KÜNSTLER/IN, LEBENSLANG

Helga Fanderl

2022:Mai // Sonya Schönberger

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05-2022


Ich bin ein echtes Nachkriegskind und das war kein einfaches Schicksal. Mein Vater war Lokführer, hätte aber gern ein anderes Leben geführt. Er hatte Lust auf andere Kulturen. Er war in Italien, in Frankreich, hat Esperanto gelernt. Ich habe immer sehr gern die Erzählungen von seinen Reisen gehört. Als Lokführer war er kein Soldat, aber von den Nazis militarisiert. Wenn ich ihm glauben kann – und ich hab sehr viel drüber nachgedacht und geforscht –, dann war er kein Nazi. Er hat immer gesagt, natürlich wussten die Deutschen, was die Nazis machen. Er war ein paar Jahre abgeordnet nach Polen. Ich habe gedacht, meine Güte, hat er vielleicht Züge gefahren mit jüdischen Gefangenen? Aber auch nach Rücksprache mit meiner Stiefmutter und allem, was er erzählt hat, hatte er damit nichts zu tun. Er hat unheimlich stark erzählt, wie grausam die deutsche Besatzung gegen die Polen war. Die kriegten nichts zu essen und im Winter keine Kohle, das hab ich im Gedächtnis. Teilweise wurde die Kohle von den Dampfloks gestohlen. Wer dabei erwischt wurde, wurde erschossen. Er hat erzählt, dass er das einmal erlebt hat mit einem übereifrigen Nazi-Kollegen. Er sagte dem, ja, geh nur die Polizei holen, und hat den Dieb dann laufen lassen.

Das hat mich auch geformt. Meine Generation konfrontierte sich mit der Kontinuität des Nationalsozialismus bis in die höchsten Ämter der Bundesrepublik und bei den Herrschenden. Mein erster Impuls auf moralischer und politischer Ebene war, schon ganz früh beizutragen, dass diese Welt eine andere wird. Auf der anderen Seite hatte ich eine Offenheit und Sensibilität für den künstlerischen Ausdruck. Der ist nicht gefördert worden, weder in der Schule noch zu Hause, aber das war in mir. Ich war als Kind gequält, denn in Bayern gab es noch keine Trennung zwischen Staat und Kirche und alle Mädchenschulen waren in der Hand von Klosterfrauen. Ich war der Ideologie ausgeliefert, die damals den Kindern gnadenlos aufgezwungen wurde. Zudem kam ich aus einer Mischehe. Mein Vater Bayer, traditionell katholisch, und meine beiden Mütter Protestantinnen. In der Schule habe ich im Religionsunterricht gelernt, dass meine Eltern deshalb in die Hölle kommen. Ich konnte es nicht fassen und hielt schon sehr früh eine intensive Zwiesprache mit Gott, an den ich noch geglaubt habe, auf den Knien in der Kirche. Ich war also sehr mit essenziellen Fragen beschäftigt. Dazu kam noch, dass ich durch einen bösen Kommentar von einem meiner Brüder erfahren hatte, dass meine Mutter gar nicht meine Mutter ist, sondern meine Mutter nach meiner Geburt gestorben war. Es gab 1947 kein Penicillin. Ich bin im Februar geboren, kalter Winter. Gut, wenn mein Vater aus privilegierten Verhältnissen gekommen wäre, hätte er vielleicht mit Geld oder Kontakten zur US-Besatzungsarmee irgendwas deichseln können. So konnte er nur sein Blut geben. Aber sie starb eine Woche nach meiner Geburt. Darum beschäftigten mich diese existenziellen Fragen, warum lebe ich, warum musste jemand sterben, warum musste die Familie unglücklich sein. Meine Stiefmutter war die ältere Schwester meiner Mutter. Und das hat eine existenzielle Position stark geprägt, dass nichts selbstverständlich ist, gar nichts. Die Religion war erstmal Trost für ganz vieles. Als ich Jugendliche war, entstand einerseits der Wunsch nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und dann eben das Interesse an Kunst. Dass ich selber Künstlerin werden durfte, das war ein absolutes Tabu. Mir stand das nicht zu. Ich musste eigentlich alles gutmachen, was durch meine Existenz kam, den Tod gutmachen, und immer für andere da sein. Ich bedauere das nicht. Viel später habe ich es Gott sei Dank geschafft, eine Psychoanalyse zu machen und zu erfahren, dass ich sein darf, mit dem, was mir wichtig ist. Ich bin eine Spätentwicklerin. Ich war zum Beispiel älter, als ich an die Städelschule kam. Es war schwierig im Alter der Professoren zu sein. Die Jugend will ja nur unter sich bleiben. Aber es war ein Weg, auf dem ich lernte, zu mir zu stehen oder mich einfach kennenzulernen. Ich bin mittlerweile sehr glücklich, diesen überhaupt gefunden zu haben.

