Im Kopf der Mutter

2022:Mai // Christoph Bannat

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05-2022


Eine schwarze Wand aus Uniformen blockiert die Wohnungstür. Zwei Polizisten, zwei Fremdkörper in einem unbekannten Stadtteil gezüchtet, stehen in der Wohnungstür meiner Mutter. Sie blockieren den Flur meiner Kindheit, bis ich sie ablöse. Meine Mutter hat ihre Brillen verlegt und 110 gewählt. Logisch, wer sich Ordnungshüter nennt, muss damit rechnen, denk ich. Komplizierter wurde es, als sie ihre Wohnungsschlüssel in der Wohnung verlor. Da kam die Ordnungsmacht nur bis vor die Wohnungstür. Daraufhin begann ich, tageweise bei meiner Mutter zu wohnen. So lebte ich ein Stück weit in ihrem Kopf, aber auch in meiner Kindheit und Jugend. Denn die Wohnung ist das Abbild ihres Kopfes. In ihr verliert sie Dinge, oft von einer auf die nächste Sekunde. Dinge, die über Monate oder gar nicht mehr auftauchen. Dinge, die in den Falten von Wäschestapeln, in Kartons und Schubladen versteckt werden, und das so gut, dass sie die selbst nicht wiederfindet. Als wollte sie Michel Foucaults Behauptung, dass die Ordnung der Worte die der Dinge vorausgeht, karikieren. Hier bestimmt die Ordnung der Dinge das Denken. Und damit ihr Ordnungssystem schlüssig bleibt, wird der Grund für das Verschwinden von Dingen externalisiert und personalisiert. Das erinnert mich an Corona-Verschwörungsideen, bei denen auch ein in sich logisches System kennzeichnend ist. Folgerichtig bricht der Nachbar bei ihr ein und klaut. Und logischerweise ist er (für sie) ein Schlosser, der jede Tür öffnen kann. Normalerweise kommt er, wenn sie aus dem Haus ist, aber auch wenn sie schläft. Und da er ein böser Mensch ist und sie oft nur ärgern will, verschiebt er manchmal die Dinge auch nur. Dinge, die sie in ihrem Kopf, der Wohnung, verschiebt und verliert. Ich bin dann dafür da, sie wieder auftauchen zu lassen. Tauchen sie dann auf, ist ihr Verschwinden schnell vergessen. Es sind Dinge, die über Jahre mit Informationen gespeist wurden, wie der Ehering meines Vaters, mit dem eingravierten Hochzeitsdatum.
Sie ist kein Messi. Sie wirft so gut wie nichts weg. Bei 3 Kindern und 2 Erwachsenen in einer 4-Zimmerwohnung, über 6 Jahrzehnte kann aber auch das durchaus zu einem Problem werden. So begann ich Ordnung zu schaffen und Dinge wegzuwerfen. Gleichzeitig reiste ich anhand der Dinge zu den Sachen-Tatsachen und Sachverhalten. Dann; von den Sachen zu den Menschen und zurück. Kopfreisen im Wissen, dass Zukunft unsere zukünftige Vergangenheit ist. In diesem Bewusstsein informieren wir Dinge und gestalten unsere Vergangenheit. Im Wissen, dass sie das Einzige ist, das wir sicher haben, die aber im Rückblick meist eine ganz andere ist. (Die einzige Lösung wäre: aus der Zukunft unsere Gegenwart zu informieren, um damit die Vergangenheit zu bestimmen). Alles nur ein Gedankenspiel. Spiel, mit der Voraussetzung, dass man sich gern erinnert. Was Vertrauen voraussetzt, dass die Erinnerung nicht das Leben bedroht. Durch alte Briefe wird mir noch einmal der Wahn meines Bruders und seine soziale Behinderung vor Augen geführt. Andere Reiserouten verlaufen über die Haptik. So begann eine sinnliche Reise mit meinem Kinderwaschlappen. Von kratzig trocken, zu schwerer Nässe, die bei leichtem Druck warme Rinnsale über den Körper schickt. Damit war klar: selbst der letzte Lappen ist mit Vergangenheit informiert. So kam ich mit dem Aufräumen nicht weiter. Ich konnte die Vergangenheit nicht aufräumen, versuchte sie aber zu ordnen. Gleichzeitig kramte ich im Kopf meiner Mutter. Das musste sein, denn die Dinge verstellten die „Wege des Sozialen“; die Pflege der Wohnung und die „Sorge um sich selbst“. Voraussetzungen für ein halbwegs geordnetes Sozialleben. Was sie so nicht wollte, denn am liebsten wollte sie allein sein. Ich griff also in ihre Ordnung ein, bis sie wütend wurde. Sie fühlte sich überversorgt und bevormundet (erinnerte mich an Impfgegner, die sich dagegen wehren, dass andere ihnen sagen, was gut für sie ist – scheint etwas Grundsätzliches zu sein). „Du behandelst mich wie ein Kind“, war ihr Vorwurf. „Und was ist so schlimm daran?“, konterte ich, mit der anschließenden Aufforderung das Kindsein doch zu genießen. Worauf sie entgegnete: „Nur eins ohne Mutter“.
