Kontaktzonen

Inklusion-Exklusion-Spezial

2017:September // Agnieszka Roguski

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09-2017

Vor der Eröffnung klebt der „Head of Public Programs“ hellgelbe Post-its zu einem großen Rechteck zusammen. Auf den kleinen Zetteln stehen Namen. Der Assistenzkuratorin erläutert er knapp die Berufe, die mit den Namen zusammenhängen, um Feedback für die Positionen der Zettel zu bekommen. Nachdem er nachdenklich ein paar Post-its hin- und hergeklebt hat, konsultiert er am Ende des Tages den Direktor des Ausstellungshauses. Die Tischordnung für das Eröffnungsessen wird abgesegnet.

Gemeinsames Kochen, Essen, Trinken, Singen findet immer wieder auf der diesjährigen documenta statt; mit diesem Programmpunkt lassen KünstlerInnen das Life-Erlebnis von Performance in den Vordergrund treten.

„It’s more about not looking weird at this nation table of art world citizens“, sagt der international arbeitende Kurator bei der Talkrunde über den globalen Anspruch von Kunst.

„Die gerechte Gemeinschaft ist also jene, die nicht theatralische Vermittlung toleriert, jene, in der das Maß, das die Gemeinschaft regiert, direkt im lebendigen Gebaren ihrer Mitglieder verkörpert ist.“1

„Wir“ applaudieren. Wir applaudieren diesem Wir zu, von dem wir reden, wenn wir jemanden auf die Bühne holen, der uns von ihnen erzählt. Sie haben es verdient, das Wir-Gefühl mit uns zu erleben. Was damals passiert ist in Kassel – der Mord an Halit Yozgat –, war nicht richtig, und so zeigen wir Solidarität, indem wir aufstehen, wenn die „Gesellschaft der Freunde von Halit Yozgat“ im Scheinwerferlicht der documenta-Pressekonferenz von Solidarität erzählt.

Den Aperol Spritz gibt es zum Glück auch im Plastikbecher, nicht ganz stilecht, aber mobil. Geht gut zwischen zwei Länderpavillons oder als kleine Erfrischung to go.

„How do artists engaging with urban communities around issues of displacement, disenfranchisement, and urban development open up prospects for new alliances and solidarities? Can art practices open possibilities for co-liberation?“ 2

Als heterosexuelle Frau in einer geschlossenen Beziehung lebend, fühle sie sich nun irgendwie ausgeschlossen, wenn Paul B. Preciado so leidenschaftlich vom „Parliament of Bodies“ spricht, in dem alle marginalisierten Identitäten ausdrücklich im Geiste der Demokratie teilnehmen sollen, sagt die Studentin der Critical Studies.

„Wenn ich im Goldsmith College angenommen werde, kann ich mir dafür nicht mehr die richtigen Klamotten leisten.“

Instagram-Reality-Check. Auf dem Foto sehe ich eine junge Frau, die auf einer Matratze sitzt. Oder liegt? In ihrer Hand eine Magnum-Flasche Sekt (Champagner?), neben ihr das Smartphone (ein iPhone7?). Sie lacht, wirkt fast benommen. Das Foto ist getaggt mit „Hotel Bauer, Venice“.

„We don’t become somebody by choosing, as in existentialism, or through direct action, as in Marxism, or by balancing the ego and the unconscious, as in psychoanalysis; but – for better or worse, and in a sense more vulnerably – by being exposed to something outside of ourselves.“ 3

Der Weg ins Hotel Bauer soll auch bei Überschwemmung allen zugänglich sein, darum wird ein kleiner Steg aufgebaut für all jene, die sich noch keine Plastiküberschuhe beim afrikanischen Straßenhändler gekauft haben.

„Polish“ heißt die in den westlichen Medien fast durchgängig verwendete Vorsilbe, wenn vom „curator Adam Szymczyk“ die Rede ist, der die diesjährige documenta unter dem Vorzeichen der Inklusion an den globalen Süden gerichtet hat.

Was soll man machen – als Residency-Programm ist man angewiesen auf Kulturfonds aus reichen Ländern, sonst könnte der Projektraum nicht existieren. Die Künstler kommen aus Kanada, der Schweiz, Neuseeland und Deutschland, sie arbeiten interdisziplinär und sind international vernetzt.

Ein DAAD-Stipendium für New York? Das Projekt ist unklar und das Geld wird nicht ausreichen, aber sie kann dort ihr Netzwerk ausbauen, immerhin trinkt sie jetzt schon regelmäßig Kaffee mit dieser bekannten Künstlerin, die in Harvard lebt.

Eine weitere Machtform ist das „network capital“ – „it is a fundamental aspect of current social processes and lies at the core of generating novel experiences in distant places and with others at-a-distance.“ 4

Als der Leiter des Workshops verkündet, er habe alle Bewerbungen akzeptiert, um niemanden auszuschließen, schrecken die Anwesenden empört auf. Sie dachten, sie seien unter vielen Bewerbungen ausgewählt worden?

