Hendrik Czakainski

Urban Spree – Gespräch mit Max Dax

2018:Dezember // Wayra Schübel

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12-2018

„Vielleicht liegt die Zukunft der Urbanisierung in einer gewissen Form von Nicht-Kommerzialität“

Siedlungs- und Denkmodelle, die (Im-)Mobilität legitimierter Kulturkonzepte und die gegenseitige Einflussnahme von Musik und bildender Kunst – das sind Themen, mit denen sich Max Dax zu unterschiedlichen Tageszeiten beschäftigt. Aktuell kuratiert er die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC, die im kommenden Jahr in den Hamburger Deichtorhallen eröffnet. Wir begegneten uns bei der Vernissage der Ausstellung SWITCH-OVER von Hendrik Czakainski in der Urban Spree Galerie, zu der er eine Begrüßungsansprache hielt. In dieser Einzelausstellung setzt sich Hendrik Czakainski ästhetisch mit Phänomenen der Urbanisierung auseinander.

Wayra Schübel / Hendrik Czakainski baut ­Wandskulpturen wie abstrakte Modelle menschlicher Siedlungen, die je nach Nähe des Betrachtenden zum Werk, von der Makro- zur Vogelperspektive erlebt werden können. Sein Galerist, Pascal Feucher, ist von der Anselm Kieferschen Tragik, an die er sich erinnert fühlt, begeistert. Du hattest in deiner Eröffnungsansprache einen Bogen geschlagen, der vom Prager Stadtmodell hin zur Favela in Brasilien reichte. Magst du diesen Bogen kurz erläutern?
Max Dax / Es ist doch eine Qualität, wenn Arbeiten eines Künst­lers bei unterschiedlichen Betrachtern andere Assoziationen wecken und unterschiedliche Gedankengänge antriggern. Tatsächlich habe ich mit Hendrik Czakainski mehrfach bei meinen Besuchen in seinem Atelier über die inspirierenden Architekturen gesprochen, die ich in brasilianischen Favelas zu Gesicht bekommen habe. ­Hendrik hat entsprechende Quartiere in Mumbai besucht. Ich vermute, sie unterscheiden sich stark, und doch weckt die spürbare anarchistische Freiheit, die in diesen Quartieren zu bemerken ist, in uns Betrachtern Sehnsüchte, auch wenn jenseits der unfassbar schönen Do-it-yourself-Architekturen natürlich Abgründe zu finden sind – von Drogenmissbrauch über Gewaltkriminalität bis hin zu Fragen der Hygiene. Hendrik und ich hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit über die Symmetrie in seinen Halbreliefs. Ich argumentierte: Sie sind zu symmetrisch-ornamental angelegt, wo doch die Merkmale dieser Siedlungen die Asymmetrie und das Anarchistische sind. Und doch finden sich in diesen freien Asymmetrien stets modulare Elemente, wiederkehrende architektonische Raster, die es beispielsweise Anthropologen oder ortsfremden Architekten erlauben, in dem Chaos solcher städtebaulich selbstorganisierten Stadtviertel wiederkehrende Strukturen zu entdecken und daraus Systeme zu entwickeln, mit denen die Lebensqualität angehoben werden kann, ohne die architektonische DNA dieser Orte zu hintergehen. Ich glaube einfach, dass Hendrik Czakainski – wie ich auch – vom Vogelblick auf das Gewimmel, das Stadtbild oder den Ameisenhaufen fasziniert ist. Auch er würde vermutlich wie ich Stunden nicht nur vor Anton Langweils Papiermodell der Altstadt Prags verbringen, sondern auch die Zeit vergessend, dessen 3D-Rendering am Bildschirm im selben Raum durchschreiten. Hendrik muss allerdings aufpassen, dass er nicht seiner eigenen Ästhetik verfällt. Er arbeitet derzeit an Ausweitungen seines bildnerisch-skulpturalen Vokabulars in Richtung Abstraktion, indem er hineinzoomt in seine eigenen urbanen Welten. Zunehmend werden Leerstellen thematisiert, Grundrisse von – möglicherweise – großen Gebäuden, die aber undefiniert bleiben, an die sich seine urbanen Fantasien schmiegen.
Schübel / Du erzähltest, wie Pascal Feucher und du euch auf einer Messe in Prag kennengelernt hattet, zu der ihr als nicht-kommerzielle Galerien/Off-Spaces eingeladen wart.
