Lynn Hershman Leeson

KW

2018:Dezember // Ferial Nadja Karrasch

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12-2018

Juni mit Lynn

6. Juni 2018 – The Novalis Hotel, Novalisstraße 5
Ich sitze an einem der fünf Tische in dem kleinen Frühstücksraum des Novalis Hotels. Dunkle Holzvertäfelung, aufgereihte Matroschkas, Potpourri-Schalen. Der dunkle Teppichboden und der schwere Vorhang verschlingen das Licht und die Geräusche. Abgehängte Rigipsplattendecke und vergoldeter Barock-Spiegel. Ist das schon Inszenierung oder noch Realität?
Neben mir sitzt eine junge Frau. Sie schiebt mir einen Plastikbecher mit Wasser zu. Ob ich mir die Wartezeit mit der Abgabe meiner DNA vertreiben möchte? Kurzes ­Zögern. Mehr Preisgabe geht nicht. Aber ja, warum nicht, der Kunst kann man ja vertrauen. Ich leere den Becher und unterschreibe die Einwilligungserklärung. „Ich bin damit einverstanden, dass die über mich erhobenen Analyseergebnisse im Rahmen des o.g. Kunstprojekts aufgezeichnet und verwendet werden.“ Der Becher verschwindet samt DNA in einer Papiertüte.
Wenig später steige ich über knarzende Treppen in den ersten Stock, in meiner Hand den Schlüssel für Zimmer Nr. 5. Hier wohnt eine Frau namens Roberta Lester. Realität und Fiktion verschwimmen vollends, ich fühle mich zunächst gehemmt, in ihrer vermeintlichen Privatsphäre zu schnüffeln. Der Raum ist unordentlich, macht den Eindruck als würde sie jeden Moment zur Tür herein kommen. Die im Badezimmer und im Schlafzimmer verteilten Dinge – das Buch auf dem ungemachten Bett, der Schmuck, die Klamotten, das Handy, der Laptop, die Notizen an der Wand – setzen sich zusammen zu einer Personenbeschreibung. Roberta ist eine Frau, die Chanel No. 5 trägt und sich mit Genforschung und regenerativer Medizin beschäftigt. Ich klicke mich durch ihre Emails und ihren Instagram-Account. Mein Zögern ist längst verflogen, ich bin zur ­Voyeurin geworden, getrieben von dem Wunsch, mehr über eine Fremde zu erfahren. Unten klebt meine DNA an einem Becher, bereit ausgewertet zu werden und Rückschlüsse auf meine Person zuzulassen. Eine Überwachungs-Voyeurismus-Selbstinszenierungs-Schleife.
17. Juni 2018 – Künstlerinnengespräch, Gropius Bau
Im Vortragsraum des Gropius-Baus. Vorne am Rednerpult erzählt Lynn Hershman Leeson, Pionierin der Medienkunst von den Anfängen ihrer Karriere, davon, wie sie sich ihre eigene Stimme verschaffte in einer Gesellschaft, die erst Jahrzehnte später dazu bereit war, ihr zuzuhören. Ihr Gesicht ist von einem permanenten Lächeln geprägt. Amüsiert berichtet sie von ihrer ersten Ausstellung 1971 am Berkeley Art Museum, die wegen Self Portrait as Another Person (1966–68) kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen wurde. Die Arbeit besteht aus einem Wachsabguss ihres eigenen Gesichts, einer Perücke und einem Lautsprecher, aus dem eine Aufnahme der Künstlerin zu hören ist. Aktiviert durch die Anwesenheit der Betrachterin, richtet sich die Stimme an die Besucherin, so dass diese in die Arbeit einbezogen wird: „Oh there you are. I have been waiting for you all day. […] Tell me your deepest thoughts. I wanna know all about you.“ Self Portrait as Another Person wirft Fragen der Identitätskonstruktion auf und ist ein frühes Beispiel ihrer Kritik am Konzept der „einen“, unveränderlichen Identität, die durch Geschlecht und Herkunft bestimmt ist. Mit Blick auf die Bürgerrechtsbewegung, in der Hershman sich engagierte, stellt die Skulptur auch Fest- und Zuschreibungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Ethnie in Frage.
Doch Hershman war ihrer Zeit um vieles voraus, es fehlte an Verständnis und Offenheit: Die Museumsleitung fand, der Einsatz von Sound sei keine Kunst und gehöre nicht in ein Museum. Die Ausstellung wurde eilig wieder abgebaut.
Infolge dieser Erfahrung habe sie beschlossen, nicht auf den Gutwillen der Institutionen angewiesen sein zu wollen und wich auf ein alltägliches Umfeld aus. Sie begann ihre Arbeiten in Hotels und Läden zu zeigen. So entstand Dante ­Hotel, der konzeptuelle Vorgänger von The Novalis Hotel. Die Installation eröffnete am 30.11.1973 in einem heruntergekommenen Hotel in San Francisco und wurde – eigentlich als permanente Installation konzipiert – am 31.8.1974 vorzeitig abgebaut, als ein Besucher die beiden lebensgroßen, im Bett liegenden Wachspuppen als Leichen missverstand und die Polizei rief. Dante Hotel ist der Auftakt der Beschäftigung mit Roberta Breitmore (1973–1978), einem fiktiven Charakter mit eigenem Führerschein, eigener Wohnung, eigener Kreditkarte. Lynn Hershman Leeson lacht: „Something like this is impossible today, it would be identity fraud.“ Aber diese Arbeit ist BC – before computer, Teil der ersten von drei Phasen, in die Hershman Leeson ihr Werk einteilt; es folgen AD – after digital und BC – biological computing.
Im Zentrum der Langzeitperformance steht die Frage was es braucht, um eine Identität zu etablieren. Mit Roberta Breitmore inszenierte Hershman Arthur Rimbauds „Je est un autre“ und stellte Identität als soziale Konstruktion dar. Roberta besuchte Sitzungen der Weight Watchers, ging zum Psychologen, besaß eine eigene Handschrift, und veröffentlichte Kontaktanzeigen um einen Partner zu finden. Die von ihr gemachten Erfahrungen wurden in Form von Objekten und Dokumenten festgehalten; die Fotografien und Zeichnungen, ihre archivierten Klamotten und Utensilien veranschaulichen die Geschlechterpolitik des Westens und erlauben einen Blick hinter die Konstruktion sexueller Identität.
1978 verschwand Roberta Breitmore während eines Exor­zismus in Ferrara, Italien. Über Breitmores Ende sagt Hershman: „Art works in a toxic society and tries to neutralize it.“ Roberta musste verschwinden, um in einer positiveren Atmosphäre wieder zurückkommen zu können. Sind die heutigen Zeiten die besseren? Auf jeden Fall ist Roberta nicht als Breitmore sondern als Lester zurückgekehrt.