Von Experimentalfilm hatte ich überhaupt keine Ahnung. Damals hat ein junger Künstler, der grade seinen Abschluss gemacht hatte an der Städelschule in der Filmklasse von Peter Kubelka, mich gefragt, ob ich nicht an seinem Workshop teilnehmen will: Super 8 als künstlerisches Medium. Ich hatte ja noch nie eine Kamera in der Hand. Den Ausschlag gab, dass ich ihm einen Gefallen tun wollte, damit er ein zahlendes Mitglied mehr kriegt. Dann war das eine kleine, sympathische Gruppe. Alle anderen wussten schon, was Experimentalfilm ist und wollten das auch machen. Ich war die Einzige, die in dem Sinne naiv war. Ich hab mir eine gebrauchte Super-8-Kamera, einen Bildbetrachter und einen Projektor gekauft. Damals wurden die Filme ganz schnell entwickelt, das war ein Paradies. In Frankfurt gab es das Agfa-Labor, da konnte ich mit dem Fahrrad hinfahren und sie am nächsten Tag zurückkriegen. Na ja, wir haben uns die Filme angeguckt und besprochen, und peu à peu habe ich gelernt, was man mit der Kamera machen kann, Bilder verdichten und so weiter. Als der Kurs zu Ende war, habe ich einfach weitergefilmt. Irgendwann stellte sich die Frage, was ist das jetzt? Ich hatte eine richtige Leidenschaft entwickelt. Damals habe ich einen ganz kurzen Film gedreht, eine Minute, bei dem mein Herz höhergeschlagen hat, als ich ihn sah, weil ich dachte, das ist was, das bin ich und meine Wahrnehmung. Ich konnte dafür eine Sprache finden, eine ganz leichte, kurze Form. Und mein Freund sagte, oh, das ist ein guter Film. Ich unterrichtete zu dem Zeitpunkt mit einer halben Stelle Sprachen auf einem Gymnasium. Ich stand unter dem Einfluss der politischen Bewegung Anfang der Siebziger und dem berühmten Aufsatz von Adorno „Erziehung nach Auschwitz“ und wollte Kinder von früh an so unterrichten, dass die nicht mehr der Fraß von irgendwelchen Demagogen werden können. Ich hatte mich in einer Nacht entschieden, ich gehe von München nach Frankfurt. Damals lief eine große pädagogische Debatte zu neuen Lehrplänen, die nicht mehr aus autoritären Zeiten stammten. Hessen war damals am offensten. Und ich hab mich entschieden, an eine Gesamtschule zu gehen. Ich hatte mein eigenes Bildungsschicksal vor Augen und wollte etwas weitergeben, damit Kinder aus der Unterschicht auch eine Chance haben. Mir wurde relativ schnell klar, dass das System das nicht akzeptiert. Sie gaben mir meine erste Stelle nicht in einer Gesamtschule, wie ich es beantragt hatte, sondern schickten mich ans Abendgymnasium Frankfurt. Das war damals eine Schule, die neu gegründet war. Die Studierenden hatten sich eine eigene Schule erkämpft durch Schulbesetzungen. Ich bekam ein Disziplinarverfahren, weil ich sehr engagiert war. Ich durfte nicht mehr unterrichten, weil ich angeblich radikal war. Ich war auf der Suche. Ich wollte etwas finden, mit dem ich wirklich übereinstimme. Das war eine schwierige Zeit. Erst dadurch, dass ich an dem Workshop teilgenommen und die Kamera als mein Kommunikationsinstrument mit der Welt entdeckt hatte, habe ich begriffen, wie stark visuell ich eigentlich wahrnehme. Das erlebt man ja nur durch Tun. Ich bin auf eine halbe Stelle gegangen, aber die Arbeit in der Schule war eine Qual. Ich hatte ja immer noch das Disziplinarverfahren. Als das ans unabhängige Verwaltungsgericht ging, wurde mir bestätigt, dass es in meinem Fall völlig ungerechtfertigt war. Ich wollte für die Schüler nur Gutes und habe versucht, meine Ideale und Kreativität weiterzugeben, aber das geht in einer so starren Institution nur schlecht. Auf jeden Fall war ich dadurch finanziell unabhängig.