Dax / Kannten wir uns nicht bereits vorher? Aber es stimmt: Dadurch, dass sowohl „Urban Spree“ als auch die „Santa Lucia Galerie der Gespräche“ während der Art Prague im Kafka-Haus in Prag eigene Räume hatten, in denen wir unser jeweiliges Galerieprogramm präsentierten, hatten wir mehr Zeit als sonst, um uns besser kennenzulernen. Tatsächlich wurde ich gemeinsam mit Lucia Bauer 2015 von der Galeristin Jana Smrčková eingeladen, auf der Art Prague eine Art Feigenblattfunktion zu übernehmen: Man hatte wohl zu viele kommerzielle Galerien eingeladen und gemerkt, dass ein wenig Off-Galerie-Flair der Kunstmesse guttun würde. Also hat die „Santa Lucia Galerie der Gespräche“ nichts verkauft, sondern stattdessen Gesprächssituationen initiiert, unter anderem mit der Künstlerin Lola Göller, der Autorin und Kuratorin Lucia Udvardyova und mit der tschechischen Ikone des Popdiskurses, Pavel Klusak. Bei uns durfte man auch Bier trinken und Zigaretten rauchen. Unser kleiner Showroom war rund um die Uhr brechend voll, ein echter Treff- und Verknüpfungspunkt: Das Schlosszimmer, in dem sich Schicksale kreuzten.
Schübel / Wie viel Luftschloss ist in den Off-Spaces oder dienen sie eher als Keimzelle für künftige ästhetische Entwicklungen?
Dax / Ich kann hier natürlich nur für mich sprechen, noch nicht einmal für meine Partnerin Lucia Bauer. Für mich ist aber klar, dass jede Anbiederung an die Logik und die Notwendigkeiten des Marktes bereits die Gefahr in sich birgt, sich zu korrumpieren, bevor es überhaupt losgeht. Das gilt aber nicht nur für die sogenannten Off-Spaces – wobei ich mich frage, ob die „Santa Lucia Galerie der Gespräche“ ein solcher ist –, sondern auch für jeden Funktionär und Protagonisten innerhalb der Kulturbranche. Das Problem fängt doch bereits an, wenn man als Künstler Förderungen beantragt und dafür Arbeiten gemäß dem eingereichten Exposé abzuliefern hat oder auch nur reporten muss. Ich persönlich bin für bedingungslose Förderung von Kunst und von Räumen – gewissermaßen als Äquivalent zur bedingungslosen Liebe. Solange es diese nicht gibt, lehnt man die Förderung also ab, oder man schafft es, eigene Visionen konsequent umzusetzen, indem man das Spiel nach den eigenen Regeln spielt. In der Galerie der Gespräche – und nur für die kann ich sprechen – war es so, dass wir von Anfang an nach eigenen Regeln vorgegangen sind. Wir haben immer unser Publikum kuratiert, waren also nie ein demokratischer Raum, und wir orientierten uns auch nie daran, wie „man“ Gespräche „richtig“ vor Publikum zu führen hat. Naturgemäß entsteht aus einem so konsequent befolgten Versuchsaufbau zwangsläufig eine eigene ­Ästhetik, die es anschließend zu verfeinern und auszudefinieren gilt. In den vergangenen dreieinhalb Jahren haben wir ­fünfzig solcher Gesprächssituationen aufgeführt. Jede von ­ihnen wurde aufgezeichnet, taucht hoffentlich eines Tages als Textbeitrag in einem Buch auf, und hatte ihren eigenen Charakter. Vor allem hat jedes Gespräch das Potenzial, erkenntnisstiftend zu wirken. Jede Erkenntnis und jede Epiphanie wiederum führen potenziell zu Änderungen in unserem Verhalten oder Bewusstsein. In diesem Sinne können unsere Kulturorte an den Rändern der Förderung und somit der Wahrnehmung sehr wohl als Keimzellen zukünftiger ästhetischer Entwicklungen angesehen werden.
Schübel / Hendrik Czakainski ist inspiriert von seinen Reisen auf Kontinente mit hoher Bevölkerungsdichte und deren teilweise noch sehr jungen Megastädten. Das sind immer wieder auch Ballungszentren, die maßgeblich für Entwicklung von Kultur stehen. Du bist selbst viel unterwegs, in Raum und Zeit: als aktiver Kulturschaffender seit den Neunzigerjahren, in zahlreichen Metropolen. Wie erlebst du Urbanisierungsprozesse?
