Rückkehr nach Reims?

Schaubühne

2022:Mai // Shannee Marks

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05-2022

BLINDE REISEN


1. Irreführungen

Nach dem Applaus muss man schnell zum Café Schaubühne laufen, sonst sind alle Plätze belegt. Die Schauspieler sitzen, thronen am ersten Tisch, in einer geschützten Ecke, am weitesten weg von der Innen-Tür zwischen dem Theater Foyer und dem Café. Er ist sowieso reserviert – in großen Buchstaben steht es geschrieben. Es gab noch einen freien Platz an ihrem Tisch – ich musste mich sehr zurückhalten, sie nicht zu fragen, ob ich mich dort hinsetzen dürfte.
Ich habe im Foyer einen Stehtisch erobert – mit Blick auf die verregnete Straße. Der Café-Trubel tönt dumpf im Hintergrund. Da stehen ein paar andere Theaterbesucher neben ähnlichen Tischen. Wie ich es mir vorgestellt habe – ganz die Theaterkritikerin in den Fußstapfen von Alfred Kerr (Wo liegt Berlin?) – notiere ich mir die ersten frischen Eindrücke vom Stück.
Der Filmteil des Stücks Rückkehr nach Reims in der Schaubühne lief auf einer großen Leinwand hinten in der oberen Hälfte der Bühne. Es war eine ‚mise en abyme‘-Konstruktion. Das Stück zeigt eine Szene – eigentliche die einzige Szene – von der Studio-Aufnahme eines Voice-Overs aus dem Buch von Didier Eribon. Das einzige Bühnenbild ist ein naturalistisch nachgebauter Studioraum. Die dominierende Farbe ist Braun. Während das Publikum seine Plätze sucht, sitzen zwei Schauspieler in der halb verglasten Soundkabine und produzieren unter sich eine Kalauer-Stimmung. Fast die ganze erste Hälfte des zweistündigen Stücks hat sich mit der direkten Lektüre aus der Stück-Vorlage, Eribons Buch Rückkehr nach Reims befasst. Der Film im Hintergrund ist der Film, der vom Regisseur (im Stück) gedreht wird. Um die Illusion noch zu verdichten, tritt Eribon, der Autor, in ‚seinem‘ Film auf. Es gibt Close-ups von ihm im Zug auf dem Weg ‚nach Hause‘ – zu seiner Mutter in Reims. Und auch Szenen vom Besuch bei seiner Mutter – alles wie im Buch. Die Mutter von Eribon spielt sich selbst. Sie schauen Familienfotos an. Es gab auch Archivmaterial im Film – Demonstrationen von kommunistischen Arbeitern in den guten Jahren der Partei. Porträts von verwitterten Proleten-Gesichtern. Ein Paar Gay Bars und Cruising Orte.
Der ‚mise en abyme‘-Dreh macht noch eine Windung – ab etwa der Mitte des Stücks verlässt das auf der Bühne entstehende Streitgespräch zwischen der Voice-Over- Schauspielerin und dem Doku-Regisseur Eribons autobiografische Vorlage. Eribons Fragen – seine von ihm lang verheimlichte Herkunft aus der Arbeiterklasse und die Schwierigkeiten, in diesem Milieu ein offenes homosexuelles Leben zu führen – werden verdrängt. Das Stück konzentriert sich fast ausschließlich auf Themen der ‚Black Lives Matter‘-Bewegung. Ab diesem Moment spielt die Schauspielerin im Stück sich selbst – es ist ihre Autobiografie, die Eribons Geschichte ummantelt.
Von ‚hinten‘ angefangen, also von Rassismus-Matters, das Stück endete ganz sentimental – mit einem niedlichen Videoauftritt des Real-life-Vaters der Hauptdarstellerin. Eribon und seine gequälte Jugend als heimlicher Schwule und aufstrebender Intellektueller aus einer französischen Arbeiterfamilie sind schon längst in die Versenkung geraten. Der afroamerikanische Vater begrüßt seine Tochter und schwärmt vom guten deutschen Essen, das er während seines Besuches bei ihr genossen hat. Das letzte Tableau, als die Hauslichter angehen, ist das (im nachgemachten freeze-frame) eingefrorene entzückte Lächeln auf den Gesichtern des Dokumentaristen-Schauspielers und der Hauptdarstellerin. Eribons Text ist als bloßer Vorwand für etwas anderes hinfällig geworden. Vielleicht war er doch zu französisch:
– die langen Passagen über die Front National. Er hat auch selbst den Haken geliefert.