Dann fragten einige Leute aus dem Super-8-Kurs, warum gehst du denn nicht mal zu Kubelka, wenn dir das Filmen so wichtig geworden ist. Ich hatte gehört, was für eine autoritäre Vorstellung dieser habe von dem, was Film ist, oder dass er auch eine sehr autoritäre Person sei. Ich dachte, er haut mir meine kleinen Filme kaputt, wenn ich hingehe, die waren ja noch wie kleine Pflanzen. Als mir klar wurde, dass ich einen künstlerischen Weg gefunden habe, dachte ich, ich kann es ja mal probieren. Es war ein Vorteil, dass Kubelka kein Bürokrat war. Er war sofort mit mir als informellem Gast einverstanden, da hatte er was Großzügiges. Und da saß ich mit den jungen Studenten in seiner sogenannten Projektanalyse und habe beides erlebt: dass ich tatsächlich viel besser begriffen habe, was Film als Medium ist, dann auch den Anspruch an Film als Kunst – wobei das zum Teil auch willkürlich war. Und dann auch die andere Seite, die ich unmöglich fand, dieses Gehabe, ich bin Gott. Oder wie er auch Leute wirklich kleinmachen konnte, wenn er etwas nicht mochte oder blöd fand. Also, ein ziemlich willkürliches Temperament. Na gut. Die einzige Bedingung, die er mir gestellt hat, war, ich muss einmal zeigen, was ich mache. Ich habe den Moment immer gefürchtet. Ich hatte immer was dabei, wenn wir uns getroffen haben. Er fragte, wer will heute was zeigen? Ich habe den jungen Studenten sehr gerne den Vortritt gelassen. Dann war das Semester zu Ende und er sagte, jetzt haben Sie ja immer noch nichts gezeigt. Na, dann hab ich einen Film gezeigt. Er hat gesagt, Sie haben ein filmisches Auge. Irgendwie war das nicht negativ. Und ich hab ihn gefragt, ob es okay ist, wenn ich wiederkomme. Es war okay. Im nächsten Semester hab ich den Film, den ich zum ersten Mal als etwas Gelungenes oder Stimmiges erlebt hatte, gezeigt. Kubelka sprang von seinem Stuhl auf und hat gesagt, wollen Sie meine Studentin werden? So gut fand er den Film. Den hatte ich noch nie vorher gezeigt, ich hatte ihn ja schon gemacht, bevor ich zu Kubelka kam, aber ich wollte ihn schützen. Ich habe zu ihm gesagt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir wäre der freie Status ganz recht. Ich war auf der Suche nach meinem Weg. Als ich dann weitergemacht habe, habe ich gemerkt, wie gern ich filme, es war ein richtiger Aufbruch. Etwas später bin ich Gaststudentin geworden, war voll und ganz auf dem Weg zu meinen Filmen. Es war toll. Und dann kam ein Moment voller