Die in der Installation Dante Hotel und in der Performance Roberta Breitmore behandelten Themen – Identitätskonstruktion, Authentizität, (Selbst-)Repräsentation, ­Gender, Beziehung des Realen zum Virtuellen, Überwachung – werden in der aktuellen Arbeit The Novalis Hotel aufgenommen und erweitert. Während die Inszenierung Roberta Breitmores immer auch an einen Körper – den der Künstlerin oder den sorgfältig ausgesuchter Doubles – gebunden war und während auch Dante Hotel mehrere „Personen“ beherbergte (zum einen die Wachspuppen, zum anderen checkte Breitmore im Juni 1974 im Dante Hotel ein), kommt The Novalis Hotel ohne die Anwesenheit eines Körpers aus. Roberta Lester, Bewohnerin des Zimmers, existiert ausschließlich in den arrangierten Objekten und in der virtuellen Welt. In Zeiten des Internets und der digitalen Technik ist die Inszenierung und Etablierung einer Identität nicht mehr an einen leibhaften Körper gebunden.
War in Dante Hotel die Besucherin der Installation „in Besitz“ des beobachtenden Blickes, so ist sie in der neuen Adaption ebenfalls Objekt einer beobachtenden Instanz. Überwachung findet hier in zwei Richtungen statt, denn nicht nur Roberta wird ausspioniert, auch die Besucherin ist Teil des panoptischen Überwachungssystems unserer Zeit, in dem Unternehmen wie Google und Facebook das Verhalten ihrer Nutzer*innen akribisch vermessen.
Mit der (freiwilligen) Abgabe der eigenen DNA und der Einwilligung in die Auswertung, stellt die Installation auch die Frage nach dem Einfluss, den biotechnologische Entwicklungen wie regenerative Medizin und Genforschung auf das Konzept „Identität“ haben.

