Bilder vor dem Ruhm

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03-2018

Luxusleben: Ich bin, was ich nicht bin.

Eine logische Begleiterscheinung der revolutionären technologischen Umwälzungen war das Aufkommen ­einer neuen Fachrichtung in den Gesellschaftswissenschaften. Die Medientheorie nahm sich der Deutung und Einordnung der neuen Phänomene an und erobert seither die Aufmerksamkeit aller neugierigen Menschen. In Essen unterrichtete der Medientheoretiker Norbert Bolz. Er kam zu dem Schluss, wenn die Menschen nicht mehr an Gott glaubten, wäre es doch ein Segen, dass ihnen nun die Benutzeroberflächen der technischen Geräte sagten, was sie tun sollten. Die Medien seien die neue Autorität, also auch Werbung. Werbung leite die Menschen, das brauchten sie, und Konsum, denn der mache glücklich. Freiheit sei von nun an die Freiheit des Konsums. So was hörten meine Kommilitonen im Kommunikationsdesign natürlich gerne, für mich war es ein Grund, nach Leipzig zu wechseln. Ich erhoffte mir, dass die Freie Kunst, wenn auch mit derselben Diagnose, vielleicht doch noch mit anderen Idealen aufwarten würde.

Es gab mehrere, die von Essen in den wilden Osten wechselten, um Kunst zu machen. Einmal saßen wir im Auto und als ich mal wieder über meine misslingende Liebesgeschichte mit der Nachrichtensprecherin gejammert hatte, erklärte mir Stefan Seeberger zum x-ten Mal, alles sei eigentlich egal, denn wir befänden uns in der Postmoderne. Man könne sowieso nicht mehr „ich liebe dich“ sagen, weil das schon zu oft gesagt wurde. Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe (1977, auf Deutsch 1984) reihten sich ein in die strukturalistischen Argumente, obwohl das vielleicht ein Missverständnis war, nach Andrea Köhler in der NZZ vom 7. 11. 15 war „Der Discours d’amour für Barthes einsam, weil er sich den (…) damals maßgeblichen Doktrinen des Marxismus und des Strukturalismus und ihrer alles Subjektive eliminierenden Mechanismen entzieht.“ Ich war skeptisch, die Auflistung von Phänomenen als Codes des Verliebtseins war für mich kein wirklicher Trost in einer quälenden Wartezeit. Sicher ist, dass Barthes, der der Generation unserer Großeltern angehörte, persönliche Erfahrungen dahingehend verarbeitete, dass sie im Gender-Diskurs von heute immer noch gelten. „Utopie hieße, sich nicht zu dem einen oder anderen Geschlecht zu bekennen oder zu beiden gleichermaßen, sondern daran zu glauben, dass es nicht nur zwei Sexualitäten gibt, sondern Tausende.“ 40 Jahre hat es gedauert, bis die Legislative seine Utopie Realität auf dem Papier hat werden lassen. Nun, das hätten wir schon mal. Man brauche auch gar keine Kunst mehr, man könne nichts Neues mehr machen. Das Original ist tot. Man könne nur noch zitieren, oder mit Zeichen spielen. Stefan ­fotografierte dann Leute von hinten, also Hinterköpfe, eine andere Form von Porträtverweigerung, wie ich sie betrieb – ich schuf mit meinem Gesicht 250 verschieden geschminkt-gestylte Identitäten auf Tausenden von ­kleinen Buttons, To go natürlich, wie die Bonbons von Felix Gon­zalez-Torres. Cindy Sherman konstruierte ihre ­multiple Persönlichkeit anhand von Zitaten aus der Film- und Kunst­geschichte.

Mein Mentor in Köln war Wolfgang Zurborn, ein leidenschaftlicher Gegner der seit den Siebzigern sehr angesehenen Düsseldorfer Becher-Schule und seinerseits ein aktiver Semiotiker. In seinen disparaten Bildern durften sich keine Inhalte jenseits eines grafischen Spiels im Zeichenlabyrinth vermitteln. Für ihn waren die fremdbestimmt ferngesteuerten Menschen, obwohl er sie als Opfer sah, immer auch ein Grund zum – lebensbejahenden – Lachen. Er nahm den Kampf auf mit dem Absoluten. Von ihm lernte ich, wie verwerflich dieses ist – ein Grund für Kriege und Terror, der sich durch die Geschichte der Menschheit ziehe. Damit konnte ich viel anfangen. In den düstersten Momenten der folgenden Jahre sollte mir das eine Hilfe, wenn nicht gar die Rettung sein.