Schrecken, als ich mich zu Semesterbeginn wieder zurückmelden wollte. Da sagte die Sekretärin, ich sei gefeuert. Wieso denn, mit Kubelka war alles in Ordnung. Dann hat sich rausgestellt, der neue Rektor der Städelschule, Kasper König, hatte alle Gaststudentinnen rausgeschmissen, unbesehen, weil er dachte, dass sind alles die Frauen von Mittelschichtsmännern. Ich hab gedacht, so ein blöder Kerl, solche Vorurteile. Es kann schon sein, dass die ein oder andere so ein Fall war, aber warum auch nicht. Kubelka war damals in Chicago auf einem Sabbatical. Ich hab seine Nummer rausgekriegt und ihn angerufen. Herr Kubelka, ich bin rausgeschmissen. Er war auch ganz verblüfft und entsetzt und hat gesagt, das kommt überhaupt nicht in Frage, jetzt werden Sie Vollstudentin. Ich musste keine Aufnahmeprüfung machen. Parallel habe ich immer gearbeitet, hatte aber die Nase voll von der Schule. Ich wollte auch von dem Gymnasium weg, wo die Leitung im Grunde nicht akzeptiert hat, dass ich Kunst studiere, dass ich nicht ganz da bin. Nach meinem Studium an der Städelschule sagte Kubelka, es wäre gut, wenn Sie ein Jahr nach Amerika gehen. Ich ging ein Jahr nach New York
und später, immer wenn ich ein Stipendium bekam, raus aus der Schule. Bis ich die Spannung psychisch nicht mehr verkraftet habe. Ich war ja nicht auf der Suche nach einem schönen Leben, sondern nach dem, was ich bin und was ich aus mir heraus gestalten kann. Das dauerte und das hab ich gefunden. Es war eh ein Glück, dass ich innerhalb der Berufstätigkeit eine gescheite Arbeit machen konnte, auch wenn es hart war. Irgendwann ging es nicht mehr, ich wurde depressiv. Ich hatte von der Hessischen Kulturstiftung anderthalb Jahre lang ein Stipendium in Paris, in der Cité des Arts. Wieder zurück in der Schule bin ich zusammengebrochen. Mein Analytiker hat gesagt, jetzt reicht’s. Die Schule ist auch ein Teil Ihrer Depression, Sie gehen nicht mehr zurück. Das war sehr schwierig mit meiner Moral zu vereinbaren, Klassen im Stich zu lassen und dass Kollegen sie übernehmen mußten. Aber ich habe es durchgestanden. Ich habe 25 Jahre in der Schule unterrichtet. Als ich mich allmählich als Künstlerin sehen konnte, war ich um die 40. Insgesamt habe ich sechs Jahre Kunst studiert. Mit Mitte 50 bin ich dann frei gewesen, war quasi eine junge Künstlerin, aber eine ältere Dame. Es war alles nicht leicht und kein Zuckerschlecken mit Super 8 und meinen kleinen visuellen Verdichtungen.

