Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Winter und Frühling 2022

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05-2022

7.5.2022 Im Park Sanssouci
Ich denke weiter über meinen Besuch bei der 92-jährigen Jutta nach: Die Kontinuität eines Hausstandes ist, wenn man so will, permanent Bedrohungen ausgesetzt. Der Entscheidung eines Ortswechsels zum Beispiel. Man will und kann nicht immer alles mitnehmen. Im einundzwanzigsten Jahrhundert drohen zusehends Verheerungen wie Fluten, Brände, Stürme und immer noch Krieg. Ein über viele Jahrzehnte gewachsener Hausstand kann nur das Ergebnis einer glücklichen Epoche sein. Ist also das Horten von Dingen ein Privileg? Oder ist gerade das Sammeln und Anhäufen von Dingen ein Zeichen von Verarmung.
Als Privileg wird der Besitz von vielen Sachen schon lang nicht mehr gesehen. Im Profilpflege-Stress der Websites bleibt heute weniger Zeit für die Identität in den eigenen vier Wänden. Ein Minimalismus an Hausrat entspricht der Lebensweise des modernen Menschen, der, immer auf dem Sprung, ungebunden bleiben möchte, frei und flexibel.
Nach der Verdopplung der Weltbevölkerung brennt die Frage mehr denn je, wie viel Platz der Einzelne für sich beanspruchen dürfen soll. 10, 30, 50 oder 100 Quadratmeter – ein ganzes Haus, eine Villa mit Pool und Garten? Die Städte-Planung sollte zunehmend unökonomische ­Single-Haushalte vermeiden und stattdessen mehr Gemeinschaftseigentum und kollektiv genutzte Räume – und Geräte – fördern und strategisch umsetzen. Das könnte eine modernisierte Form von Wertschätzung sein.

23.1.2022 Oranienstraße
Die nGbK-Ausstellung Hosen haben Röcke an ist auf verschiedenen Ebenen bewegend:
– Sie zeigt die Frauenbewegtheit der Künstlerinnengruppe Erfurt, die Kraft, die ihnen das Zusammensein gab und die Lust am Experimentieren mit ihren Körpern, mit Mode, mit dem öffentlichen Raum: die Selbstporträts, das Zeigen von Nacktheit, die Fürsorge füreinander, das DIY-Prinzip, der Schwerpunkt auf dem Performativen, die selbstgebastelte Mode.
– Sie vermittelt, wie disziplinierend der Staat vorging, am Beispiel eines Gruppenmitglieds, das als asozial diskreditiert und verhaftet wird, dem das Kind weggenommen wird und das ihren Freund nicht sehen darf. Es ist erschütternd, das Manuskript dieser Frau zu lesen, in dem sie aus ihrer Perspektive die Vorgänge schildert, und toll, zu realisieren, dass die Künstlergruppe sie unterstützt hat und Christa Wolf einen Brief an höchste Stelle geschickt hat, um sich für sie einzusetzen.
–Sie dokumentiert die Stasi-Verfolgung der Gruppe und ihrer Mitglieder bis hin zur Verhaftung. Aber auch hier gibt es eine kraftvolle Gegenerzählung in Form eines Filmes, in dem die Künstlerinnen berichten, wie sie die Stasi-Zentrale in Erfurt besetzen und die Vernichtung verhindern.
– Sie ist ein aufschlussreiches Zeitzeugnis, das den Bruch der Wende einfängt: wie die Künstlerinnen plötzlich reisen dürfen, nach Paris eingeladen werden und Mitterand treffen, wie sich die Materialien, die Medien und damit die Ästhetik ändern. Und sich die Gruppe schlussendlich auflöst.

19.4.2022 In Quarantäne
Endloses Gedaddel am Computer, weil ich seit Tagen in mein kleines Zimmer eingesperrt bin und das Essen vor die Tür geschoben bekomme. Ich bin ja nicht auf irgendeiner Social-Media-Plattform, aber die Seite des Gallery Weekends mit dem Magazin und die neue misa.art-Seite von Johann König machen mich trotzdem, oder gerade deshalb, fertig. Ich bin es nicht gewohnt, die ganze Zeit instagram-ähnliche Porträts von Künstler*innen anzuschauen, ich bin nicht abgehärtet genug. Diese inflationäre Studiobesuchsfilm und -fotografierei kann es doch auch nicht sein. Alle sind am Ende gleich, aber auch gleich blöd.
Ja, ich bin alt, aber ich halte an dem Konzept des Nicht-alles-Zeigens fest. Geht doch selber mal ins Atelier von euren Künstlerkolleg*innen und trinkt zwei Stunden Kaffee und sprecht über die Arbeiten. Zum Prinzip des Entdeckens gehören auch Raum und Zeit, und nicht nur Bild und Bild. Selbst Bücher oder gedruckte Magazine haben mehr Dreidimensionalität und damit Distanz.