Und dann hatte sich plötzlich Achmad umgebracht. Er hängte sich ins Fensterkreuz, weil er nicht Künstler werden sollte, sondern Jurist. Einer der witzigsten Menschen, die es in meinem Leben je gab. Vielleicht hatte er trotzdem noch viel zu viel über das Absolute nachgedacht. Bei seinem letzten verzweifelten Rundruf bei alten Freunden hatte er niemanden erreicht. In den Neunzigern war ich relativ oft auf dem Friedhof. Zu viele mir nahe Menschen starben. Bald stand ich als Halbwaise da, bald musste ich Wohnungen auflösen. 1998 lief unsere kleine Nachbarin und liebe Freundin, die elfjährige Diana, in die Straßenbahn.

Währenddessen war die Ironie allgegenwärtig und ermöglichte Vieles. Zum Beispiel, dass Schlingensief dazu aufrief, Helmut Kohl zu töten, und ihm niemand dabei wirklich mörderische Absichten unterstellte. Das war witzig. Wenn die Pegida heute Merkel an den Galgen hängt, wird’s einem schlecht.

Dafür kündigten sich schon die Phänomene an, die sich bis heute wie ein hässlicher unsterblicher Wurm ausgebreitet haben. Am 3. April 1995 ging Jürgen Domian bei Eins Live im WDR auf Sendung. Wie man vor Kurzem lesen konnte, zog er seine Mitternachtsseelsorge über 21 Jahre durch. Ich war entsetzt, ich dachte die Welt geht unter. Was für ein Verbrecher, der Menschen in Notsituationen für die Quote missbraucht, indem er sie dazu verführt, sich vor einem Millionenpublikum zu entblößen! Alle erdenklichen Krisen, in die Menschen geraten können, sollten anderen zur Unterhaltung vorgeführt werden. Der Animateur im Helferkostüm erhielt dafür viele Preise, u.a. den Bundesverdienstorden für soziales Engagement.

Eine interessante junge Studentin klagte dieser Tage, das Leiden entbehre jeg­licher Würde, niemand schätze es. Dann zeigte sie mir ihre Arbeiten: Computeranimationen auf der visuellen Basis von Sperma-Spritzern.

Die Band „Fettes Brot“ hat 2018 auf peinliche Formate die zeitgemäße Antwort parat. Beim nordischen Sender Njoy gibt es dienstags um 22 Uhr Was wollen wissen? Da ruft zum Beispiel eine 20-Jährige an, die sich fürs neue Jahr vorgenommen hat, eine Stunde am Tag an ihrer Achtsamkeit zu arbeiten, zu meditieren, Yoga zu machen usw. Ihre Frage an „Fettes Brot“ ist nun, wie sie, die nicht so viel Freizeit habe, das mit ihrer Schichtarbeit am besten in Einklang bringen könne, denn sie ginge ja auch ab und zu gerne mal ein Bier trinken. Sie raten ihr, auf der Yogamatte das Bier zu trinken und, warum nicht, vielleicht dabei mal eine Kippe zu rauchen.

Dass es nicht nur eine Realität gebe, das war kein neuer Gedanke in der Philosophiegeschichte, aber der neue Aufguss war ungeheuer praxisorientiert: BILD-Zeitung lesen und die Welt aus anderer Perspektive genießen!

Unort ist ein Unwort der Neunziger, das, wie ich finde, jeglicher Logik entbehrt. Ein Unort ist ein Transitraum, mit dem sich niemand identifiziert, aber den viele nutzen oder wo alle durchmüssen. Das Auto konnte es noch nicht sein, Car-Sharing war noch nicht freigeschaltet. In eben dieser Zeit trauerte man übrigens um den Verlust vieler Unorte. Der öffentliche Raum verschwinde zugunsten des virtuellen. Beim Belichten von Fotopapier stellten wir uns in der Essener Dunkelkammer Reisen im Cyberspace vor. Und in dem kleinen Computerraum der Uni schaltete jemand den Beamer an. 1994 war das ein Wow-wow-Spektakel, wie eigentlich alles andere auch.