Es hat eine Rolle gespielt, dass Kubelka meine Arbeit teilweise sehr schätzte. Das konnte sich bei ihm ändern, aber gut. Und dann paradoxerweise auch König. Als der seinen ersten Rundgang machte, da hatte die Filmklasse ein kurzes Filmprogramm zusammengestellt. Ich war gar nicht da, musste in die Schule zu einer Konferenz. Aber da war mein Film, von dem ich erzählt habe, mittendrin. Und König sieht ihn und findet ihn spitze und will mich kennenlernen. Ich hab mir gesagt, der kann mich mal, der hat mich ja rausgeschmissen mit seinem Frauenvorurteilen. Er wollte sofort was für mich machen. Wenn er etwas gut findet, macht er das ja. Das ist eine Stärke von ihm, hat natürlich mit seiner Machtposition zu tun. Ich habe nicht gleich mitgespielt, sondern gebremst. Das hat mir gut getan. Ich machte ja was, was die Jungen aus der Filmklasse nicht machten, etwas Altmodisches, Poetisches. Wenn Kubelka das nicht gut gefunden hätte, hätten sie es auch nicht gut gefunden. Sie waren ja so autoritätsabhängig.

Ich habe mit Kubelka besprochen, was er davon hält, dass ich eine Filmvorführung in der Aula der Städelschule mache. Ich hatte ja diese kurzen Filme. Warum bringen Sie die Filme nicht in eine Reihenfolge, die Ihnen entspricht? So habe ich angefangen und quasi gelernt, mich mit der Präsentation meiner Filme überhaupt zu beschäftigen und die Montage der Filme entdeckt und ein Programm konzipiert. Die Schule hat dazu eingeladen und das war auf einmal ein Event. König war begeistert. Ich hab mich aber weiter geschützt vor dem frühen Ins-Licht-gerückt-Werden. Ich war noch nicht soweit, ich war noch im Prozess. Es hat sich langsam entwickelt, auch die Formen der Präsentationen, die ich richtig fand. Wie der Projektor im Raum steht, wie ich vorführe, wie die Filmgeschichte transparent wird, nicht großes Kino, sondern kleines Kino.

Ich war in keinem Kreislauf von Verbindungen zu Institutionen. Das ging über einzelne Leute, die meine Arbeit kennenlernten, und das war super. Ich kann nur von Glück sagen, dass mir das so allmählich geschenkt wurde, in lauter Etappen. Ich liebe es, Vorführungen an Orten zu machen, die nicht institutionell sind, weil ich bei dem Medium Super 8 geblieben bin, das eigentlich fragil ist und nicht überall einsetzbar. Lange habe ich meine eigenen Projektoren mitgenommen, aber das ist wirklich beschwerlich, und im Flugzeug kannst du das kaum noch machen.

Ich kann keinem Jüngeren empfehlen, mit Film zu arbeiten, es ist zu teuer und wird immer schwieriger. Ich verstehe, dass die Leute auf digital gehen müssen. Aber Video ist nicht besser, es ist ein anderes Medium. In den letzten Jahren habe ich gemerkt, allein dadurch, dass ich meine Praxis beibehalte und ausstelle, sensibilisiere ich dafür, ohne dass ich ein Wort sagen muss. Und viele junge Leute finden diese andere Qualität von Bild und Format faszinierend. Seit einiger Zeit werde ich eingeladen, dass ich darüber spreche. Das mache ich wie eine Performance. Ich mache meine Filme und Vorführungen schon lange, aber ich fühle mich gar nicht als alte Künstlerin.

Ich bin, als ich nicht mehr in der Schule arbeitete, nach Paris gegangen und habe dort fast zwölf Jahre gelebt. Dort machte ich die einschneidende Erfahrung, dass innerhalb von wenigen Jahren mir ganz nahestehende Menschen an Krebs erkrankt sind. Ich hab das alles mitgekriegt, die Therapien. So kam es, dass ich allmählich dachte, ich muss ja damit rechnen, dass auch ich krank und gebrechlich werde, es kann mich auch erwischen kann. So fing ich an, über einen Umzug nach Berlin nachzudenken, nur ein Gedanke, kein Motiv. Ich habe immer wieder mal mit meinen Freunden in Berlin darüber geredet. Eine Freundin hat mich auf diese Wohnung hier aufmerksam gemacht. Die fand die Idee gut, dass ich nach Berlin ziehe, für mich und auch für sie. Als ich die Wohnung das erste Mal besichtigt habe, zusammen mit der Freundin, habe ich mich unter Druck gefühlt. Ich hatte noch gar keine Lust, aus Paris wegzuziehen und habe deshalb gar nicht deren Qualitäten gesehen. Gott sei Dank habe ich die Vormieterin gefragt, ob ich eine Nacht drüber schlafen dürfte und vielleicht am nächsten Tag nochmal kommen könnte. Eine andere Freundin begleitete mich. Sie meinte, Mensch, ich würde die sofort nehmen, die ist toll! Ich habe nochmal überlegt und gedacht, wenn ich das vorhabe, dann muss ich es machen, solange ich gesund bin und noch die Kraft habe, ein neues Leben zu beginnen. Ich denke, die Gründe waren richtig. Wenn ich den Wechsel rausgeschoben hätte, hätte ich wahrscheinlich noch größere Probleme gehabt mit der Umstellung. Ganz davon abgesehen, dass ja jetzt der Wohnungsmarkt in Berlin noch schwieriger geworden ist.

