In Häuser wohnen

2018:Dezember // Sophie Aigner

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12-2018

In Häuser wohnen

Nachdem du aus der Verhandlung raus warst, fragtest du dich, ob du noch die Kriegsnummer hättest hervorholen sollen oder zumindest die Kirchennummer, denn so wie du auf der Wiese erst noch Applaus bekommen hattest, so wurdest du später dann auf dem Amt beleidigt und dabei hattest du dich nach dem Applaus bereits als Redeanführer erst ganz kleiner und dann immer größer werdender Gruppierungen gesehen, als Ausführenden gewichtiger Argumente, von Dorf zu Dorf weitergereicht, doch dieses Bild scheiterte, denn als du aufs Amt gingst, um alles zu Protokoll zu geben, ging niemand aus dem Dorf mit, und von dem Moment an warst du der einzige, der angreifbar war und also wurdest du auch angegriffen, denn der Bauherr fühlte sich in die Enge getrieben, nachdem du mit einem Zeitungsartikel in der überregionalen Presse drohtest, da auch du dich in die Enge getrieben sahst.
Zu Beginn der Verhandlung kamen wir Dorfbewohner alle aus unseren Häusern heraus auf die Wiese, auf der das vielstöckige Apartmenthaus geplant war, und wir beschwerten uns beim Bauherrn und bei den Architekten, die die Pläne in mehreren Händen auf Sichthöhe hielten, wir standen eine ganze Weile dort herum und diskutierten unter- und miteinander, und immer wieder beleidigten wir den Bürgermeister, der auf Du und Du mit den meisten von uns war und der sich nicht mehr zum See traute, wie er meinte, woraufhin eine von uns erwiderte, dass er ja auch viel Gutes für das Dorf getan hätte, aber es würde nunmal zu viel gebaut, immer fürchterlich hässliche Gebäude, und die grüne Wiese inmitten des Dorfes entlang der Allee, die heute Blumen und hohes Gras trägt, würde nun also auch bebaut und eine weitere von uns, die ihre Zimmer zwei Saisons lang nicht an Feriengäste vermieten wird können aufgrund des Lärms der Baustelle auf dem Wiesengrundstück nebenan und die also zwei Jahre kein Einkommen haben wird, auch sie beschwerte sich auf der Wiese, und obwohl du nicht unmittelbar betroffen bist, traf es dich doch, vielleicht weil du überhaupt zum ersten Mal als Erbe zu einer Verhandlung im Dorf eingeladen worden warst. Es stellte sich dann auf der Wiese schnell heraus, dass es sich bei der Veranstaltung um keine Verhandlung, sondern vielmehr um eine Informationsrunde handelte, außerdem war uns allen klar, dass es keinen Wohnbedarf in unserem Dorf, zumindest keinen Erstwohnsitzbedarf gebe und dass es sich bei den geplanten Wohnungen also um Ferienwohnungen handeln werde, die offiziell als Zweitwohnsitz angemeldet werden müssten, aber für Zweitwohnsitze bekämen Gemeinden wie die unsrige kaum Geld und also und überhaupt wären wir darauf angewiesen, all die grünen Wiesen inmitten des Dorfes zu verkaufen und Häuser drauf zu bauen, dann kann auch endlich die neue Wasserzuführung gelegt und bezahlt werden, die es schon lange braucht. Die Obstbäume auf der grünen Wiese würden vorerst nicht gefällt, um die Straße zu verbreitern und um den Schaufelbaggern Platz zu schaffen, so sagte unser Bürgermeister und nebenbei, fuhr er fort, würden doch einige von uns im Mittelalter wohnen, denn unsere Häuser seien aus Stein und mit Satteldach gebaut, und heute wäre das nicht modern, und da sagten wir, die geplanten Wohnungen würden viel zu klein für Familien sein, das wäre doch offensichtlich, dass es sich hier um Ferienwohnungen handeln würde und da meinte der Architekt, er habe einige Freunde, die sich keine größeren Wohnungen leisten könnten, würden sie eine kaufen wollen, aber die geplanten Wohnungen, da waren wir Dorfbewohner uns sicher, würden sich auch die Freunde des Architekten nicht leisten können, denn Wohnungen mit Pool und Terrasse und 3–4 Autostellplätzen pro Wohneinheit könnten nicht gerade billig sein. Übrigens verwendete der Bauherr mehrfach das Wort Visualisierung, denn einige von uns kannten das Wort nicht, er aber kannte es, denn er hatte schon viele Objekte gebaut und einige Visualisierungen in den Händen gehalten. Die Visualisierung, um die es bei der Veranstaltung auf der Wiese ging, musste er nicht halten, das erledigten die Architekten, und diese zeigte die Siedlung aus Sicht der Allee, wo die Häuser niedrig sein werden, nach hinten hin aber da werden sie auf viele Stockwerke ansteigen, das sahen wir auf der Visualisierung nicht, und in dem Zusammenhang meldetest du dich zum ersten Mal, nämlich dass man den Kirchturm im Ort nicht mehr wird sehen können, und da lachte der Bauherr und verwundert guckten die Architekten. Deren Arbeiten hatten wir uns vor der Verhandlung im Netz angesehen und hatten sie zunächst okay gefunden, auf der Wiese mochten wir sie bereits, später dann fanden wir sie