– immer wieder verwies er auf schwarze Autoren wie James Baldwin und John Edgar Wideman. Aber die Nähe, die er zu Baldwin spürt, bezieht sich hauptsächlich auf seine Homosexualität; mit Wideman teilt er den unbeirrbaren Drang, dem trostlosen Schicksal seiner Familie zu entfliehen.
Der widerspenstige Sound-Engineer-Schauspieler entpuppte sich als ein Rap-Musiker – als Auftakt der zweiten ‚schwarzen‘ Hälfte führte er zwei bis drei Rap-Solos vor, die das Publikum wachrüttelten. Das Publikum, vornehmlich bürgerlich – vor allem im Parkett – war begeistert. Obgleich es im Stück wie im Buch zum Teil persifliert, wenn nicht ausdrücklich (vor allem von Eribon) verhöhnt wurde. Das ist die souveräne Eigenart (der diskrete Charme) der gebildeten Bourgeoisie, die bei einer dünkelhaften Parvenü-Klasse undenkbar wäre. Jegliche gegen sie gerichtete Kritik wird als Unterhaltung aufgenommen.
Der Dokumentarist – offensichtlich eine Karikatur eines Vertreters des weißen männlichen linken Kulturbetriebs – hat auch eine verdrängte Herkunft zu verheimlichen. Er wird von der schwarzen Schauspielerin entblößt: Wo kommst du eigentlich her? Er (zögernd, unwillig): „Aus dem Osten.“ Sie: „Das hätte ich nie gedacht.“ Man hat mit ihm Mitleid. Er erweckt Sympathie. Auf der Bühnen-Insel ist er der ‚Underdog‘, der Typ eines ‚Piggys‘ aus Lord of the Flies. Er muss sich selbst dauernd gegen Vorwürfe des indirekten Rassismus seitens der anderen zwei Charaktere wehren. Die zwei schwarzen Schauspieler/Figuren, im quasi natürlichen Bündnis, nehmen ihn in die Zange. Er hat keine Chance.
Im Café finde ich endlich einen Platz neben einem Nerd-Paar. Der Mann sieht ein bisschen wie ein junger Hölderlin aus – redet sozial-technisch daher über die Polizei. Er ist pro Polizei, vor allem gegen die Kriminalität in Berliner Vierteln mit hohem Migrantenanteil. Er ist schon auf dem Weg, AfD-Wähler zu werden – das Äquivalent zur Front National –, ohne offensichtlich Proletarier zu sein. Während der ganzen Zeit im Café fotografiere ich versteckt heimlich einen Herrn und seine Tischgesellschaft, weil er so verlegerisch, Regisseur-artig oder wenigstens wie ein Schriftsteller aussieht. Allmählich erkenne ich wieder, dass er während des Stücks im Theater direkt vor mir saß. Ich imitierte ihn, wie er seinen Mantel über den Stuhl drapierte und darauf saß. Öfters traf mein Blick auf seine schwarzen Locken, in deren Mitte sich eine natürliche Tonsur bildet.
Er trinkt Rotwein – seine Hand berührt fast nie den Tisch –, sein Glas ist stets wie für einen Trinkspruch erhoben. Er sieht wie ein archetypischer Connaisseur der Theater-Szene aus. Der andere Herr am Tisch – es sind zwei Paare – ähnelt vage Thomas Bernhard. Die ganze Szene im Café hätte in ein Stück von Bernhard gepasst – Alte Meister. Das ist die magische Lotterie des Live-Theaters und des Zufalls … Alles, was unmittelbar danach folgt, bekommt einen verschönenden Glanz – scheint wie eine natürliche Fortsetzung des Stücks zu sein. Der dröhnende Tischnachbar redet unentwegt von kriminellen Ausländern, jetzt ist er bei der Wiedereinführung der Todesstrafe angelangt.
Ganz zufällig traf ich die vornehme Frau des Rotweintrinkers am schmalen Eingang zur Damentoilette – sie war die Einzige in ihrer Tischgesellschaft, die die Einlage über Rassismus in Deutschland ‚aufgesetzt‘, wie aufgesagt empfand. „Meinen Sie den Prediger-Ton?“ Die anderen fanden es treffend. „Ich habe das Buch gelesen, ich bin Frankophile.“ Wir haben uns gut verstanden. Der letzte ‚Theater‘-Zufall des Abends – ich habe sie und ihren Ehemann, den von mir ­Bewunderten, Rotwein-trinkenden ‚homme du monde‘ wieder an der Bushaltestelle getroffen. Obgleich ich ein wenig enttäuscht war zu erfahren, dass er kein Verleger oder Theater­regisseur ist, sein Beruf liegt vielleicht jenen gar nicht so fern: Er ist Richter und Jura-Professor, der wichtige kriminologische Werke über abweichendes Verhalten verfasst hat. Das wiederum erinnert mich an Genets Richter-Komödie Die Schwarzen.