Lange habe ich meine Filme überhaupt nicht als wertvoll betrachtet und als etwas, das die technischen Innovationen überleben kann. Irgendwann hat eine Filmkuratorin, die meine Arbeit sehr schätzt, die Gretchenfrage gestellt: Hast du vorgesorgt, was mit deinen Filmen nach deinem Tod passiert? Mir wurde ganz heiß. Natürlich hatte ich das nicht. Ich hab auch immer alle Filme bei mir gehabt. Sie sagte, das geht nicht. Sie hatte das schon öfters gehört. Wenn man das nicht geregelt hat, haben die Angehörigen Arbeiten weggeworfen oder den Zugang versperrt. Dann hab ich das erste Mal versucht, ein Testament zu schreiben. Das ist jetzt schon länger her. Aber ich musste Rotz und Wasser heulen. Wer will denn mein Werk und wie soll es geregelt werden? Ich weiß schon gar nicht mehr, was da drin stand. Es war auch keine vernünftige Lösung. Nach dem Tod eines Bruders war ich damit befasst, seine ganze Existenz abzuwickeln. Das hat mich gepusht. Ich war immer noch nicht beim Notar und das Testament es ist auch noch nicht endgültig, aber die Richtung ist auf jeden Fall da. Ich möchte mein ganzes Werk und die Rechte daran nach meinem Tod dem Arsenal Institut für Film und Videokunst übermachen. Dass sie meine Arbeit, solange es geht, adäquat und in meinem Geiste behandeln. Ungefähr so. Wir haben uns sogar mit dem Anwalt des Arsenals getroffen. Das ist jetzt der Stand der Dinge, ist aber immer noch nicht fest.

Das innere Alter korrespondiert nicht mit dem echten Alter. Ich sehe, man sieht’s. Aber das Entscheidende ist sowieso, ob man es will oder nicht, dass man im Hier und Jetzt gut und sinnvoll lebt. Die Vorstellung von Tod und Krankheit hemmt nur das Leben. Wenn es kommt, muss man sich damit auseinandersetzen. Das ist dann auch nicht freiwillig, sondern dann muss man. Mit der Zeit habe ich versucht, die Vergänglichkeit philosophisch zu akzeptieren, parallel zu allen anderen Entwicklungen. Und mit diesem Rätsel unserer Existenz klarzukommen. Eine Zeit lang habe ich gedacht, ich würde gerne ganz bewusst den Moment des Sterbens erleben, weil ich glaube, das er ganz schön sein kann. Egal, ob es Botenstoffe sind, wenn man es naturwissenschaftlich erklärt, oder spirituell eine Passage in eine andere Existenzform. Ich habe jetzt öfter erlebt, dass Jüngere oder Gleichaltrige sterben. Das wird im Alter immer mehr passieren. Drum ist es auch gut, nicht nur in einer Generation Freunde zu haben.

Ich hatte verschiedene Altersabschnitte, nicht in einem traditionellen Sinne. Wenn man Kinder hat, kriegt man es stärker mit. Das fehlt natürlich, wenn man keine Kinder hat. Ich bin nicht in der Position, wo ich plötzlich eine Erwachsenenverantwortung habe. Man hat eine andere Verantwortung, aber nicht die Generationsverantwortung bis hin zur Großmutter. Meine Familie ist die einzige, die ich kenne, in der es überhaupt keine Kinder gab. Ich finde das seltsam und traurig, aber es lag an einer unglücklichen Konstellation. Von daher kann man sagen, dass ich wirklich Vollwaise bin. Es bleibt von unserer Familie nichts übrig, außer meine Filme. Ich glaube, andere Generationen können sehr gut ohne meine Arbeiten leben. Aber wenn sie noch ein Stück weiterleben können und einen Sinn nicht nur für mich haben, dann ist etwas gewonnen.