Die Dinge dingfest machen

oder: Was wäre Linus ohne seine Schmusedecke?

2022:Mai // Elke Stefanie Inders

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05-2022

Die Sache mit dem Ding ist ein komplexes Unterfangen, denn bereits bei der Bezeichnung des Dinges kann jenes auch ein Gegenstand, eine Sache oder ein Gut sein. Je nachdem, aus welchem Themenbereich man auf das Ding schaut. Außerdem definiert jede Fremdsprache das Ding anders. Da sind Missverständnisse und Diskussionsbedarf vorprogrammiert.
In der deutschen Sprache taugte das Ding an sich zu einer philosophischen Debatte und Michel Foucault widmete sich in Die Ordnung der Dinge der ausführlichen Freilegung von Denk- und Ordnungsmustern in verschiedenen Epochen. Wer aber das Ding als die Sache versteht, befindet sich evt. schon im Rechtsbereich. Wo soll man also anfangen, was genau fokussieren? Offensichtlich hat der homo sapiens eine äußerst komplexe Beziehung zu den Dingen und das Ding selber ist offensichtlich auch sehr kompliziert.
Interessant ist vielleicht, dass die meisten Menschen unter dem Ding einen sinnlich erfahrbaren, meist haptisch erfassbaren Gegenstand verstehen, aber die Philosophie das Ding an sich lediglich als intelligibel, also nur geistig erfassbar, definiert. Bleiben wir also in der haptisch erfahrbaren Welt der Dinge. Damit fing wahrscheinlich auch alles an, wenn wir an unsere Vorfahren denken, die mit Faustkeilen hantierten.
Das Ding hat also oftmals eine materielle Beschaffenheit, d. h. wir können es anfassen, streicheln, aufheben, wegstellen, verformen, kaputt machen und das Ding selbst kann evt. ebenso viele Dinge ausführen. Aber auch bei den sinnlich erfassbaren Dingen gibt es unendlich viele Dinggruppen. Gebrauchsgegenstände, nutzlose Dinge, Wertgegenstände usw. Und nicht jeder hat dieselbe Definition von diesen Dingen. Was für den einen wertlos ist, ist für den anderen eine Sache von unschätzbarem Wert, dem sogenannten ideellen Wert, oder von großem Nutzen.
Da unser Verhältnis zu den Dingen also ziemlich kompliziert ist, gibt es daher zahlreiche Möglichkeiten, sich dem Ding zu nähern. Am interessantesten erscheint mir an dieser Stelle die Frage, wie dem Ding ein bestimmter Wert zugeschrieben wird und die Dinge dadurch für uns zu ganz unterschiedlichen Wertgegenständen etc. werden.
Bei Marx wird das Ding durch den Gebrauchs- und Tauschwert zur Ware aufgewertet und diese kann einen vollkommen unterschiedlichen Gebrauchs- und Tauschwert haben. Der Gebrauchswert eines Tisches drückt sich darin aus, dass man daran sitzen kann, Gegenstände auf ihm abstellen kann usw. Der Tauschwert des Tisches würde sich darin ausdrücken, im welchem Verhältnis, i.d.R. zu welchem Geldwert man den Tisch im Warenhandel tauschen könnte. Und natürlich bildet sich im Tauschwert eines Produktes die Ware Arbeitskraft ab. Sowohl der Gebrauchs- als auch der Tauschwert sind veränderlich. Derselbe Tisch kann einmal 20 Euro kosten oder auch 100 Euro. Angebot und Nachfrage sind hier entscheidend. Dieses Prinzip regelt in der Sozialen Marktwirtschaft weitestgehend die Preisbildung oder die künstliche Verknappung und wenn dieses außer Kontrolle zu geraten droht, dann werden, wie derzeit in der Coronapandemie, Hamsterkäufe getätigt und plötzlich bekommen Toilettenpapier, Spaghettis und Olivenöl einen höheren Wert und wir fürchten, dass der tatsächliche Warenwert steigen wird.
In unserer kapitalistischen Konsumkultur trägt dann der Warenfetisch dazu bei, dass der Tauschwert eines Produktes, einer Ware oder einer Sache bisweilen absurde Rekordsummen aufweist. Bei der Fetischisierung der Waren wird nach Marx das Verhältnis der füreinander produzierenden Menschen in das versachlichte oder verdinglichte Verhältnis der Waren zueinander verkehrt, was bei ihm die Entfremdung der Warenproduzenten zueinander auslöst. Sache und Ding sind hier also negativ konnotiert und kulminieren nun im Warenfetischismus, der die Arbeit am Ding ausblendet. Den vom Produzenten entfremdeten Produkten werden nun Eigenschaften zugesprochen, die sie eigentlich gar nicht haben. Heutige Kaufhäuser sind also regelrechte Tempel, in denen dem Warenfetisch gehuldigt wird.