Dax / ­Ich hatte eine Art Erleuchtungserlebnis, als ich das Buch „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ von Peter Handke las. Das Buch ist in drei Teile unterteilt, der erste Teil gehört zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe. Darin beschreibt Peter Handke die vom Menschen angelegte Natur eines am Waldrand gelegenen Vorortes von Paris. Seit ich dieses Buch las, erscheint mir die Natur nicht mehr als lästige, zu überbrückende Distanz zwischen den Städten, sondern im Gegenteil als eine echte Sensation, die ich – hätte ich die Zeit – gerne durchwandern würde. Wenn ich aber angekommen bin in den Städten, besuche ich eigentlich immer wieder stets dieselben Orte – die gleichen Restaurants, Cafés, Bars, Wohnungen. An ihnen bemerke ich dann, wie sich die Städte verändern und verformen. Viele lieb gewonnene Orte sind in den letzten zwanzig Jahren verschwunden, obwohl an ihnen vielleicht sogar noch dasselbe Ladenschild hängt. Das liegt daran, dass ein Mehr an Kundschaft nicht immer ein Mehr an Identität mit sich bringt. Viele Orte verraten ihre Herkunft und passen sich den ort- und ziellosen Legionen ihrer Besucher an, weil ihre erratischen Schrullen vom Tages-Publikum weder bemerkt, geschweige denn wertgeschätzt werden. So verschwinden erst einzelne Speisen von den Speisekarten, dann werden die Karten durch englischsprachige Menüs ersetzt, schließlich passt sich das ganze Restaurant, von den Tischen bis zur Beleuchtung, dem Geschmack seiner treulosen Kundschaft an. Ich nenne es die Ikeasierung des urbanen Raums. Dagegenzuhalten ist nicht leicht. Es erfordert, in anderen Parametern zu denken als Effizienz, Serviceoptimierung, Wachstum, Erfolg. Vielleicht liegt die Zukunft der Urbanisierung in der Abgrenzung, der Unauffindbarkeit, der Unberechenbarkeit und der Sperrigkeit? Mit anderen Worten: einer gewissen Form von Nicht-Kommerzialität?
Schübel / … oder in totaler Vernetzung, wie bei den Smart-City-Konzepten. Apropos Vernetzung: Als Kurator widmest du dich der gegenseitigen Beeinflussung von Musik und bildender Kunst und bewegst dich im Grenzgebiet der beiden Disziplinen. Wie würdest du diese Zone beschreiben?
Dax / Genau das lässt sich eben nicht in einem Satz beschreiben, deshalb ist die Auseinandersetzung auf diesem Feld auch so spannend, und deswegen gibt es die Ausstellung. Ich bin an der Unberechenbarkeit dessen interessiert, was passiert, wenn man sich am Leben der Anderen interessiert zeigt, als bildender Künstler an Ideen aus der Musik orientiert, oder umgekehrt: sich als Musiker an Methoden der bildenden Kunst formt. Der Format- oder Medienwechsel ist allein schon interessant. Ich glaube nicht an die Genialität, ich glaube daran, dass man bereits Existierendes durch neue Verknüpfungen verändern, amplifizieren, neu erfinden kann. Jeder Film verändert sich, wenn er nach dem Rhythmus einer Musik geschnitten wird. Selbiges gilt für Musik, die entsteht, wenn ein Gemälde oder eine Fotografie als Partitur begriffen wird. Sowohl der Prozess, in welchem das neue Kunstwerk oder das neue Musikstück entsteht, ist spannend, als auch hoffentlich das Ergebnis. Die HYPER!-Ausstellung ist voller Beispiele von solcherlei Cross-Mappings. Der Begriff erhielt Einzug in mein Denken, nachdem ich ein Interview mit Alexander Kluge für die Spex führte: „Was passiert, wenn ich mich mit dem U-Bahnplan von Großlondon im Harz orientiere?“ Die Fragestellung ist grandios! Und um genau das geht es auch in der Ausstellung.
Schübel / Im Fahrplan von Musik spielen Outlaws eine große Rolle, ich denke hier an Gangster-Rap. Im Sinne dieses Cross-Mappings, welche Rolle kann Illegalität oder das Außerakademische, als Motor kultureller Entwicklungen in der bildenden Kunst spielen?