großartig, obwohl nichts davon recht zutraf, aber im Laufe so einer Verhandlung steigern sich die Begrifflichkeiten, wenn das eigene Anliegen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll, was aber häufig nicht gelingt, in dem Fall zumindest ganz sicher nicht, denn die Häuser werden zu 95 % gebaut, so viel steht fest, da fährt der Zug drüber, wie unser Bürgermeister meinte. Pure Nostalgie sei das, was uns vorschwebe, hielten uns die Architekten vor, woraufhin du meintest, dass es auch behutsame Bauweisen gäbe, welche, die Umgebung mit aufnähmen und dass du seine Architektur ganz phänomenal fändest, und er hätte doch einige Projekte in dieser Art bereits gemacht, woraufhin er wiederum sagte, dass die geplanten Häuser im Stile der klassischen Moderne gebaut würden und sowieso, hieß es dann weiter, ginge es bei der Verhandlung nicht um die Architektur, sondern einzig um die Bauplanung und der Bürgermeister wunderte sich lauthals, warum überhaupt noch keine der Fragen aufgekommen war, von denen er erwartet hatte, dass sie kommen würden, und wir und du fragten uns, welche Fragen das waren, die wir alle bisher verpasst hatten zu stellen. Und als du dann das Stichwort des kulturellen Erbes in die Runde warfst, das du als Erbe schließlich gut beurteilen kannst, als du also über die geplanten Gebäude aus Glas und Beton sprachst, da bekamst du von uns Applaus, und im Übrigen, ergänzte eine von uns, dürften die geplanten Häuser nach den Richtlinien des Naturschutzes ein Stockwerk zu hoch sein. Auf das oberste Stockwerk verzichten wollte er sicherlich nicht, das ließ der Bauherr durchblicken, denn irgendwann, als wir noch alle auf der Wiese standen, hatten wir uns darauf geeinigt, dass doch wenigstens dieser Kompromiss Ruhe ins Dorf bringen würde, so wäre weiterhin der Kirchturm sichtbar und die Anwohner würden aufgrund der Verschattung durch die Brandwand nicht an Vitamin D-Mangel erkranken, aber das war keine Option für ihn, denn er hatte ursprünglich viel höher geplant und sich bereits von unserem Bürgermeister runterhandeln lassen und bald würde er gar nichts mehr verdienen bei dem Objekt, für das es keinen Bedarf gebe, wie eine von uns anmerkte, übrigens auch die neuen Bauten gleich um die Ecke stünden noch immer zum Verkauf.
Nachdem wir Bewohner nach der Veranstaltung auf der Wiese wieder in unsere Häuser zurückgekehrt waren, die Wiese galt immer als Grünland, das bekamst du zugeflüstert, nun war sie in Bauland umgewidmet worden, und damit sich möglichst wenige beschwerten und dem Bau Steine in den Weg legten, womöglich herausgerissen aus ihren mittelalterlichen Häusern, hatte der Bürgermeister bereits weitere Grünflächen von Bauern aus dem Dorf in Bauland umgewidmet, Bauern waren nur mehr die wenigsten und jetzt würden viele von uns also Bauherren werden, nachdem wir Bewohner also wieder in unsere Häuser zurückgekehrt waren, da gingst du aufs Gemeindeamt und saßt unserem Bürgermeister, dem Bauherrn und der Protokollantin gegenüber, und als es dann wieder auf das Thema Wohnsitz, genauer gesagt auf deinen Zweitwohnsitz kam, da fing der Bauherr an, dich zu beschimpfen, woraufhin die Protokollantin zusammenzuckte, der du gerade im Begriff warst, einen gut formulierten Satz für die Eingabe zuzuflüstern und unser Bürgermeister bemühte sich redlich, die Sätze des Bauherrn, die gegen dich gerichtet waren, immer wieder aus dem Raum zu tragen und hättest du nur die Kriegs- und Kirchennummer hervorgeholt, hätte das dem Bauherrn wahrscheinlich auf irgendeine Weise imponiert und das hätte dir am Ende des Tages genügt.
Am letzten Tag deines Urlaubs sahen wir dich die Allee entlang gehen, du gingst immer wieder um die grüne Wiese herum, mit einem Plakat, auf dem keine Worte standen, irgendwann schloss sich die Blaskapelle an und spielte, der Bürgermeister und die Protokollantin gingen mit und alle anderen, wir alle gingen gemeinsam mehrere Runden um die Wiese. Dann fuhrst du zurück in die Stadt mit dem Schlüssel, auf dessen Anhänger Landhaus geschrieben steht und du wirst dieselben Schlüssel mit dem Versprechen nach Erholung einen Sommer später wieder hervorholen, du wirst eine Baustelle sehen, zu der es eine Bauverhandlung gab, die erst auf einer grünen Wiese und später auf dem Amt stattgefunden hatte, auf der du erst Applaus bekommen hattest und später beschimpft worden warst, was vermutlich eine ganz natürliche Abfolge bei solchen Veranstaltungen ist, obschon sie dir in umgekehrter Reihenfolge lieber gewesen wäre, und im Fall der umgekehrten Reihenfolge hättest du, hätten wir mit dir, wir alle hätten uns auf den Schaufelbaggern dicht gedrängt und, von Gewehrsalven begleitet, die Schaufelbagger aus unserem Dorf hinausgefahren, irgendwo hin, doch das ist reine Spekulation.