Nach 65 Ehejahren ist mein Vater letztes Jahr gestorben. Ich werfe also behutsam Dinge weg, Plastikkram aus den 70ern. Aber auch dieser ist mit Erinnerungen geladen. In ihrem Kopf ist alles mit ihrer Geschichte informiert. Die arme verwirrte Frau wandert in der Wohnung, in ihrer Vergangenheit. Nicht die Hülle, sondern die Information sind der Wert. So schleicht sie durch die Zimmer und schichtet ihre Erinnerungen um und legt Verstecke an. Schreibt sich in Steno (ihre Geheimschrift) auf, wo die Sachen liegen, steckt die Zettel zwischen die Dinge, kramt alte Notizzettel vor, geht diesen nach und verliert dabei den Überblick. Dazwischen Hilferufe, Angst verrückt zu werden und die Frage, wo denn mein Vater sei und wann er wiederkommt.
Nicht wenige meiner Freunde informieren Leinwände mit Farbe, oder werkeln und informieren Dinge um. Größe, Menge und Formate zeigen ihren sozialen Stand. Manche leisten sich Lagerräume, andere stellen Atelier und Wohnräume mit Dingen zu. Wohin damit, wenn sie einem die Lebenswirklichkeit verstellen? Wohin, wenn sich kein Museum (Ordnung der Dinge und Verschlagwortung) und kein Markt (Streuung der Dinge) dafür interessiert? Wenn keiner außer dem Produzenten Lebenszeit in diese Dinge investiert hat? Mit der Hoffnung, dass diese Dinge in der Zukunft ihren Wert, und das auch für andere, erst noch bekommen. Sicher, wir brauchen diese Dinge, um uns die Welt zu vergegenwärtigen und um Abstand von ihr nehmen zu können. Aber reicht es nicht nur noch Readymades, zur Müllvermeindung, zu „produzieren“?
Joseph Beuys hatte Duchamp vorgeworfen, dass sein Pissoir eigentlich kein Readymade sei, da es bereits durch Arbeitskraft informiert wurde. Walter Benjamin sah in der Massenproduktion die Langeweile am Fließband, die in die Dinge eingearbeitet ist und wieder ausdunstet, ohne dass diese ihre Aura verlieren. Es sind also nicht die Dinge selbst, die sich verrätseln. „Zauberdinge“ nennt Wolfgang Koeppen sie, für die wir bezahlen, uns verschulden und sogar morden. Warenfetisch, nennt Karl Marx den Wert, den wir ihnen beimessen, mit seiner legendären Bemerkung, „dass alle Dinge Menschen sind“, in Anlehnung an Ovids Metamorphosen. Gemeint ist wohl die Verwandlung von Arbeitskraft in Dinge, in Geld und wieder in Arbeitskraft. In diesem Sinne verstehe ich Annie Ernaux, wenn sie schreibt; dass in den 1970ern Ideologie durch Konsum ersetzt wurde. Für meine Eltern war „Das Neue an sich“ schon ein Erlebnis. Die Möbel von den Eltern nicht übernehmen zu müssen, ein Versprechen. Die nächste Generation hat das Verschwinden von Speichermedien, von Vinyl über Floppy-Disk bis zur DVD erlebt. Ein riesiger Müllhaufen. Und immer wieder wird das neueste Ding auch als neuer Möglichkeitsraum verkauft.
Nach dem großen Irrbruch sind meine Eltern beide geflohen. Mein Vater aus dem Elternhaus, meine Mutter aus der Ostzone. Jetzt zerfallen in der Wohnung meiner Kindheit und Jugend die Informationen und die Dinge bleiben. Zu welchen Einheiten, frage ich mich? Und denke, als Kitschnudel, die ich bin, dass nur bleibt, was man Gutes im Leben getan hat. Das bleibt in der Weltgeist-Cloud (der großen Vernunft). Und der Versuch einer schönen Lebenslinie. Und das Bemühen, den Faden nicht abreißen zu lassen. Und dass nur dies den Weltgeist und die Vernunft zum Guten nährt. Und sollte das doch die falsche Vernunft sein, so bleibt die Hoffnung auf den Zweifel – und die Angst vor dieser Art von Vernunft. Und wem das zu kompliziert ist, fragt sich doch einfach, wie er sich 2040 an das Jahr 2022 erinnern möchte. Vielleicht nicht gerade daran, dass er zu viel vor dem Computer gesessen hat, um einen glaubhaften Lebenslauf designt und ins Netz gestellt zu haben.

Illustration: von hundert