Ich ging auf in dieser neuen Feier der Oberfläche, in der Akzeptanz des Spiels mit dem Schein. Durfte mich austoben in Inszenierungen, Performances und Styling. Das hatte einen sehr lustvollen und oft einen sozialen ­Aspekt. Einmal brachte ich die Nachbarn in unserem Haus, die ich zum Teil gar nicht kannte, zusammen, stellte Kostüme zur Verfügung und schuf ein Bild einer alten ostdeutschen Hausgemeinschaft. Das war kurz vor der Sanierung. Die Räumung gehörte wohl zu dem mietfreien Wohnen dazu. ­

Rirkrit Tiravanija isolierte die Begegnung von weiteren Dimensionen der Kunst und machte das Suppeessen zu einer Version der beuysschen sozialen Plastik. Ein Happening waren so gesehen auch unsere langen Nächte der Foto-Inszenierungen, ein Fest mit Essen und Musik. Ich dachte damals oft darüber nach, was wir jetzt eigentlich von Fluxus übernommen hätten. Besonders als ich mit choreografischen Interventionen den Öffentlichen Raum betrat (Berlin), einen Engel auf dem Weihnachtsmarkt spielte, bei dem man Wünsche abgeben konnte (Köln) oder mich zur Wessi-Tussi stilisierte mit der Farbe Pink in Neon und westdeutscher Schlagermusik (Leipzig) oder die exzentrische Künstlerin (in der Provinz) performte.

Arthur Zalewski und ich, wir spielten einmal explizit mit den Erwartungen, die andere und wir selbst an uns als Künstlerpaar stellten. Bilder vor dem Ruhm (1998) hieß diese Aktion. Mit einer einmaligen Leichtigkeit produzierten wir hunderte Fotos von einer angeblichen Hochzeitsreise nach New York, dem Sehnsuchtsort, dem Zuhause aller verlorenen wie frei schwebenden Seelen. In unserer herrschaftlichen Wohnung in Leipzig hing dann z.B. „wir bei minus 40 Grad auf dem World Trade Center“. Alle Bilder für je 10 Deutsche Mark, vertrieben von unseren illustren, als Leibgarde verkleideten Mitbewohnern. Selbstverständlich mit Kaffee, Kuchen und Musik und dem morbiden Glamour, den unser golden gestrichener Kunst-Palast hergab.

Ohnehin wurde da jeden Abend auf dem Tisch getanzt, die Küche war verqualmt und im Ofen glühten die Kohlen. Keiner von uns hatte ein Handy und Menschen, die ein Köfferchen hinter sich herzogen, waren lächerlich. Das war natürlich ein Luxusleben. Die eigene Identität in Frage stellen zu können, sich und alles Mögliche zu dekonstruieren. Ich weiß auch nicht, wie viel von diesem Schwebezustand dem biografischen Alter zwischen 20 und 30 geschuldet war. Inwieweit ist nicht ein spielerischer offener Lebenswandel mit allen möglichen Experimenten typisch für dieses Alter? Aber wir hatten Glück, der Zeitgeist passte zum Alter und machte Spaß.

Dann bekomme ich von der Oper eine Einladung. Ich mache vor dem Fotografieren Schauspieltraining mit Abonennten und finde mich in der Rolle einer Regisseurin wieder. Aber wie könnte es an der Oper anders sein? – Zu viel Gefühl. Falsche Gefühle! Und meine erste verzweifelte Choreografie in der unsanierten Baumwollspinnerei. Ich hatte fast noch einen Kinderblick auf die Welt, wenn auch den eines Kindes, das nicht unbekümmert ist, sondern mit Nachdruck Forderungen stellt. Die Soundtracks, die meine Tanzstücke es geht immer weiter (1999), weg ist weg (1999) und Alles stimmt nicht (2000) begleiten, waren Ausdruck dieser Perspektive und sind auf CDs als bleibende Tonspur festgehalten. Beim Casting achtete ich darauf, dass die PerformerInnen einen kindlichen Ausdruck mitbrachten. Alle Sprech-Files widersprechen der Haltung „Nimm die ganze Sache nicht so ernst.“ Das Anything goes war zum Nothing goes geworden.
Auf einem Spaziergang am Teltowkanal äußerte eine Bekannte, die als politische Gefangene mehrere Jahre in Bautzen gesessen hatte, ihrerseits Kritik an der Leichtigkeit. Sie hasse alles Ironische der Gegenwart. Die Neunziger Jahre, diese alberne Zeit, waren ihrer Biografie nicht würdig. Sie litt immer noch merklich unter den Folgen der Isolationshaft und konnte mit der Verweigerung, irgendetwas ernst zu nehmen, nichts anfangen.

