Die leere Mitte

Teil 2: Über das elitäre Kunstfeld

2018:Dezember // Anna-Lena Wenzel

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12-2018

Über das elitäre Kunstfeld

In Kunstmuseen passiert es mir immer wieder, dass ich fast die einzige Besucherin bin. Letztens war das so in der Kunsthalle Wien, davor fühlte ich mich einsam in den Kunst-Werken und dann erinnere ich mich an einen Besuch des Fridericianums, als nicht documenta-Zeit war – und mir die Ausstellungsräume riesig und verlassen vorkamen. Das liegt natürlich daran, dass ich nicht zu den Eröffnungen da war, aber mir fiel es plötzlich auch auf, weil ich in letzter Zeit öfter im Naturkundemuseum war – in dem irgendwie immer mehr los war als in den Kunstmuseen. Dabei befinden sich diese Museen meistens an super zentralen Orten und residieren in repräsentativen Gebäuden mit großzügigen Räumlichkeiten.
Anfang 2018 rüttelte Wolfgang Ullrich das Kunstfeld mit seiner These über ein Schisma auf, welches die Kunst zwischen Kunstmarkt und kuratorischen Großereignisse aufteile und zerreiße – „ein Schisma – das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen“1. Gleichzeitig klammert er die zahlreichen Orte für Kunst, wie Kunsthallen und Kunstvereine, aus, die zwar sowohl vom Markt beeinflusst sind und ebenfalls mit mehr oder minder starken Kuratorenpersönlichkeiten bestückt sind, doch primär Orte für die Kunst sind. Ist das Zufall?
Meine These ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dieser Leere und dem Elitärer-Werden der Kunsttempel. In „Tod einer Kritikerin“ von Annika Bender aka Steffen Zillig und Dominic Osterried bezeichnen die Autoren die Kunstwelt als Sekte und belegen dies anhand verschiedener Kriterien. Sie führen an: Elitebewusstsein, Isolation von der Außenwelt, Gruppendruck, Etablierung einer eigenen Kunstsprache. Zu letzterem zitieren sie Alix Ruhle und David Levine’s Aufsatz „Zur Karriere der Pressemitteilung in der Kunstwelt“, in dem diese schreiben, dass „der spezifische Sprachduktus, wie er bis heute in Katalogen, Pressetexten, akademischen Kunstzeitschriften und Symposien die Regel ist, […] von Beginn an eine stark selektierende Wirkung auf den Diskurs [gehabt habe]. Wer ihn zu gebrauchen wusste, ‚signalisierte damit, dass er über ein geschärftes kritisches Vermögen verfügte; präsentierte sich streng im Urteil, politisch engagiert und akademisch qualifiziert.‘ Diese Signalwirkung sei dermaßen effektiv, dass sie sich immer weniger mit dem tatsächlichen Inhalt abgleichen müsse – der durch den Sprachgebrauch dargebrachte Beweis der Zugehörigkeit genüge.“2

