Die alte Moral des Zero Waste

2022:Mai // Chat

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05-2022

„Mir wird was zugespielt und ich erhalte das dann. Zum Beispiel jetzt deine Zeitschrift von hundert.“

Die Textilgestalterin Jutta Lademann sieht sich als Bewahrerin ganz im Sinne der Nachhaltigkeit. Es geht ihr um die Achtung jedes einzelnen Gegenstandes, „der einmal von irgendjemandem hergestellt worden ist. Er hat seine eigene Bestimmung.“ „Ich freue mich an den Dingen richtig doll“, gesteht sie und bekennt sich eindeutig als Anti-Konsumistin. „Ich habe alles übernommen, gefunden oder geschenkt bekommen.“ Was wie ein Programm eines Zero-Waste-Ladens in Friedrichshain klingt, praktiziert sie ein Leben lang. Die Nähe zum Material und zur Herstellung in ihrem Beruf hat sie im besten Marxschen Sinne für den Wert der Dinge und der Arbeit sensibilisiert. Die Liebe zum Formschönen und zur Handarbeit hatten ihr wohl die Eltern mitgegeben, die damals in den 30er-Jahren von den Ideen und Konzepten des Bauhauses geprägt und in dessen Stil eingerichtet waren. „Selbst in einer kleinen Schraube seh ich was Besonderes, die kann man ja mal gebrauchen. Ich halte gar nichts von der Wegwerfgesellschaft.“ War das nicht ein Ausdruck aus den Siebzigern? So lange beschäftigt uns dieser kapitalistische Wahnsinn schon.
Was bringt’s überhaupt, wenn man Geschichte anfassen kann?
Wenn das Haptische nicht gepflegt werde, bestehe tatsächlich die Gefahr, dass der Mensch mit seinen Händen hilflos dastehe. Sie möchte die neuen Medien nicht missen, um Geschichte zu vermitteln, seien virtuelle Welten allein jedoch nicht geeignet. Das Virtuelle sei zu schnell. Nichts bliebe hängen. Mit einem Knopfdruck sei alles wieder weg. „Die Dinge führen ein aktives Leben“, hält sie dagegen, „sie erinnern dich an Vergangenes. Im Alter beruhigt der Dialog mit der Vergangenheit.“
Dinge in Wirklichkeit zu besitzen, Dinge, die man berühren kann, sei eben das Ergebnis von Wertschätzung.
„Das gilt übrigens auch für Menschen“, fügt sie idealistisch hinzu. Die Gastronomen-Tochter kommt der in ihren Augen wichtigsten Gabe mit Leidenschaft nach: gut zu bewirten und zu unterhalten. Sie bekomme dreimal die Woche Besuch zum Mittagessen. „Der Mensch braucht unbedingt Gesellschaft, sonst stirbt er. Aber man muss was dafür tun.“ Ihre Eltern führten seinerzeit eine Weinstube in der Dorotheenstraße in Mitte, bis sie schließlich Berufsverbot bekamen. Das Lokal Schildkröte war ein Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler gewesen.
Vor dem Mittagessen – ohne Fleisch kriegt man ja gar keine richtige Soße hin – führt Jutta durch das Archiv ihres Lebens. Auf einem Sockel ruht eine Schildkröte, die ein Bildhauer ihr zu Ehren aus einem baltischen Findling geschlagen hat. Bücherregale an mehreren Wänden reichen bis unter die Decke, auf Hockern davor stapeln sich Neuerscheinungen, die nicht mehr hineinpassen.
Geschirr in einem original Schrank der Deutschen Werkstätten des Bauhauses mit einer Gardine hinter der Glastür oder charakteristisches Porzellan an einer Hängevorrichtung in der Küche. Kubikmeter Textilien und Wäsche in einem Massivholzschrank im Arbeitszimmer und versilberte Schalen aus dem Lokal ihrer Eltern vor den Büchern im Schlafzimmer. Alle Zimmer sind ausgestattet mit antiken Berliner Lampen aus der Art-Deco-Zeit. Bis in die Kellerräume reicht die gepflegte Sammlung, wo sich Objekte aus Glas aller Art aneinanderreihen. Ein Raum, den sie gerade hat renovieren lassen, soll künftig eigens für Dia-Projektionen ausgestattet sein. Denn wie sie im Haushalt Ordnung hält, so hat Jutta ihr gelebtes Leben sortiert. ­Schmale schwarze Koffer beherbergen Hunderte von Dia-Kästen, die darauf warten, vorgeführt zu werden. Ganze Regalbretter voll mit Alben einer Generation, z.B. aus der Zeit der DDR, mit den Reisen nach Moskau oder ans Schwarze Meer, als die Kinder klein waren, oder Alben und Ordner anderer Epochen ihres fast hundertjährigen Lebens. „Das war eigentlich das Schönste“ erinnert sie sich, als sie mir erklärt, was sich in fast 20 Mandarinen-Kartons befindet. Dokumentationen der Reisen, die sie mit ihrem Ehemann nach der Wende in die ganze Welt unternommen hat. Auch die Weltreise vor vier Jahren, im stolzen Alter von 88 ohne Mann ist wie immer in Bildern, Souvenirs und Anekdoten anschaulich festgehalten. Wie auch nicht!? Das, was im Computer einige Gigabite sind, stellen hier allerdings Ziegelsteine in Papier dar. Noch ist sie stark genug, die Gewichte zu stemmen.
Und was ist überhaupt, wenn sie nicht mehr da ist? Darauf scheint sie gut vorbereitet zu sein. Ein Zitat habe sie mit dem Gedanken versöhnt, dass ihre Hinterlassenschaften ohne sie ihren Weg gehen werden. Irgendwann einmal müssen sie zurück in den großen Umlauf der Dinge – als Handelsobjekt, Spielzeug oder was auch immer. Und eines Tages werden auch diese Sachen Abfall. Ich finde daran nichts Schreckliches. Im Gegenteil, es ist ein befreiender Gedanke. (Pascal Mercier ). Alle Dinge haben ihre Geschichte, aber nicht alle interessieren sich dafür.
Eine kleine Kunstsammlung von befreundeten Künstler*innen und mit eigenen anthroposophisch angehauchten Grafiken aber gibt ihrem Zuhause die persönlichste Note. Jutta Lademann war Mitglied des renommierten Zirkels für künstlerische Textilgestaltung Potsdam, der heute mit 500 Exponaten inklusive 42 Gobelin-artigen Wandbehängen im Museum Europäischer Kulturen in Dahlem und im Potsdam-Museum vertreten ist.
Fotos: Chat