20.4.2022 Venedig, Rio della Tana
Wir kamen völlig übersättigt und hungrig von all den Körperbildern aus dem Arsenale.
Plötzlich war an einem Kanal an der schmalen Brüstung eine Tafel gedeckt. Die kommunistische Parteizentrale Venedigs war für einen Galerie-Empfang gemietet, aus dem offenen Fenster drangen Lieder, die von Genossen am Klavier gespielt, und in die das Kunstvolk herzlich einstimmte. Fisch und Antipasti lagen auf Plastiktellern bereit, Bier gab es in Flaschen, kein Spritz weit und breit. Die Stimmung war großartig in der untergehenden Sonne. Lukas sprang auf ein Boot und Jonas kam vorbei, um auf die noch bessere nächste Party von „4 Pavillons“ zu starten, die einen Platz neben der Rialto-Brücke völlig sprengte. Dort besorgten wir an der Bar mit dem Passwort „Password“ Flaschen Wein und mein Beutel des Polnischen Pavillons war schon bald voller Rotweinflecken. Körper an Körper wogten wir durch die Menge, „The Milk of Dreams“ in Realgestalt.

26.4.2022 Reinickendorf
Dada Post, ein Geheimtip in der Projektraum-Szene, hört auf. Der mittlerweile 75-jährige Howard McCalebb, auch als Autor der von hundert bekannt, hat das Gelände verkauft und zieht wieder nach Amerika zurück. Seit 2009 gab es in der ehemaligen Fischräucherei Ausstellungen, eine Bereicherung für Berlin, wenn auch nicht immer gut besucht. Ich verliere jetzt meinen Lagerraum und einen Freund, jedenfalls in Berlin.
29.4.2022 Haus der Kulturen der Welt, Miss Read
Christian steht vor meinem Tisch und erzählt mir, dass Spike die Räume verliert und neue sucht. Das Immobilienkarussell dreht sich immer weiter. Hier jetzt am Rosa-Luxemburg-Platz, dessen Rundum-Bebauung fast in einer Hand ist, einem Geflecht aus verschiedenen miteinander verschachtelten Immobilienfirmen, deren Zentrum die Ernst G. Hachmann Hausverwaltung ist. Ihnen, oder verbandelten Firmen, wie der Industriebaugesellschaft Centrum am Bülowplatz mbH oder der IBZ-Immobilien GmbH gehören die Poelzig-Bauten gegenüber der Volksbühne, aber auch die Plattenbauten an der Rosa-Luxemburg-Straße, in denen Spike seit acht Jahren großzügige Halbparterre-Räume mietete. Zu den Mietern dort gehört auch Roger Bundschuh, der im Auftrag des oben genannten Firmengeflechts auch die beiden Eingangsgebäude zur Rosa-Luxemburg-Straße baute, also das schwarze L40-Haus und das Suhrkamp-Gebäude. Jetzt geht’s weiter, das kleine Dreieck vor den Fenstern des Architekturbüros soll bebaut und in diesem Zuge der Plattenbau gleich mit aufgewertet werden. Ob diese weitere Verdichtung genau dort, auf einer Kleinstgrünfläche mit minimalen Abstand zu den Fenstern der Bewohner sinnvoll ist, diese Frage wird überhaupt nicht gestellt werden. Der Macht-, Geld-, Immobilienkomplex, der weit in die Berliner Kunstlandschaft hineinreicht (Mieter sind auch Nagel Draxler, die Galerie BQ oder der Kunstverein am Rosa-Luxemburg-Platz) hat beschlossen, dass Bundschuh sein Ensemble noch mit einer südlich gelegenen Schmuckimmobilie einfassen darf. Sichtachsen-Liebhaber wie ihn wird’s freuen, ein Stadtbild eingerahmt nur mit seinen Bauten.

5.5.2022 Im Büro
Ich mein, da kann man sich wirklich nicht über ausreichende Förderung beklagen, Neustart Kultur II schüttete 27 Millionen Euro aus, 3000 Stipendien bei 6000 Bewerbungen à 9000 Euro. Sowas gab es noch nie. Selbst die Förderungen 2020 und 2021 waren dagegen eher soft. Sind aber trotzdem nur zwei Panzer. Irgendwie hab ich das aber wieder mal verpasst, zuviel Arbeit und ich dachte die Zeit der Großausschüttungen wäre vorbei. Selber doof.
Von hundert gratuliert unseren Autor*innen, die es bekommen konnten: Esther Ernst, Christina Zück, ­Stephanie Kloss, René Wirths und Birgit Schlieps.