröffnungsabend des Hauses inszenieren durfte.
Der Wechsel der Volksbühnenintendanz von Castorf zu Dercon wäre demnach ein Wechsel der Ostneunziger zu den Westneunzigern. Die noch an die Achtziger anknüpfende Ostpunkprotestattitüde mit handfester Kapitalismuskritik, Vielzigaretten- und Bierkommunismus, deren Ostberlinproletariatskantinencharme auch viele ­Wessis wie Pollesch, Wuttke, Meese oder Schlingensief integrierte, wich den relationalen Globalästheten, die irgendwie auch links und kritisch sind, dafür wenig rauchen, irgendwie smarter wirken und so den großen Schritt in die Jetztzeit versuchen.
Denn was geschah in den jetzt fast zwanzig Jahren nach Ende der Neunziger Jahre aus künstlerischer Perspektive? Um die Jahrtausendwende gab es eine erneute Konter­revolution. Das Material kam zurück. Mit der Nuller-Jahre-Kunst etablierte sich wieder dicke Ölschinkenkunst, der pinselnde oder bildhauernde Ich-Künstler stellte sich wieder an seinen angestammten Platz. Relationskunst wurde durch Subjektkunst ersetzt und der Markt freute sich – endlich sah die Kunst wieder so aus, wie man sie kannte und wie man sie sich vorstellte. Kulissen- oder Tatortkunst, also Arbeiten, die man im Hintergrund von Filmen schnell als Kunst identifizieren konnte. Die Leipzger Schule kam hoch, frische Baudachkünstler und alte Hetzlerboys, auch Dresdner Maler, die an die lange Tradition der Malerei nahtlos anknüpften, verkauften ihre Arbeiten sehr gut.
Und auch diese Periode neigte sich im Laufe der Zehner Jahre ihrem Ende zu. Postinternet-Kunst und die sie flankierende Theorie der spekulativen Realisten wischt beide, den betrachter- und erlebnisfokussierten Intersubjektivitätskünstler, genau wie seinen Nachfolger, den egoforschenden Allein- und Genialkünstler beiseite. Einerseits übernehmen die Rechner die Simulation von Körpern, Intelligenz und Wirklichkeit und andererseits, so die Theoretiker um Armen Avanessian, existiert diese Wirklichkeit, auch ohne uns Menschen. Man braucht uns nicht mehr. Die Kunst sieht dementsprechend aus. Bei Ed Atkins fallen die virtuellen Körperhüllen zu Zigtausenden vom Himmel und prallen und springen auf den Boden wie Gummidummies. Bei der Volksbühnen­regisseurin Susanne Kennedy, 1977 am Bodensee geboren, reden die Figuren nicht, denn hinter deren Masken laufen Play-Back-Dialoge vom Band, alles so post-human wie es nur geht. Oder aber der Postinternetkünstler fräst digital schwere Steine aus und stellt sie uns gegenüber. „Wir sind da, auch ohne dich und verstehen kannst du das schon gar nicht, du armes Menschenwürstchen“, scheinen uns die Arbeiten der späten Zehner sagen zu wollen. Wenn sie denn überhaupt was sagen wollen, denn das wäre ziemlich Neunziger.
Deren Protagonisten sehen mittlerweile doch ziemlich alt aus, auch wenn ihre verdorrten und verfalteten Köpfe immer noch aus Skijacken herausragen und sie in Clubs wie dem Berghain eine nicht zu kleine prozentuale Größe, wenn auch im einstelligen Bereich, bilden. Die jetzigen Zwanzig- und Dreißigjährigen im immergleichen hochwertigen Hipsterschwarz, die auf ewig von den Displays ihrer Smartphones angestrahlten Allegleichschönen, erinnern eher an die Eltern der Neunziger-Generation, an die Fünfziger- und Anfangsechziger-Jahre-Anzug- und Kostümträger, die wie bei Jacques Tati, in ihre Büros strömen und strömten, irgendwie alterslos, die akkurat getrimmten Bärte betonen das zusätzlich.
So bleibt am Ende die Frage, wo das Pendel im Moment steht und wohin es schwingt. Vielleicht, und da sollte man genau hinhören, macht es ja doch nur tick, tack, tick …






 
Ed Atkins, „Old Food“, 2017, video still. Courtesy: the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London, Gavin Brown’s enterprise, New York and Rome, and dépendance, Brussels