Dax / Interessant, dass du das Außerakademische als „illegal“ bezeichnest. Für mich ist das Außerakademische eher eine Subkultur in Unterscheidung zur bürgerlichen Hochkultur. Tatsächlich versuche ich nicht zuletzt, mit dem Katalog zur Ausstellung eine akademische Firewall zu durchbrechen, die im Wesentlichen und in Kunstkatalogen oft ganz explizit aus einer akademisch geschulten Sprache besteht, die mitunter wie eine Waffe eingesetzt wird. Mein Ansatz ist, das Komplexe verständlich zu vermitteln – durch die gesprochene Sprache, indem der direkte Austausch mit den beteiligten Künstlern gesucht wird. Dadurch werden deren mitunter erklärungsbedürftige Positionen verständlich. Und immer dann, wenn etwas Erklärungsbedürftiges verständlich wird, kann es auch wie ein Beschleuniger oder Motor funktionieren. In der Ausstellung kommt hinzu, dass durch die vielen Medienwechsel – von der Kunst zur Musik und umgekehrt – ohnehin viel Reibungsenergie freigesetzt wird. Und da ist es zum Erkenntnistransfer nicht weit. Ich weiß nicht, ob du es wusstest, aber ich habe mich aus einem ähnlich erkenntnisorientierten Antrieb heraus vor zwei Jahrzehnten mit der tatsächlich kriminellen Subkultur der Mafiamusik intensiv befasst. Das ist zwar kein Gangster-Rap, sondern der folkloristische Vorläufer davon, interessant ist es allemal, sich damit auseinanderzusetzen. Aber das ist eine andere Ausstellung.
Schübel / Dient das in dem Wort „Hyper“ enthaltene Übertreiben hier als Ticket? Ein Ticket, das man löst, um Erkenntnisse aus gesellschaftlichen Tendenzen in Kunst zu transferieren?
Dax / Ich weiß nicht, ob ich bei dem Begriff „Hyper“ an Übertreibung denken muss. Ich denke ganz direkt und ohne Umwege an Scooters Hit „Hyper Hyper“, und wie dieser Track dem Maler Albert Oehlen dabei half, ein neues Kapitel in seiner Malerei einzuschlagen. Und natürlich kann bereits die bloße Behauptung schon Züge einer Übertreibung beinhalten. Ich bin es gewohnt, in einer Welt der Superlative zu navigieren. Stets geht es um die beste Musik, das beste Kino, die beste Kunst, den besten Auftritt, das perfekte Gespräch. Die Frage ist eigentlich nur, ab wann das eine Übertreibung ist, und wie man diese misst. Wir sprechen also über Kategorien. In meiner Ausstellung gibt es mit dem Transfer und der Erkenntnis tatsächlich zwei Hauptkategorien – sofern uns der beste Erkenntnistransfer gelingt, weil die freigesetzte Reibungsenergie uns zu inspirieren vermag, dann ist meiner Meinung nach alles bestens. Eine meiner Lieblingsarbeiten in der Ausstellung stammt von der Malerin Bettina Scholz. Ihre Kunst besteht aus Behauptungen, denn sie beschwört Wahlverwandtschaften – aus der Literatur, der Kunst, dem Film und nicht zuletzt der Musik – und materialisiert diese Behauptungen in großformatigen, durchaus auch manieristischen abstrakten Gemälden. Für die Ausstellung hat sie ein riesiges Stelenbild gemalt, das sich auf die Musik bezieht, die Edward Artemiev für Andrej Tarkowskijs Film „Solaris“ komponierte. Es ist eine abstrakte Hinterglas-Bildkomposition in der Farbwelt Gelb, Schwarz, Orange – teilweise hat sie die Farbe geschüttet. Was hat das Bild mit der Musik zu tun? Eine gute Frage. Sie beantwortet es ausführlich im Kataloginterview, führt auf, dass dem fertigen Bild ein synästhetischer Prozess vorangegangen ist. Ich habe mir daraufhin den Film noch einmal angeschaut, begeisterte mich an der Musik, die sich wiederum auf Bach bezieht. Dessen Präludium in F-Moll hat Artemiev so lange durch sowjetische Equalizer gejagt, bis es zu einer eigenen futuristischen Entität wurde. Wenn ein Gemälde so etwas in mir auszulösen vermag, die Arbeit mir darüber hinaus auch ein ästhetischer Genuss ist – ist das dann eine Übertreibung?

„Hyper! A Journey into Art and Music“
Kuratiert von Max Dax, Deichtorhallen Hamburg,
Halle für Aktuelle Kunst, 1.3.–11.8. 2019

SWITCH-OVER, Hendrik Czakainski
Urban Spree Galerie, Revaler Straße 99, 10245 Berlin
26.11.–8.12.2018
 
Hendrik Czakainski, „o.T“ 3 Bilder, je 160 cm×96 cm×10cm, 2018, Courtesy Urban Spree Galerie
Hendrik Czakainski, „o.T“ (Detail), 150 cm×270× 8cm, Courtesy Urban Spree Galerie