2. Tote Zeiten

1.
Die Suche nach dem verlorenen heimatlichen Arbeiter-Milieu, in dem Eribon aufgewachsen ist und die er in seiner Autobiografie Rückkehr nach Reims beschreibt – ist in sich anachronistisch – oder, im Sinne von Günther Anders, eine „Antiquiertheit“. Nicht nur weil ‚nirgends ist Bleiben‘ – die Arbeiterklasse als solche ist kein fester Ort oder klar umrissener Begriff. Sie ist ein Phänomen, das ständig in Bewegung ist – das sich immer am Rande der Auflösung befindet – wie das Kapital. Die Monopolisierung oder Konzentration sind nicht die einzigen innewohnenden Züge des Kapitals – auch die Auflösung von K lassen gehört dazu. „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht (…)“ (Marx und Engels, Das Manifest der kommunistischen Partei). Neoliberale Theorie verweist sowieso nicht auf Klassen – höchstens auf ‚menschliches Kapital‘.
Der Ur-Impuls der Fabrikarbeiter nach der Arbeit ist es, aus der Fabrik zu strömen, wie die erste 60 Sekunden lange bewegliche Filmsequenz in der Geschichte des Kinos – Arbeiter verlassen die Fabrik – dokumentiert. Es war die Fabrik der Brüder Lumière in Lyon. Harun Farocki entdeckte dieselbe Bewegung in vielen verschiedenen Film-Exzerpten von Fabriken in der ganzen Welt. Sie zeigen, wie Arbeiter quasi losbrechen, fast rennen, fluchtartig der Fabrik und der Arbeit den Rücken zukehren. Umso schnell wie möglich die Arbeit hinter sich zu lassen. Laut Farocki – und auch bei Godard ist es zu hören – lässt die Fabrik als solche sich nicht kinematisch darstellen. Wie kann man die abstrakte Arbeit abbilden? Das Leben oder die Geschichten der Arbeiter fangen außerhalb der Fabrik an. Eribons Memoiren beleuchten hauptsächlich die Freizeit, das Konsumverhalten, Wohn- und häusliche Verhältnisse oder Geselligkeitsformen seiner Arbeiterfamilie – wenig zeigt er von ihrer Arbeitswelt selbst. Unbewusst setzt Eribon auf seine Weise – in seinem Bestreben, seine Arbeiterklassen-Familie hinter sich zu lassen, dieses fast anthropologisch instinktive ‚Verlassen der Fabrik‘ fort.
Schon 1980 prägte André Gorz den Ausdruck „Abschied vom Proletariat“. Zu einer Zeit, als Eribon in Paris seine Aufnahme in die Klasse der Intellektuellen vorantrieb, war sein verleugneter Ursprungsort dabei, im ‚postindustriellen Zeitalter‘ eine verschwindende Größe zu werden, sich selbst zu verabschieden. Die gesellschaftlich-ökonomischen Prozesse sind viel langsamer und viel schneller, als man denkt und erwartet. Dagegen steht in der inneren Welt des Individuums – in diesem Fall die von Didier Eribon – die Zeit fast still.


