Von Flüchtlingen, Behinderten und anderen Körpern

Inklusion-Exklusion-Spezial

2017:September // Stephanie Kloss

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09-2017

Von Flüchtlingen, Behinderten und anderen Körpern
Grand-Tour Athen—Kassel—Venedig – Ein TripAdvisor

Was ist nicht schon alles geschrieben worden über die documenta 14: gründlich daneben gegangen, krachend gescheitert, Frech­heit, harter Brocken, kommunikative Kata­strophe, kolonialistischer Treppenwitz inklusive Elends­tourismus, unter aller Sau, Versagen auf allen Ebenen etc., um nur einige Meinungen zu zitieren.
Sie wurde als transfeministisches Teach-In, wohlfeiles Plädoyer, gigantischer Eine-Welt-Laden, Pseudo-Gutmenschentum und Stellvertreterkrieg der Kuratoren belächelt und mit Adjektiven wie zahnlos, lustfeindlich oder didaktisch belegt: „Sommerdepression garantiert!“ Und auch das fachfremde Publikum inklusive Taxifahrern murrt.

Aber warum wird hier so draufgehauen: weil die d14 nicht shiny, hip und sleek, also wenig zeitgenössisch oder postdigital anmutet? Sie kein Wahlrecht für Erdbeeren fordert? Sie Historie und Kunstgeschichte, und nicht nur Wikipedia bemüht, um Aufmerksamkeit auf die unlösbaren Probleme unserer Zeit zu lenken, politisches und gemeinschaftliches Handeln propagiert, neue Orte öffnet, tradierte Muster in Frage stellt und Deutschlands Schuld immer noch verhandelt?
Ist es zu wenig Gegenwart, was den Kritiker oder Besucher, Profi wie Laie, so wütend macht? Ist es Athen und Kassel, die vermeintliche Anmaßung des Direktors und seiner Kuratorenschaft, das deutsche Gut zu splitten, uns zum Lernen anzuhalten, die Griechen kaum einzubeziehen, die fehlende Hintergrundinformation, die komplizierte Grafik? Wie leicht konsumierbar, anspruchs- und kunstvoll soll die d14 sein? Wie plakativ oder Party? Selbst die offiziellen Partys wurden gnadenlos zerrissen. Die unfreiwillig angedockten waren meist Selbstdarstellungen der ausgeladenen Galeristen und Sammler, inklusive Make-Up-Sponsoring.
Aber es gibt tatsächlich auch gute Kunst, die die Kritik vielleicht übersehen hat, auch wenn diese manchmal gar keine ist. Plakativ und Haudrauf ist zum Beispiel die Arbeit „Glimpse“ (2016) des Provokateurs Artur Żmijewski in der Athener Kunsthochschule: ein stummer, schwarz-weißer „KZ-Dokumentarfilm“, gedreht im Flughafen Tempelhof, in Calais und Paris. Die anfänglich dokumentarischen Sequenzen von Holzhütten und Zelten im Regen sind vorwiegend anklagend. Einige Flüchtlinge starren in die Kamera, ein junges Mädchen lächelt, während ihr Vater beschämt wegschaut. Der Künstler tritt als Voyeur und Elendstourist im Film auf, bietet Mäntel zum Wärmen an, drückt einem erstaunten Flüchtling einen Besen zum Saubermachen in die Hand, schenkt einem neue Schuhe, pinselt weiße Farbe in das Gesicht eines Schwarzen, dreht den Kopf eines anderen langsam in Pose, vermisst und kennzeichnet das Fremde.
Das ist alles so rassistisch, der Film ist schockierend provozierend, gnadenlos böse, und stellt die Erwartungen von Objektivität und Respekt in Frage. Doch wenn die Kunst das Elend zeigt, dann muss sie sich mit bebildern, unangenehm berühren, nicht nur beobachten. So steht die Arbeit sinn- und vorbildlich für die d14, wenn sie sich die Krisen der Welt zum Thema macht. Wie soll Kunst Krisen thematisieren, wenn sie diese gleichzeitig benutzt, sogenannte Do-Gooder ihre eigenen narzisstischen Motive haben, das Elend ausbeuten? In seinem Manifest „Applied Social Arts“ (Angewandte Gesellschaftskunst, 2007) kritisiert Żmijewski die Überhöhung, Selbstzufriedenheit und Entfremdung der Kunst ebenso wie ihre Amnesie und ihr vergeudetes Potenzial. Er beharrt darauf, dass Kunst ein Partner für Politik und Wissenschaft sein müsse, da sie soziale Auswirkungen habe, Erkenntnisse schaffe und Veränderungen bewirken könne. Das ist auch der Anspruch der d14.
In Athen gehen jedoch viele Arbeiten und Meinungen weit auseinander. Ein besonders scheußliches Beispiel: eine Skulptur, ein zum „Denkmal!“ verwurstetes in Marmor gehauenes Flüchtlingszelt mit Blick auf die Akropolis. Besucher legten sich hinein und checkten im Schatten Instagram, machten Selfies, kein Regen lässt es je vergammeln, kein Wind wegwehen. Genauso schlimm sind die Ikea-Flüchtlingsröhren in Kassel.
In Kassel zeigt Żmijewski die 6-Kanal-Projektion „Realism“ (2017) mit Behinderten. Es sind wohl polnische Armee-Angehörige, die im Kampf verletzt wurden. Er lässt sie Turnübungen ohne Prothesen machen, Liegestütz, Seilspringen, sehr zynisch, vielleicht auch wenig erkenntnisreich, wer weiß. Eine andere Behinderte ist Lorenza Böttner, eine Entdeckung, die in Kassel Kunst studiert hat. Als Kind wuchs sie noch als Ernst Lorenz Böttner in Chile auf, verlor bei einem Unfall an einem Stromkasten beide Arme. Dennoch wurde sie Künstlerin, malte mit Mund, Schultern und Füssen erstaunliche Selbstporträts.