Für die Soziologen Ève Chiapello und Luc Boltanski ist das Netzwerk vor allem ein Widerspruch: einerseits eine klare Form, die sich gewissermaßen im Dunst aller möglichen Verbindungen herauskristallisiert hat, andererseits eine chaotische Nicht-Form – „a paradox which implies that the digitally connected subject lives in a condition between doing and undoing, between being an actively communicating and a passive vehicle for information inside larger techno-linguistic sequences.“ 5

Eine Debatte ist gestartet auf der Facebook-Seite des New Yorker Kurators, der in Mexiko City lebt. In einem Artikel würden Kuratoren als die Despoten des Kunstfelds dargestellt, allein für Hierarchien und Ausschlussmechanismen verantwortlich; es ist von „Macht“ über die Figur des Künstlers und den Status des Kunstwerks die Rede. Institutionen müssten demokratisiert werden. Ob er sich nun ein T-Shirt zulegen solle auf dem stehe „Sorry for being a curator“?

Der Künstler und Herausgeber des diskursführenden Onlinejournals für zeitgenössische Kunst sagt, Kuratoren walten über Einschluss und Ausschluss von Ausstellungen, darin liege ihre Macht. Autorschaft sei allerdings nur Künstlern vorbehalten. Davon seien Kuratoren ausgeschlossen.

Der Manager im Silicon Valley erklärt, er habe ein neues Projekt gestartet. Eines, das ohne Ziel sei, denn vielleicht ergebe sich gerade dadurch, dass niemand etwas Spezielles umsetzen möchte, sondern einfach etwas gebe, beitrage und preisgebe, an anderer und nicht absehbarer Stelle dieser Mehrwert, von dem alle sprechen. Über einen hereinbrechend. Wer mitmacht? Kuratierte Kleingruppen mit ausgewählten Professionals, ein Kreativer ist obligatorisch dabei. Sind Künstler nicht die größten Visionäre? Jene, die auf dem Markt Erfolg haben? Weitblick und Feuer haben sie, nicht nur dieses niedlich-chaotische Traumwandlerdasein derer, die keinen Erfolg haben.

„Whether within or outside discourse, networks are integral to what it means to be a historical subject.“ 6

She’s black and female, alle atmen auf. Sie studierte am Bard College, arbeitete im New Museum und kann ihn sprechen, den Diskurs von criticality innerhalb der Reihen, die vielleicht nicht die ‚eigenen‘, aber auch nicht die ‚anderen‘ sind.

Der weiße Kurator hält in der internationalen Sommerakademie einen Vortrag über Rassismus im Kunstbetrieb. Der Faktor Rasse würde zwar oft mit dem Faktor Klasse in Verbindung gebracht werden, sei aber ein Parameter, den es für sich genommen zu betrachten gelte. Alle Anwesenden haben die Kursgebühr entweder selbst bezahlt oder aufgrund ihrer Kontakte, Abschlüsse und Referenzen ein Stipendium erhalten.

Der Direktor des Ausstellungshauses postet Bilder des VIP-Dinners auf Facebook, sharing the experience.

Als die Praktikantin eingearbeitet wird, soll sie fürs anstehende Sommerfest als Erstes lernen, Gesichter zu erkennen. „Um die richtigen Fotos zu machen“, sagt die Leiterin des Kunstvereins.

An der Bar herrscht Gedränge. „Amazing“ und „it’s so lovely to see you“, rufen sich zwei Männer in grellen Farben entgegen. Sie reichen den Barkeepern, die Gin Tonic und Negroni mixen, ihre Kreditkarten. Das Bier für fünfzehn Euro wird selten getrunken. Für zehn Euro mehr gibt es Longdrinks in schweren Kristallgläsern.

„Sharing“ könnte heißen, aus meinem Teilen einen Gewinn zu erzielen. Sharing heißt Öffentlichkeit, die privat genutzt und dadurch ökonomisch verwertet wird auf Geber- und Nehmerseite. Sharing heißt Zeigen und Sehen, Produzieren und Konsumieren.

Wieder ein Preis zu gewinnen, obwohl niemand die Performance anschaut, wenn sie nicht am Eröffnungsabend stattfindet.

Endlich. Die Akkreditierung ist angekommen. Natürlich kann ich auch ohne sie zur documenta. Aber macht es im Kreise der anderen Pre-Viewers nicht viel mehr Spaß? Wenn alles noch frisch, unberührt, unverbraucht und ja, ungesehen dem neugierigen Blick zu Füßen liegt? Und wenn ich ein Foto von mir mittendrin auf Instagram posten kann?

Beim Speedy-Boarding sitzt die Kuratorin bereits um 6.15 Uhr im Flieger. Sie stützt ihren Kopf, erschöpft, noch immer strömen diese Leute ins Flugzeug. Ihre Lippen sind rot geschminkt, wie immer.