Unsere Freundin A.-L., heute mit einem Rückversicherer im Steuerparadies, fuhr 1999 mit Schlingensief einen Hilfstransport in den Kosovo. Sein Appell an die Grünen, die damals in der Regierung saßen und zum ersten Mal wieder Militär unter dem Label „humanitärer Kriegsein­satz“ ins Ausland geschickt hatten, ist in dem schweren tollen Volksbühne-Almanach 1992–2017 festgehalten. Der grüne Innenminister Schily war bereit, 5.000 Flüchtlinge von 800.000 aufzunehmen.


Wenn er noch lebte, ich tippe, Schlingensief hätte 2015 mit Angela Merkel gemeinsame Sache gemacht und die nötigen Worte gefunden, als sie sprachlos wurde, und hätte vielleicht schon damals den Schüleraustausch Ost/West organisiert und es gäbe keine rechte Partei im Bundestag. Kümmerte er sich doch 1999 als parodistischer Kapitalismus-Coach schon liebevoll um die „Abgehängten“ und versprach jedem Scheiternden eine Chance.

„Gehen Sie auf Sendung. Machen Sie mal was! Was ist egal.(…) Eine Pleite, die von Herzen kommt, ist besser als eine Million, an der Scheiße hängt. Wir geben Ihnen einige Tipps und Hinweise, etwas aus Ihrem Leben zu machen. Es ist das einzige, das Sie haben.(…) Freiheit ist, grundlos etwas zu tun, das kann gut oder böse sein. Wir haben uns diesmal für das Gute entschieden.“ Chance 2000

2017 haben wir die Sendung. „Wenn das sogenannte Volk oder der Pöbel Selbstbewußtsein bekommt, dann geht es immer schief.“ Jelineks österreichischer Dichter-Kollege Werner Schwab (1958–1994) im Zusammenhang seines Stückes Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos (1991).
Auch Christoph Marthaler war da nicht zimperlich: Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (1993) und bescherte der Volksbühne mit ältlichem Männergesang und klappriger Gesundheitsgymnastik im Gemeindesaal von Anna Viebrock einen Erfolg wie Cats am Broadway. Da waren Gestalten auf der Bühne, die sahen so schräg aus, das hätte keine Maske gekonnt, und man zweifelte, ob das überhaupt Schauspieler seien.

1999 entwickelte ich eine Installation, in der lebendige Körper in der Stille auf „tote“ Materie treffen, und realisierte sie zunächst mit Kommilitonen als Klassentreffen in dem Atelier unserer Klasse Astrid Klein. Später sollte sich dieser performative Ansatz wesentlich theatraler, wenn nicht opernhaft in der Installation Karneval (2001) im Schauspiel Leipzig gestalten. Theater bzw. Kunst mit in diesem Fall siebzig Laien zu machen, war dabei eine besonders spannende Herausforderung. Wie man dem sächsischen Polsterer die Kunst erklärt. Das Theater der Welt und das Theater auf der Bühne kommen sich immer näher.

Die Neunziger Jahre, das sind für mich auch die Paradiesvögel aus dem Buschwindröschen in Köln, die ihr Leben in der Aids-Epidemie verloren haben. Die Stadt strahlte Anfang des Jahrzehnts unter Regenbogenfahnen und breitete für meine Freundin Inger und mich weit die Arme aus. Köln wurde zum Identifikationsanker.

Hier geht man gern verlorn / Köln ist von hinten und von vorn / die Stadt, die hat, was uns gefällt / leben kann man überall / doch für uns, auf jeden Fall / ist Köln der geilste Arsch der Welt.

 
Chat, Foto-Inzenenierung „Mein Garten“, 1997