Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Sommer und Herbst

2018:Dezember // Einer von hundert

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12-2018



3. Juni, Kindl, Neukölln
Eine Ausstellung des Künstlerduos Taiyo Onorato und Nico Krebs: schöne Bilder, toll gemacht, hochwertig produziert. Und von allem etwas dabei: Analoge Fotografie, manipulierte Fotografie, in S/W und in Farbe, 16-mm-Filme, Installationen, Skulpturen, ein bisschen Konzeptuelles, ein bisschen Dokumentarisches. Viele Motive sind auf Reisen entstanden, in die USA, Mongolei etc. – das muss man sich auch erst mal leisten können, das Reisen. Ich frage mich: was wollen die beiden, abgesehen davon, alles, was man gerade so macht, auszuprobieren und in denen eigenen Künstlerkosmos zu integrieren, um es dann zu verkaufen?

6. Juni, Hamburger Bahnhof
Hello World! Dabei müsste es eigentlich Good Bye World! heißen, wie Silke bemerkt. Denn eigentlich sollte es darum gehen, den westeuropäischen Zentrismus und damit die eigenen Narrative zu hinterfragen und zu verabschieden. Doch so weit kommt es nicht. Vielmehr geht es darum, die Internationalität der Sammlung hervorzukehren und unter abstrakten Titeln wie Agora oder Colomental einzelne Aspekte/Themen herauszuarbeiten. Was dabei herauskommt, wirkt kleinteilig und bemüht, aber nicht besonders konsequent. Man spürt, dass sich das Museum einer allzu kritischen Revision verweigert und ich frage mich, welche Kräfte es sind, die das verhindern. Die Mitarbeiter, die schon seit Jahren an einer kritischen Revision ­arbeiten? Die Geldgeber? Die Sammler? Oder der selbstgefällige Kittelmann, der sich einfach grundsätzlich nicht reinreden lassen will?

20. Juni, Steinstraße
Vor einer Boutique in der Steinstraße liegt das neue Berlin Fashion Week Magazine, Coverstory Johann König. Er posiert mit seinen design-affinsten Künstlern und Mitarbeitern in einer Claudia-Comte-Installation, die ja gerade in seiner St. Agnes-Kirche aufgebaut ist und stark an die Chipperfield-Baumstämme in der Neuen ­Nationalgalerie von vor drei Jahren erinnert. Jedenfalls ist es wieder einer der Versuche, Fashion und Kunst kurzzuschließen, um daraus eine Cool-und-Cool-hoch-zwei-Formel zu schrauben. Meiner Meinung nach profitiert von dem Zusammenschluss meist keine der beiden Seiten. Der Mehrwert besteht maximal in der Verwertbarkeit für unsere Gossip-Kolumne hier. Der Text im Fashion-Heft zählt alle Verbindungen, die Künstler mit der Mode bisher eingingen, auf und bei keiner verlässt einen das Gefühl, das entsteht, wenn man zum Beispiel an eine Jeans, designt von Martin Eder, denkt.
Hier nun kurz die Auflistung der zum doch eher laschen Shooting erschienenen Künstler (der Höhepunkt vielleicht Lena König in einem bunt bedruckten Overall und Golden-High-Heels etwas steif in der Elmgreen&Dragset-Schubkarre, die normal ein Brunnen ist), also hier die Liste ohne Mitarbeiter: Anselm Reyle (wer, wenn nicht er?), Andreas Mühe (besser hinter als vor der Kamera), Claudia Comte (she’s so Design) und das war’s, die anderen 10 gehören zum erweiterten Staff. Wer fehlt und wen hätte man doch sehr gerne gesehen? Monica Bonvicini natürlich, als Lady Gaga der Kunstszene, Elmgreen&Dragset als stilsicherste, sicherlich in die Jahre gekommene Boy­group, Natascha Sadr Haghighian als Miss Super-Understatement, ­Katharina Grosse im und als Overall per se, ­Michaela Meise bestimmt, und natürlich Tatiana Trouvé mit Hund als Extravaganz-pur, alle anderen natürlich auch. Allein die Imagination dieser Bilder reicht um den ganzen König-Kosmos in eine einzige Fashion-Design-Magazine-Edition-Shop-Wolke einzunebeln. Es ist halt an manchen Stellen aber doch schade um die Kunst.

21. Juli, Kunstsäle Berlin
Auf Sinnsuche mit Ellen Blumenstein. Läuft. Mit einem überzeugenden und konsequent verfolgten Konzept, einer tollen, bunt-gemischten Kunstauswahl, eigenen präzisen und lustigen Texten im Flyer sowie einem ungewöhnlichen Veranstaltungsprogramm. Ich sitze im Wartezimmer und lasse mich einweisen …

25. Juli, Sommerbad Humboldthain
Tropez – ein Kiosk im Schwimmbad wird zum Kunstort erklärt – und die Folge sind überteuerte Pommespreise, eine leere Bühne und Bademeister, die sich über Artist-Hipster beschweren, die meinen, wenn das Bad schon geschlossen ist, noch ins Wasser springen zu müssen.