Ich mache das an folgenden Beobachtungen fest: die ausgestellten Positionen sind oft extrem komplex, referenzüberladen und theoriegestärkt; angesprochen wird ein gehobenes, gebildetes oder szeneinformiertes Publikum; die Orte für die Kunst werden durch Design, Sprache, Auswahl der Mitarbeiter*innen zu exklusiven, erhabenen Orten; um diese Orte zu besuchen, müssen Nicht-Dazugehörige/ -Eingeweihte zahlreiche Schwellen übertreten.3
Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, folgen zwei Beispiele:
Aus dem Begleitheft zur Ausstellung „Florian Hecker: Halluzination, Perspektive, Synthese“4: „FAVN, eine Abstraktion zum Komplex der Psychophysik des späten 19. Jahrhunderts sowie Debussys → Prélude à l’après-midi d’un faune, das seinerseits eine musikalische Auseinandersetzung mit → Stéphane Mallarmés Gedicht L’après-midi d’un faune ist, bilden die Ausgangssituation zu Resynthese FAVN.
Resynthese FAVN ist das Resultat einer minutiösen, computergesteuerten Analyse, Umformung und anschließenden → Resynthese von Heckers ursprünglicher Arbeit. Bereits Mallarmés Dichtung, aber auch Debussys Komposition spüren der unscharfen Grenze von Realität und Imagination, sensorischer Empfindung und halluziniertem Ereignis nach. Resynthese FAVN schreibt diese Ambivalenz fort und zwingt die Hörer/ innen über einen algorithmisch gesteuerten Prozess der Klangerzeugung zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung akustischer Realität. Während der Ausstellung sind im Laufe eines jeden Tages verschiedene Versionen zu hören – graduelle, sich immer mehr kristallisierende Ausführungen der Arbeit. Signifikant ist die konzeptuelle Zuspitzung der von Debussy verdichteten Tendenzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Quantifizierung der Sinne, pointierter Einsatz von → Timbre und Klangfarbe. Inmitten einer reduzierten Bühnensituation präsentiert sich der komplexe Sound als etwas, das sich auf keine bekannte Quelle zurückführen lässt. Letztlich realisiert unsere auditive Wahrnehmung die Klänge als sensorische Objekte mit unterschiedlicher Verortung. Damit problematisiert Resynthese FAVN auch den Begriff einer singulären oder in sich geschlossenen Perzeption.“
Aus dem Begleitheft zur Ausstellung „Anicka Yi. Jungle Stripe“5: „Anicka Yi untersucht mit ihren Arbeiten Lebensformen, Organismen und mikrobiologische Prozesse. In Anlehnung an die Kosmologien indigener Bevölkerungen des Amazonas setzt sie sich mit einem nicht-anthropozentrischen, nicht-hierarchischen Denken auseinander, welches der Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro als multinaturellen Perspektivismus (multinatural perspectivism) beschreibt. So wird Natur in ihrem Film „The ­Flavor Genome“ (2016) nicht absolut aufgefasst, sondern fügt sich aus einer Vielzahl von Perspektiven und Wahrnehmungen zusammen. In szenischen Episoden zeigt Anicka Yi eine fließende Mutation von Arten und damit zugleich, wie sich Biologie nicht länger von ihrer Narration, ihrer Biografie trennen lässt. ‚Die imperialistische Kulturverschmutzung, die Plünderung des Planeten, die untergegangenen indigenen Zivilisationen – all das hat die Menschheit bis heute nicht verdaut. Es sind Grundbestandteile des aromatischen Profils der Tropen‘ (aus The Flavor Genome).“

Zwei Dinge beschäftigen mich beim Lesen dieser Texte: Dass die beschriebenen Kunstwerke offensichtlich zahlreicher Erläuterungen bedürfen, um in ihrer ganzen Vielschichtigkeit erfasst werden zu können, und dass die Texte so anspruchsvoll geschrieben sind, dass sie eines akademischen Hintergrunds bedürfen, um komplett verstanden zu werden. Die Fragen, die sich daran anschießen, lauten: War das schon immer so oder nehme ich das nur so wahr? Und gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Beobachtungen und der Leere der Museen? Meiner Meinung ist die Über-Komplexität Ausdruck der Sektenhaftigkeit des Kunstfeldes und ein Mittel um symbolisches Kapital zu markieren. Zwar sollen die ausgeweiteten Vermittlungsprogramme und neu geschaffenen „Curator of Outreach“6-Stellen dem entgegenwirken und für eine „Diversifizierung in Programm, Team und Publikum“7 sorgen, doch durchdringen sie nicht die Institutionen, sondern fungieren oft als schmückendes Beiwerk. Das Ergebnis sind vielfältige Ausschlüsse, ein elitäres Kunstfeld und leere Mitten.


1
perlentaucher, Stand: 11.1.2018.
2
Annika Bender: Tod einer Kritikerin, hrsg. v. Valérie Knoll u. Hannes Loichinger, Berlin 2017, S. 6f.
3
Vgl. Eva Sturm: Im Engpass der Worte. Sprechen über moderne und zeitgenössische Kunst, Berlin 1996, S. 26.
4
Kunsthalle Wien, 17. 11. 2017–14. 1. 2018.
5
Fridericianum, Kassel, 29. 5. 2016–4. 9. 2016.
6
Ausschreibung Bröhan Museum, 14. 12. 2017.
7
Ausschreibung Museum für Völkerkunde Hamburg, 10. 1. 2018.

Foto: Montage von hundert