Die Entfremdung zwischen Produkt und Produzenten sollte daher in der Planwirtschaft des Sozialismus bzw. Kommunismus aufgelöst werden, mit bedingtem Erfolg, wie wir wissen, denn die quasireligiöse Verehrung von Produkten zog auch die Bewohner der ehemaligen Ostblockländer in ihren Bann. Man hatte die Sogwirkung des Warenfetischs ganz einfach unterschätzt, die sozusagen in ihrem Wirkmechanismus an die religiöse Verehrung von Dingen, Gottheiten etc. in den Religionen und insbesondere im Animismus erinnern. Kultische Verehrung von Dingen und nicht nur von Göttern und Menschen scheint also für viele Menschen wichtig zu sein, bzw. das Bedürfnis nach Transzendenz. Dieses äußert sich in allen Religionen darin, dass unbelebten Dingen eine mehr oder minder überirdische und religiöse Kraft zugesprochen wird, die sie nach wissenschaftlichen Standpunkten eigentlich nicht haben kann. Der Gläubige segnet sich mit dem Weihwasser in der Kirche, weil dieses zu den Sakramentalien gehört, und er sich damit immer wieder an seine Taufe erinnert. Der Ungläubige tut dies nicht, weil er nicht an Weihzauber glaubt oder aber wendet sich angeekelt ab, weil das abgestandene Weihwasser, in das bereits Hunderte ihre Finger ehrfürchtig eingetaucht haben, sicherlich schon voller Keime ist. Ebenso wenig verkörpert für ihn eine Oblate den Leib Christi, den Gläubige in der Eucharistie als Hostie, also als Opfergabe zu sich nehmen. Ebenso wenig gibt es wissenschaftliche Belege dafür, dass im Ahnenkult der Geist von Verstorbenen in einer dafür vorgesehenen Figur etc. vorhanden ist. Aber die Menschen glauben daran, zumindestens viele. Und es ist auch nachvollziehbar, dass Menschen über eine Figur, Maske, ein Medium etc. eine Verbindung zu bspw. Verstorbenden aufnehmen wollen, weil der Tod einer nahen Person für die meisten undenkbar ist.
Nicht nur in der Religion und im Ahnenkult spielen die Vermenschlichung oder Verlebendigung von Gegenständen eine große Rolle und seltsamerweise spricht man in den animistischen Religionen von Fetisch, wenn eine bestimmte Figur als göttlich verehrt wird. Würde man im Christentum die Verehrung oder Anbetung der Figur der Mutter Gottes und der Jesusfigur als Fetischisierung bezeichnen, würde das bestimmt viele Religiöse beleidigen, obwohl es genau das wäre. Selbst als Atheist können wir beim Anblick bestimmter Gegenstände an Verstorbene denken und der Verstorbene wird dadurch wieder lebendig, bzw. der Gegenstand ist unmittelbar mit der verstorbenen Person verbunden. Der Begriff Fetisch bedeutet ja eigentlich nichts anderes als künstlich und Zaubermittel und ist erst durch seine kolonialistische Aneignung ein Begriff geworden, der pejorativ den Animismus beschreibt.
In der Psychoanalyse z.B. findet der Begriff des Fetischs in der Sexualtheorie ihren Niederklang und als Fetischisierung versteht man hier die vermeintliche abweichende Form von der sexuellen Norm, die sich auf Dinge richtet und nicht auf Personen. Statt Ding könnte man hier den Begriff Objekt verwenden.
Weniger kritisch abweichend bewertet dann die Objektbeziehungstheorie die Beziehung zwischen Säugling und Gegenstand oder Objekt. Das Kind fantasiert in den Teddy eine Beziehung zu einer Person hinein. Der Teddy ist hier ein Übergangsobjekt, das dem Kleinkind hilft, den Raum zwischen der Mutter und ihm selbst zu überwinden. Dieser erste Nicht-Ich-Besitz verliert dann auf im Laufe des Größerwerdens an Bedeutung , wird durch andere Handlungen und Prozesse ersetzt und ist offensichtlich ein lebensnotwendiger Entwicklungsschritt auf dem Wege der Individuation. Und später bekommen andere Dinge eine Bedeutung oder eben auch nicht.
Und auch hier geht es um die Frage, ab welchem Punkt eine definierte Beziehung zwischen Mensch und Ding pathologisch und abnorm ist. Scheinbar geht es um den rechten Gebrauch der Dinge und offensichtlich brauchen wir Menschen nicht nur ein Regelwerk für den Umgang mit lebendigen Nicht-Dingen, sondern auch im Umgang mit den Dingen. Es ist also kompliziert und beim Sich-dem-Ding-Nähern gerät man ziemlich schnell auf eine mehrspurige Autobahn mit ziemlich vielen Auf- und Abfahrten. Und vielen Gebots- und Verbotsschildern und plötzlich ist das Ding auch schon wieder weg oder hat sich in einen Gegenstand transformiert.
Linus van Pelt von den Peanuts macht sich scheinbar nicht wirklich etwas aus diesem Ding-Mensch-Regelwerk und beschreitet diese gefährliche Autobahn ebenso wenig. Trotz seines Alters ist er niemals an den Punkt gekommen, um auf seine inzwischen ziemlich gammelig gewordene Kuscheldecke verzichten zu können, und das, obwohl er ziemlich weise ist und als Philosoph gilt. In zahlreichen Situationen veralbern ihn die anderen Kinder, insbesondere seine ältere Schwester Lucy, oder sie entwenden ihm seine Schmusedecke, was bei ihm katastrophale psychische Zustände auslöst. Die einzige Lösung ist jedes Mal: die Decke muss um jeden Preis wieder her, ganz egal, ob das angemessen ist oder nicht. Bei den Peanuts darf die Dingwelt also noch in Ordnung sein oder sie ist es erst dann, wenn zu große oder weise Kinder noch mit Schmusedecken spielen, denn es gilt die Regel: Happiness is a warm blanket. Das ist eben auch eine von vielen möglichen Beziehungen zu den Dingen.
Illustration: von hundert