2.
Eribons Memoiren stellen nicht eine absolute Aussöhnung mit seiner Herkunft aus der französischen Arbeiterklasse dar. Es gibt für ihn eine neue peinvolle rätselhafte Quelle der Scham. Seine Mutter wählt die Front National. Früher hat sie wie seine ganze Familie – und das Arbeiter-Milieu – die Kommunistische Partei Frankreichs gewählt. Das war für sie selbstverständlich – ein starker wiederkehrender Akt der kollektiven Identität. Doch diese übergreifende Identität ist schon lange dahin. Das solide Kollektiv ist „une communauté désœuvrée“ (Jean-Luc Nancy) oder eine Gemeinde ohne eine übergeordnete ‚raison d’être‘ geworden.
Das post-kommunistische Vakuum muss gefüllt werden. Die Front National bietet sich als neue Heimat an. Eribon verbringt viele Seiten damit, diese Tatsache soziologisch zu erklären. Die Mutter kann dies kaum selbst begründen. Es ist aber ein Schein-Paradox. Diese Art Wandlung ist kein Novum in der Geschichte. Eine solche gesellschaftliche Erschütterung und Verunsicherung der unteren Klassen hat die Machtergreifung Hitlers und Mussolinis mit in die Wege geleitet.
Der Arbeiter als Faschist, als Mitglied des Nazi-Rassen-Staats fühlt sich erhoben und auserwählt. Der Staat umformt die Arbeiterklasse nach seinem Ebenbild. Ernst Jüngers Traktat des totalen Staats heißt „Der Arbeiter“. Der Nazi-‚Arbeiter Staat‘ ist ein pervertiertes Phantasma der ‚Diktatur des Proletariats‘.
Eribons Großmutter mütterlicherseits verließ als junge Frau ihre Familie 1940 nach der Niederlage Frankreichs und ging freiwillig bis Ende des Kriegs nach Nazi- Deutschland. Der Nazi-Sog hat sie mitgeschwemmt. Warum soll ihre Tochter nicht eine Front-National-Wählerin werden?
Angesichts der immer stärker werdenden Rechts-Parteien in Frankreich scheint dieses Thema auf einmal dringlicher geworden zu sein. Bei den gegenwärtigen Präsidentschaftswahlen ist die Rassemblement National von Marine Le Pen auf dem zweiten Platz – die Möglichkeit, dass sie zur Präsidentin gewählt wird, ist plötzlich sehr realistisch geworden.
Die politische Debatte wurde bislang von ihrem starken Konkurrenten von rechts, dem Fernseh-Journalisten und Autor Eric Zemmour, mit seinen revisionistischen Geschichtsthesen zur Vichy-Ära und zur Dreyfus-Affäre dominiert.
Marine Le Pen zeigt sich immer mehr als ‚femme d’état‘ – scheinbar viel salonfähiger als ihr Vater. Zemmour darf dafür die Stimme des ‚Unbewussten‘ – der verdrängten Ideologie der von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen gegründeten Ur-Partei übernehmen. Als algerisch-französischer Jude, der sich zur extremen Rechten zählt – ist er ein politischer Joker. Le-Pen-Senior bewundert seine Kühnheit. Zemmour gewährt man die ‚Narrenfreiheit‘, die ‚verbotenen‘ Grundsätze der Front National laut zu deklarieren – die sich obsessiv mit den ‚schwarzen Jahren‘ des Vichy-Frankreichs (dem Vichy-Syndrom) beschäftigen: mit der Figur Pétain und dessen Rehabilitierung. Wegen seiner Behauptung, „Pétain hat die Juden Frankreichs gerettet“, wurde Zemmour neulich wegen „Bestreiten eines Verbrechens gegen die Menschheit“ vor Gericht angeklagt.
Um eine Houellebecqsche Prognose zu wagen: In einer möglichen Regierung Marine Le Pens könnte Eric Zemmour ihr Premierminister werden, wie Barack Obama und Hillary Clinton – nur mit vertauschten Geschlechtern.