5. September, zu Hause
Ich öffne eine E-Mail vom Netzwerk Projekträume und lese die Nachricht, dass Axel Reinert am 29. August nach längerer Krankheit gestorben ist. Einige Wochen zuvor sah er sich meine Ausstellung in Marzahn-Hellersdorf an, las Begleittexte und erkundigte sich zum Ablauf der Ausstellungsvorbereitung und zur Galerie und berichtete von einer Eröffnung in Neukölln, die er zuvor besuchte. Als dieser treue und aufmerksame Freund, Kunstliebhaber und Vermittler wird er vielen Künstler/innen, Kurator/innen und Projektraumleiter/innen fehlen. Axel war ein engagierter Netzwerker und schuf wichtige Synergien, u.a. beim Schillerpalais e.V., beim Top, Verein zur Förderung kultureller Praxis e.V. und beim Netzwerk freier Berliner Projekträume und -initiativen e.V. Auf seinem von vielen geschätzten Blog schrieb er zu Kunstveranstaltungen in Berlin und Leipzig.

11. September 2018
An der Wand der Kapelle, in der die Trauerfeier stattfindet, hängen Fotos, die Axel als Familienmenschen, Reisenden und Stadtmenschen zeigen. Im gegenüberliegenden Café, das Axel gerne besuchte, versammeln sich später die Trauer­feiergäste an Bistrotischen. Es ist berührend, zu diesem Anlass so viele Gesichter aus der Berliner Kunst- und Projektraumszene in dem Weddinger Kiez-Café zu sehen. Jeder erzählt etwas über seine Begegnungen mit Axel, über konstruktive, kritische Kunstgespräche mit ihm und seine Neugierde auf innovative und interdisziplinäre Kunstproduktion und -präsentation. Nicht nur an diesem Septembertag verbindet Axel viele Menschen miteinander.

30. September, Hangar Tempelhof
Ich weiß nicht. Irgendwie fühlt sich das doof an. Da werden die Tempelhofer Hangarhallen als die große neue Location gepriesen. Sie sind ja auch toll, die Hallen, vorallem der Blick auf die große Weite des Tempelhofer Felds, der Blick weg von der Kunst als Erholung. Aber das war alles schon da. Eine stinknormale Messe in einer Nazihalle gab es schon bis 2010 mit dem Art Forum. Warum denn das ganze Bohei um die abc, der Umzug erst in die Gleisdreieckhallen, das ganze Experimentieren mit neuen Formaten, die durchaus erfrischend waren. Nur um jetzt unter der Ägide der Art Cologne genau das gleiche wie damals zu veranstalten, gefühlt sogar ein bisschen enger und vollgestopfter als je zuvor?

1. Oktober, zu Hause, am Iphone
Thilo Heinzmanns Jahr 2018 gehört zweifelsohne zu seinen besseren. Da ergattert er sich einerseits eine Professur an der UdK und verstärkt den Malerblock um Thomas Zipp und wird andererseits das Portfolio von ­neugerriemscheider erweitern.
Was allerdings Guido Baudach von dem Galeriewechsel hält, kann man nur ahnen. Thomas Zipp, der bestimmt bei der Berufung an der UdK für seinen neuen Kollegen ein stimmkräftiges Wörtchen mitzureden hatte, dürfte über die Schwächung seiner Hausgalerie auch nicht allzu happy sein, aber wer weiß das schon. So ist das halt, ähnlich wie wenn der FC Bayern einem anderen Club einen Spieler wegkauft. Ob Heinzmann die Erwartungen erfüllen wird, bleibt offen.

27. November, Büro
Kommt mein Kollege ins Büro und verkündet das ­zuletzt in seinem Morgencafé Gelesene. Pro Kopf würden in Deutsch­land 83 kg Lebensmittel pro Jahr weggeworfen, allerdings, so relativiert er, sei die Einzelperson nur für 43 kg zuständig, für den Rest wäre Produktion und ­Einzelhandel verantwortlich. Ein paar Stunden später mokiere ich mich, dies schon zum wiederholten Male, über die ­halbvollen, schon lange verfallenen Milchtüten im Kühlschrank. Er flippt aus. Ich wäre ja sonst der Einzige, der den Kühlschrank okkupiert, ich müsste das akzeptieren, dass auch andere was darin haben, gehe mich nichts an usw. Wem gehöre denn das Soja-Zeugs in der Ecke?
Naja, so rechne ich still in meinem Kopf hoch, waren ja erst 10 kg dieses Jahr, die ich, an den sauren Milchtüten schnüffelnd, entsorgt habe. Und es sind ja noch ein paar andere Milchtrinker hier im Büro …
Berlin Fashion Week Magazine #26
Axel Daniel Reinert, *8.2.1957 Düsseldorf † 29.8.2018 Berlin