Wie viele Anschlüsse kann ich erzeugen? Bei der Eröffnung kenne ich kaum jemanden, obwohl ich sehe, wer wen kennt. Sie grüßen sich, und ich bin dem ausgesetzt, was ein Freund – ein Ausstellungseröffnungen, Gallery Weekends und Kunstmessen meidender Künstler – den „sozialen Genickschuss“ nennt. In den USA wird man mit Small Talk von Mensch zu Mensch gereicht, weil die Leute diesen Sterbeprozess nicht einmal als unbeteiligte Zuschauer ertragen können.

„Sie wissen einfach, wie man mit bestimmten Leuten redet – und über sie. Es ist eine Art der Selbstverständlichkeit, die ich gar nicht kenne oder beschreiben kann.“

„Hier in LA können wir sagen, dass wir von der Mountain School of Art sind, und das macht schon einen Unterschied.“

Einzigartigkeit ist ein Effekt, der erzeugt werden muss, um Wiederholung zu garantieren – erst mit der Varianz des Gleichen kommt man ins System; wie Meme durchs Netz.

Private View, Preview, Installation View, Review – wir brauchen mehr Guides und Top Tens, um hier den Überblick zu behalten.

Ein Kritikpunkt ist, dass Netzwerke, um reibungslosen Austausch zu garantieren, das Moment von Differenz auslöschen und ein System der Ähnlichkeiten etablieren, das Dichotomien wie privat und öffentlich, BürgerIn und KonsumentIn, Regierung und Wirtschaft, Arbeit und Soziales, human und nicht-human, verbunden und allein etc. negiert. Subjektivität wird so nicht länger als Autonomie wahrgenommen, die auf der Dialektik zwischen Selbst und Welt beruht.

In einem winzigen Ausstellungsraum in Mexiko City erklärt mir der US-amerikanische Kurator, er möchte hier einen intimem Raum schaffen, einen, der für die Community vor Ort genauso bestehe wie für all jene, die auf Contemporary Art Daily von den Ausstellungen erfahren.

Sogenannte „Power Hubs“ – Schnittstellen in Netzwerken, an denen besonders viele Verbindungslinien zusammenlaufen – verbinden das Nützliche mit dem Angenehmen. Da kann es schon mal vorkommen, dass beim Golfen über den nächsten Deal gesprochen wird oder man neben einem Topmanager Gewichte stemmt, der gerade von seinem Personal Trainer mit Stretching-Übungen bearbeitet wird.

„Ich bin, um ehrlich zu sein, enttäuscht von der Van Eyck Akademie. Bei den Studio-Visits lernt man nur B-Ware kennen.“

„I’m in with the ‚in‘ crowd I go where the ‚in‘ crowd goes. I’m in with the ‚in‘ crowd And I know what the ‚in‘ crowd knows.“ 7

Die Yacht in Venedig muss gefunden werden, irgendwie klappt das schon mit der Gästeliste. Es gibt Drogen und die zum Star gewordene Künstlerin ist auch da.

Die Kombination aus dauerhafter Kontaktmöglichkeit einerseits und einer Art ortlosen Anonymität auf der anderen Seite steht dennoch paradigmatisch für die „Hoffnung auf Zusammenhang“ 8 , die von Netzwerken ausgeht. Ihr Grundcharakteristikum, als „offene Gesten“ 9 verstanden zu werden, bedeutet nämlich ebenso, auf der Repräsentanz einer geteilten Geste zu beruhen: der Gemeinsamkeit eines Stils, der sich als geteilte Kommunikation und Information wiederholt und äußert. Als personalisierte „Bedeutung für jemanden“ 10 unterscheidet sich diese von Daten, die lediglich in Beziehung zueinander, aber den Usern undifferenziert gegenüberstehen.

Was also bleibt, wenn alle inkludiert und exkludiert sind? Das Kuratorische.
Kuratieren heißt auswählen, filtern, zeigen, kontextualisieren. Ich kuratiere mich also am besten selbst.




1
Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2010. S. 13.
2
Einladung des Stanford Arts Institute: The Right to the Creative City, Diskussionsreihe, Mai 2017.
3
Lars Bang Larsen (Hg.): Networks, London, Cambridge: Whitechapel Gallery & MIT Press, 2014, S. 18.
4
Anthony Elliott/John Urry: Mobile Lives, New York: Routledge, 2010, S. 8.
5
Ève Chiapello/Luc Boltanski: The New Spirit of Capitalism, London: Verso Books, 1999/2007, S. 146.
6
Lars Bang Larsen (Hg.): Networks (2014), S. 16.
7
The Mamas & the Papas: The „In“ Crowd, 1964.
8
Danah Boyd: Why Youth (Heart) Social Network Sites: The Role of Networked Publics in Teenage Social Life, in: David Buckingham (Hg.): Youth, Identity, and Digital Media Volume, MacArthur Foundation Series on Digital Learning, Cambridge, Massachusetts 2007. S. 119–142, S. 161.
9
Stefan Weber: Medien – Systeme – Netze: Elemente einer Theorie der Cyber-Netzwerke. Bielefeld: transcript Verlag, 2001, S. 170.
10
Ebd., 27.
Daniel Chluba und Lukas Julius Keijser brauchen #deinGeld, 2016