3.
Es war eine unheimliche Reise in die Vergangenheit des Vichy-Frankreichs, fast ‚un voyage infernal‘. Bislang war Vichy für mich nur ein für etwas Dunkles, Zwielichtiges, Verräterisches und sonst Unbekanntes. Ich habe auch die Teilung in ‚zone libre‘ (Vichy) und ‚zone occupé‘ (deutsche Besatzungsmacht) nie völlig begriffen. Wie konnte die Zone ‚frei‘ heißen, wenn sie doch von Vichy regiert wurde?
Aber in den sieben Tagen, während ich mich bei Jean-François Steiner aufhielt und seinen Erinnerungen und Ausführungen zuhörte, wuchs Vichy zu den Proportionen eines großen Schlundes, der auch mich nachträglich einzuverleiben drohte.
Jean-François Steiner kannte ich bis dahin nur flüchtig – über eine entfernte verwandtschaftliche Beziehung. Sein Werk Treblinka hat im Frankreich der 60er-Jahre anhaltende Furore gemacht. Es zeigt im Stil eines ‚Westerns‘ eine kühne, fast militärisch organisierte Häftlings-Revolte in dem Vernichtungslager Treblinka. Ich bin angereist, um mit ihm einen Film über seinen Vater Kadmi Cohen zu drehen.
Der Vater war ein bekannter politischer Anwalt und Autor in Paris nach dem Ersten Weltkrieg. Er wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Mit gemischten Gefühlen habe ich das Projekt angefangen – ich ahnte, dass es eine verwobene Doppelgeschichte ist, die des Vaters und die des Sohnes. Ist es auch ein Teufelspakt?
Wie Jean-François von sich und seinem Vater in seinem Journal schreibt – „zwei blinde Reisen so notwendig wie das Schicksal“. Seit Jahren versucht er ein ähnliches literarisches Projekt zu vollbringen wie Eribons Rückkehr nach Reims – die autobiografische Suche nach dem toten Vater. Da aber endet die Gemeinsamkeit. Außer dass Steiner, wie Eribons ehemaliges proletarisches Milieu, eine Wandlung von ‚gauche‘ bis zum ‚ultra droit‘ vollbracht hat. Steiner wird Erich Zemmours „Reconquête!“-Partei in den kommenden Präsidentschaftswahlen seine Stimme geben. Von Jean-François stammt meine erste Kenntnis von Zemmour. Er hatte immer wieder leise, fast scheu, seinen Namen erwähnt. Es klang jedes Mal wie eine Liebkosung. Er bewundert ihn, ist fast sein ‚Jünger‘, spendet seiner Kampagne Geld, imitiert dessen Argumente über Vichy und Pétain, die zum ersten Mal in seinem Buch Le Suicide Français (2014) dargelegt wurden. Auch andere Zemmour- Thesen erregen bei Jean-François, dem ehemaligen Parachutist und Veteran des Algerien-Krieges, absolutes Einvernehmen. Vor allem die seit dem Verlust des Kolonialreiches fortwährende Schmälerung der französischen Virilität – wegen Feminismus, Massen-Immigration, den Rechten für Homosexuelle und dem zersetzenden Trio von „Dérision, Déconstruction, Destruction“.
