Andreas Seltzer

Stella A.

2018:Dezember // Christoph Bannat

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12-2018

Das Fragment als der heile Teil der Moderne

Du stehst auf der Grindelallee, einer der belebtesten Straßen Hamburgs, mit hochrotem Kopf. Du bist erregt durch eine faszinierende Mischung aus Sex und Ekel. Noch weißt du nicht, dass diese Mischung dich dein Leben lang begleiten wird. Du hast den Buchladen Zweitausendeins verlassen – reingegangen nur um zu „blättern“. Das kann sich keiner mehr vorstellen; Fotos hatten bis in die 80er eine typografische Bindung. Die „echten“ kamen in Form vom Stern am Donnerstag und dem Spiegel am Montag in die Familie. Oder befanden sich in Michael Gansizkis Brieftasche, die er, wenn man Glück hatte, in der großen Pause öffnete – für mich zum Pech, denn dann war die Konzentration auf die Schule weg. Erst Jahre später, vielleicht hing es mit den Drogen zusammen, von denen es hieß, sie würden das Langzeitgedächtnis aktivieren, erinnerte ich mich, was ich bei Zweitausendeins gesehen hatte. „Volksfoto“ hieß der Sammelband mit Fotografien – später wurden in der gleichen Buchhandlung Crumb-Zeichnungen, die einen ähnlich Effekt auf mich hatten, verkauft. Wir treffen uns in der Galerie Stella A., Andreas Seltzer lacht „Volk kann man heute ja gar nicht mehr so einfach sagen.“ Und heute, in Zeiten von Internet, sind Fotos auch nicht mehr dermaßen topografisch gebunden. Selbst innerhalb der Wohnung waren Fotos verortet. Ich las „Emma“, „Schöner Wohnen“ und „Zuhause“, die Zeitschriften meiner Mutter, am liebsten in der Badewanne, im Schaumbad liegend. „Volksfoto“ besteht aus essayistisch kommentierten Fotografien; Fundstücken, Foto-Spaziergängen und eigenen Foto-Recherchen. 1981 erschien der Sammelband „Volksfoto“ 1–6 im Zweitausendeins-Verlag. Dem Verlag, der sich seit den späten Sechzigern der illegitimen Kultur, all dem, was an den Unis nicht Gegenstand war, privat aber von den Studenten gierig verschlungen wurde, widmete. Zu dieser Volkskultur gehörten Filme wie „Deutschland Privat“ von ­Robert van Ackeren, Kugelschreiber-Zeichnungen von Sigmar Polke oder Fotoarbeiten von Hans-Peter Feldmann. Sie bildeten das bürgerliche Darknet, das allgemein Unbewusste der 1970er Jahre. Als ich vor einigen Jahren Studenten in Zürich den Sammelband „Volksfoto“ zeigte, verstand keiner die Geste, Fotos dermaßen zu behandeln.
Hamburg-St. Georg, St. Pauli, oder die Barackensiedlung am Ochsenzoll-Krankenhaus hatten ihre Foto-Welten. Auch wenn wir Kinder rausgeworfen wurden, sobald den ersten der Super-8-Schneewittchen-Zeichentrick-Zwergen die Knöpfe von den prall gespannten Hosenschlitzen sprangen. Oder am Hühnerposten südlich des Hauptbahnhofs, wenn gerade jene Sendungen aus der Ukraine aufsprangen, die dir den ganzen Tag einen Klos in den Hals schoben. Selbst als ich Anfang der Neunziger das Artzine DANK mit herausgab, dachte ich nicht an mein Volksfoto-Erlebnis. Erst jetzt, fast vierzig Jahre später, nachdem ich Andreas Seltzer kennengelernt habe, dämmerte es mir. Heute weiß ich um den tiefen Eindruck seiner Arbeit. Heute ist er ein Held für mich. Er hat, pathetisch gesprochen, sein Künstler-Selbst hinten an gestellt, zu einer Zeit in der „Selbstverwirklichung“ das höchste aller künstlerischen Ziele war. Denn die unausgesprochene Aussage von „Volksfoto“ ist: es ist schon alles in der Welt, es muss nur aufgedeckt, richtig arrangiert und mit Worten verbunden, zum Schwingen gebracht werden. Das machten Dieter Hacker und Andreas Seltzer. „Ich hab schon genug Beachtung bekommen“, meint der heute Mittsiebziger, angesprochen auf sein Verhältnis zu Dieter Hacker. Denn der genießt einen Ruf als Frontmann, im Gegensatz zu Andreas Seltzer, der eher im Hintergrund als Literat, Sammler, Dokumentarist, Flaneur und Rechercheur agiert. Nach Wahlverwandten gefragt, nennt er Hanns Zischler, Schauspieler, Literat und ein zurückhaltender Sammler von Zeichnungen. Dieter Hacker ist zur Zeit als Big Boy in der Stadt auf einem Ausstellungs-Plakat zu bewundern – DIETER HACKER – POLITISCH FOTOGRAFIEREN (1974–1981) – BRÖHAN MUSEUM.
Ich begegne Andreas Seltzers Arbeiten wieder in der nbk-Artothek, Tierzeichnungen einer Konzeptausstellung. Da stellt sich die Frage, wie man von der Fotografie zum Zeichnen kommt. Andreas Seltzer: „Ich hab immer schon gezeichnet, nur eben nicht gezeigt.“ Der nächste starke Eindruck auf mich waren seine „Verdun“-Zeichnungen in der Galerie Laura Mars, eine art assoziatives Geländespiel. Und jetzt, „Die Sonne von Mexiko“, bei Stella A. „Ich weiß nicht, was diese Zeichnungen genau sind. Ich interessiere mich für das Rot, das Schwarz und natürlich das Weiß des Papiers“, so Seltzer. Es sind großartige Kugelschreiber-Zeichnungen, Auslegware in eigener Sache. Waren die „Verdun“-Zeichnungen eine art spielerische Archäologie, liegt jetzt alles offen auf einem rot-weiß karierten Untergrund. Bild und Zeichen in Fetzen, wie die intuitiv arrangierten Reste eines zerpflückten Bierdeckel auf einer Tischdecke. Oder auf der ins Endlose erweiterten Rückseite einer Spielkarte als ordnender Untergrund, auf dem Fragmente tanzen. Hier legt sich einer so lange die Karten, bis das Selbst selbst in Erscheinung tritt. Bruchstücke narrativer Zeichen, eines fotoreichen Lebens als Herausgeber, Sammler, Galerist und Künstler, irgendwo zwischen Comic-Beyer und Emigholz- Fotozeichnungen. Ganz im Sinne des Dichters Thomas Kling, der sich fragte, ob nicht das Fragment der heile Teil der Moderne ist.

Siehe auch: von hundert 2, April 2007, Kito Nedo im Gespräch mit Andreas Seltzer
von hundert

Andreas Seltzer
„Die Sonne von Mexiko II – Zeichnungen“
6. Juli–18. August 2018
Stella A., Gipsstr. 4, 10119 Berlin  
Volksfoto, Zeitung für Fotografie, 1. Ausgabe, 1976 herausgegeben von Andreas Seltzer und Dieter Hacker