Lynn Hershman Leeson schlug der (Kunst-)Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die für sich beanspruchte, darüber entscheiden zu können, wer eine Stimme hat und wer nicht, wer sichtbar ist und wer nicht, immer wieder ein Schnippchen: Da ihr als Frau kaum Beachtung zuteil wurde, begann sie ab 1968 unter verschiedenen Pseudonymen Kunstkritiken zu veröffentlichen. Prudence Juris, Gay Abandon und Herbert Goode schrieben für unterschiedliche Medien und vertraten oft konträre Ansichten im Hinblick auf die in den Texten besprochenen Kunstwerke – im Lob der Arbeiten der Künstlerin Lynn Hershman waren sie sich jedoch einig.
“I took the articles about my work and showed them to a gallery”, lacht sie verschmitzt. Dort war man überrascht von der Tatsache, dass sie als Frau in Kunstzeitschriften besprochen wurde und nahm sie kurzerhand unter Vertrag. Auch im Kunstsystem mahlen die Mühlen jedoch langsam und so ließ die verdiente Anerkennung noch lange auf sich warten. Als ersten Preis in einer stetig wachsenden Liste erhielt sie 1995 den Medienkunstpreis des ZKM und 2009 den Siggraph Lifetime Achievement Award „For paradigm-changing innovations with a broad range of emergent applications, and pioneering new modes of storytelling […]“1.
Mehrere Preise und Anerkennungen erhielt sie auch für die Dokumentation !Woman Art Revolution (2010), in der sie anhand von Interviews und Archivmaterial die Entwicklung feministischer Kunst von 1968 bis in die Gegenwart nachzeichnet. Nicht nur, aber auch wegen dieser Arbeit gilt Hershman Leeson als zentrale Akteurin der feministischen Kunst.

Ihre jüngsten Arbeiten beschäftigen sich mit künstlicher Intelligenz und Antikörperforschung. Diesen Sommer war die Installation The Infinity Engine am HeK Basel zu sehen. Hierfür wurde ein Lynn-Hershman-Antikörper entwickelt und ihre alten Videoarbeiten sowie die gesamten Dokumente von The Infinity Engine wurden auf einem DNA-Molekül gespeichert.