Um meine Vichy-Kenntnisse aufzustocken habe ich mir kurz vor der Reise das Standardwerk von Robert Paxton, Vichy France: Old Guard and New Order 1940–1944 als Zug-Lektüre besorgt. Als ich das Buch bei Jean-François aus der Tasche holte, winkte er abfällig ab. „Er versteht nichts von Vichy.“ Ich wusste noch nicht, dass Paxton das ‚bête noire‘ von Zemmour und anderen rechten Vichy-Apologeten ist. Als Erster hat Paxton die aktive Rolle Vichys – durch seinen ‚collaboration d’état‘ und Staatsantisemitismus – an der Vernichtung französischer und in Frankreich lebender ausländischer Juden historisch akribisch aufgearbeitet.
Jean-François hat mir den gelben Stern, den sein Vater hätte tragen müssen, gezeigt. Er verweigerte, ihn zu tragen und floh von Chatou (einem Vorort von Paris) nach Vichy in die freie Zone. Dort brauchte man keinen Stern zu tragen. In Vichy fing Kadmi Cohen eine verhängnisvolle ‚messianische‘ Kollaboration an – mit dem Ex-Jesuiten Abbé Catry, Chef der antisemitischen Propaganda von Vichy. Die von Vichy selbstständig erlassene anti-jüdische Gesetzgebung war rabiat. Ab 1940 wurden Juden aus fast allen Berufen ausgeschlossen und wie in Deutschland fing man, ohne zu zögern, mit der Enteignung des gesamten jüdischen Besitzes an. Als hätte das Vichy-Regime keine Zeit in der „jüdischen Frage“ zu verlieren. Dennoch hält Steiner wie sein Vorbild Zemmour an der Mär fest, Pétain und Vichy hätten die Juden gerettet.
1943 wurde Kadmi Cohen in Vichy zum zweiten Mal überraschend verhaftet. Es war während eines Besuches der Familie bei herrlichen Sommerwetter. Jean-François erinnert sich an jene Tage wie an ein verlorenes Paradies.Sein Vater schien ihm stark und unbesiegbar zu sein. 15 Tage später wurde er ihm weggenommen. Sein Vater kam nie mehr zurück. Er wurde nach Verlegungen in mehrere Internierungslagern in Frankreich 1944 von Drancy nach ‚Osten‘ deportiert. Unter Juden damals erwähnte man diesen ‚Osten‘ nur noch kryptisch. ‚Pichy poia‘ ist das Geheimwort für das Schlimmste im ‚Osten‘, worüber man sonst nicht sprechen oder es wahrhaben wollte.
Dennoch sagte der Sohn 1997 vor Gericht zu Gunsten Maurice Papons aus, der als Generalsekretär der Präfektur Bordeaux die Deportationen von 1690 Juden und die ‚Entjudaisierung‘ jüdischen Besitzes organisiert hatte. Arno Klarsfeld, einer der Ankläger, fragte ihn, ob er „der Kautions-Jude (von Papon)“ sei – Steiner antwortete: „Ich bin der Jude von Keinem“.
In dem hermetischen Welttheater von Jean-François Steiner hat alles seine ‚Logik‘ – dort existieren nur zwei Schauspieler, die unter sich alle Rollen übernehmen und verteilen – er und sein toter Vater Kadmi Cohen.
(April 2022)

Rückkehr nach Reims nach dem gleichnamigen Roman von Didier Eribon, Wiederaufnahme in neuer Version, Regie: Thomas Ostermeier, zur Zeit keine Aufführungen geplant, aber im Repertoire der Schaubühne, Berlin 

„Rückkehr nach Reims“, Bühnenbild Schaubühne, Foto: Shannee Marks, 2022
„Arbeiter verlassen die Fabrik“ (https://theseventhart.info/tag/arbeiter-verlassen-die-fabrik/)
Jean-François Steiner, Le Vésinet, Januar 2022, Foto: Shannee Marks 2022