25. Juni 2018 – The Shelf, Prinzenstraße 34
„The Shelf“ ist eine alte Garage, in der 40 Jahre lang die Autos der Robben & Wientjes-Flotte untergebracht waren.2 Während in den Räumen der Kunstwerke Berlin die Berlin Biennale gezeigt wird, findet hier Lynn Hershman Leesons Ausstellung First Person Singular statt.
Die meisten der gezeigten Arbeiten entstanden in den 1970er und 1980er Jahren und antizipieren den Gebrauch des Internet und der digitalen Technologien als Tools der Identitäts-Vervielfältigung.
In der hinteren der beiden großen Hallen wird auf vier Großleinwänden die titelgebende Videoarbeit First Person Singular, the Electronic Diaries of Lynn Hershman (1984–1996) gezeigt. In dem mehrteiligen, sich über zwölf Jahre erstreckenden Tagebuch-Filmprojekt gewährt die Künstlerin anhand persönlicher Bekenntnisse und Berichte über ihren Umgang mit Krankheit, Schönheitswahn, Missbrauch und Gewalt in der Familie einen Einblick in ihr Seelenleben und in das Ringen um Selbstakzeptanz:
„Am Anfang dachte ich, okay, nun, ich bestrafe mich selbst, weil mein Mann mich verlassen hat, das ist etwas für meine Schuld, du verstehst schon, ich absorbiere all das Fett, ich esse eine Menge, ich verstecke mich und werde so mein Schuldgefühl los. [...] Als ich klein und noch ein Kind war, gab es Episoden des Missbrauchs, und ich zog mich dann auf den Dachboden zurück. Es fanden Dinge statt, über die man nicht sprechen sollte.“3
Die Frontalaufnahmen werden unterbrochen von Effekten, die das Bild stören, zerschneiden, vervielfältigen, Schwarz-Weiß-Aufnahmen nehmen plötzlich Farbe an. Diese Manipulation der Narration spiegelt die changierenden emotionalen und psychologischen Zustände der Sprecherin. Hershman Leeson definiert sich in dieser Arbeit als Individuum, das eben nicht „unteilbar“ ist (das lateinische individuus bedeutet unteilbar), das nicht untrennbar mit sich übereinstimmt, sondern als eines, das mehrere Personen in sich vereint und sich selbst vervielfältigen kann. Diese Multiplikation hat indes keine Entfremdung zum Ziel, sondern vielmehr eine Stabilisierung des Bewusstseins vom eigenen Selbst, so Peter Weibel im Ausstellungskatalog zu Civic Radar, Lynn Hershman Leesons erster Retrospektive in Deutschland, die 2014 am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe zu sehen war.
Die Videos A Commercial for Myself (1978), Commercials for New York Hotel Rooms (1974) und Lynn Turning Into Roberta (1978) werden auf von der Decke hängenden Monitoren gezeigt und sind frühe Beispiele ihrer Verwendung unterschiedlichster Medien zum Zweck der Konstruktion und Neudefinierung von Identität. In A Commercial for Myself erklärt Lynn Hershman, dass Lynn Hershman leider verhindert sei und sie daher als Ersatz eintrete. Das Video wurde im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt und veranschaulicht das Ausloten der Beziehung zwischen dem Menschen und der von ihm verwendeten Technologie. Im Laufe ihres künstlerischen Schaffens hat sich die Künstlerin allen erdenklichen Medien bedient um die Prozesse der Identitäts-Konstruktion nachzuvollziehen, aber auch um sich und ihrer Kunst einen Platz zu verschaffen. Anfang der 1970er Jahre stellte sie Briefmarken her, die ihr eigenes Gesicht zeigen. Sie verwendete diese Briefmarken, die sie neben die offiziellen Marken klebte, zum Versenden der Postkarten, die auf ihre Arbeiten aufmerksam machen sollten.
Die Arbeit Lorna (1979–82), die im vorderen Raum gezeigt wird, ist die erste interaktive Medieninstallation überhaupt. Das kulissenhafte Wohnzimmer ist das Zuhause eines weiteren fiktiven Frauencharakters, einer agoraphobischen Frau namens Lorna. Ihre Persönlichkeit setzt sich anhand der spärlich verteilten Gegenstände und der auf dem Fernseher eingespielten Sequenzen zusammen: Eine junge Frau in Abendrobe ist zu sehen, die rauchend im Zimmer auf und ab läuft, ein auf dem Boden liegendes Time-Magazin vom 17. Februar 1969 titelt: „The Cruel Dilemmas of Duty“. Anhand der Fernbedienung können die Besucher*innen Einfluss auf Lornas Geschichte nehmen, die drei mögliche Enden haben kann: Lorna kann nach Los Angeles ziehen und ein neues Leben beginnen, sich selbst umbringen oder ihre Waffe auf den Fernseher und somit gegen die Massenmedien richten. Indem die Besucherin für Lorna die Entscheidungen trifft, nimmt sie ein Stück weit ihre Identität an. Die Installation fokussiert die Auswirkungen der elektronischen Überwachungstechnologie auf das menschliche Leben und spiegelt eine absurde Gleichzeitigkeit: „When I was making Lorna, it occurred to me that here we are in a communication’s revolution and people have never been more alienated, or more lonely.”4
Venus of the Anthropocene (2017) ist die aktuellste Arbeit in der Ausstellung. Das Arrangement besteht aus einem weißen Frisiertisch über dem ein Spiegel angebracht ist und zitiert somit zwei stereotype Objekte der weiblichen Selbstbeobachtung. Auf einem Hocker davor steht ein anatomisches Modell mit goldenen Organen und Perücke. Tritt man an den Spiegel heran, erkannt man, dass der Spiegel sein Gegenüber nur scheinbar widergibt; tatsächlich werden anhand einer Gesichtserkennungssoftware Alter, Geschlecht und Stimmungslage der Betrachtenden abgelesen. Die Installation produziert so Daten ihrer Betrachter*innen und macht aus dem Individuum ein Produkt, das im Prinzip bereit ist, auf dem Datenmarkt zu zirkulieren.
Welche Rolle haben der Mensch und sein Körper in der technologisch vermittelten Welt des Anthropozän, das den Menschen als wichtigsten Einflussfaktor auf sämtliche Prozesse des Planeten versteht?
Mit dieser Frage (empfängt und) entlässt die Ausstellung First Person Singular die Besucherin.


1
www.siggraph.org [letzter Aufruf am 20.8.2018]
2
siehe auch in diesem Heft S.23ff, Murks und Moritz von Peter K. Koch über das gesamte Areal link
3
Deutsche Übersetzung Electronic Diaries
4
youtube [letzter Aufruf am 21.8.2018]




Lynn Hershman Leeson First Person Plural
KW Institute for Contemporary Art

The Novalis Hotel
Hotel Novalis, Novalisstraße 5, 10115 Berlin-Mitte
19.5.–17.6. 2018
First Person Plural
The Shelf, Prinzenstraße 34, 10969 Berlin-Kreuzberg
19.5.–15.7. 2018  
Lynn Hershman Leeson, Installationsansichten Novalis-Hotel, 2018, Fotos: Ferial Nadja Karrasch
Lynn Hershman Leeson, First Person Plural, the Electronic Diaries of Lynn Hershman, 1984–96 Installationsansicht The Shelf, 2018, Foto: Ferial Nadja Karrasch
Lynn Hershman Leeson, Venus of the Anthropocene, 2017, Foto: Ferial Nadja Karrasch