In Gemälden und Performances setzte sich Lorenza Böttner mit ihrer Transgender-Identität auseinander. 1994 starb sie auch noch an den Folgen von Aids. Ist das zu viel Opfer auf einmal: behindert, transgender, HIV-positiv? Die selbstbewussten Selbstporträts, Fotografien wie Malerei, zeigen etwas anderes: eine verwirrend starke, positive Frau, einmal malt sie sich sogar als Mutter. Fragen stellen sich wie, was ist normal, was ist krank und wer bestimmt darüber? Trotzdem wird Lorenza Böttner leider ganz unglücklich in der Neuen Galerie in der Nähe von Schrumpfköpfen und KZ-Bildern in einer Art Opferkanon präsentiert.
Apropos Opfer und Nazis: ein anderes herausragendes Beispiel in Kassel ist kein Kunstwerk, sondern eine Beweisführung. Ganz hinten in der Hauptpost versteckt, die jetzt Neue Neue Galerie heißt, läuft die 3-Kanal-Projektion „77sqm_9:26min“. Sie zeigt die eigenen „Ermittlungen“ der Londoner Gruppe „Forensic Architecture“ (FA) um den NSU-Mord an Halit Yozgat aus Kassel im Jahr 2006. Der Mord gibt im NSU-Prozess bis heute Rätsel auf, denn ausgerechnet als Yozgat umgebracht wurde, hielt sich der Verfassungsschützer Andreas Temme im selben Internet-Café auf. Dieser sagte aus, dass er von dem Mord nichts mitbekommen habe, er will keinen Schuss gehört, keine Leiche gesehen haben. Temme fuhr auf dem Heimweg beim Internetcafé vorbei, um mit Frauen zu chatten, während seine eigene schwanger daheim wartete. In der Nähe lag auch eine Moschee, in der Gläubige beteten, die Temme als V-Männer führte. Sind das zwei triftige Gründe für ihn, zu lügen?
Das Forensic-Architecture-Team des Architekten Eyal Weizman besteht aus Wissenschaftlern, Filmemachern, Designern und Anwälten. Deren Hauptauftraggeber sind die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen oder internationale Strafverfolgungsbehörden. Grundlage dieser Arbeit ist ein geleaktes Polizei-Video, in dem Andreas Temme seinen Besuch im Internet-Café nachstellt. FA baute das Internet-Café in Originalgröße nach, imitierte das Geräusch der Tatwaffe. Man sieht digitalisierte Rauchpartikel, Schauspieler, die den Weg von Temme nachgehen und eine Zeitschiene. Am Ende ist klar: Temme muss den Mord mitbekommen haben.
Was auch immer diese eindeutige Beweisführung bewirken wird, wie beklemmend die Realität auch hier Einzug hält, das Projekt von Forensic Architecture bestätigt, dass die auf der d14 gezeigte Kunst über einfache Kategorien hinausgeht, möglicherweise Geschichte verändern und nicht nur reflektieren kann.
Machen wir noch mal einen gewagten Sprung nach Venedig in den heiteren Amusement-Parcours „Viva Arte Viva“. Hier basteln Flüchtlinge vor Publikum Lampen(!), wem soll da bloß ein Licht aufgehen?
Auch mit der „Faust“ ins Auge zeigt sich der deutsche Nazi-Pavillon. Anne Imhofs exkludierende Performance ist der hippe Hit. Wäre sie nicht besser Teil der documenta, denn auch hier geht es um Formen des ausgestellten Seins, um Körper, um Macht und Grenzen, um Anderssein, um in oder out? Wahnsinnig ernst und ironiefrei, das würde so gut passen: die gereckte Faust, die Wachhunde, der Grenzzaun, Bouncer-Girls, androgyne Club-Kids, Lesben-Chic, Panzerglasboden, Sado-Maso-Set, Kapuzenpullis, die Pseudo-Kapitalismuskritik gesponsert von Balenciaga. Es gehe um das Gefühl, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, sagt die Kuratorin, alles passt. „Der Spiegel“ erkannte jüngst, dass man mit den Ereignissen des G20 in Hamburg überhaupt erst die Arbeit verstehen könne und wie unglaublich nah dran diese in ihrer Anti­haltung sei, alles schon vorwegnähme. Der schwarze Pop-Block mit Molotowcocktail-Attrappe, garantiert brandschutzsicher, wie „zeitgeistig“. Selbst Außenminister Gabriel bemerkte in seiner Eröffnungsrede, dass hier Machtzentren ausgeleuchtet werden, und nennt die Arbeit einen Stolperstein, der auf Dinge aufmerksam macht, die die Politik sonst leicht übersehen würde … Man fragt sich irgendwie, was überhaupt gesehen wird, oder was kommt denn nach dem Dagegensein, was sind die Alternativen? Hier gibt es jedenfalls keine Kritik, nur Jubel und Preise.
In Athen an den Tagen der documenta-Eröffnung sahen wir nachts in einem gespenstischen Szenario Studenten vor der Uni echte Molotowcocktails gegen Polizisten werfen. Die Stadt war lahmgelegt von Staus, wieder wegen einer Großdemonstration. Klar, dass die Realität immer der Kunst voraus ist. Die Kritik an der documenta speist sich aus den gleichen Ansätzen, es würden nur Mikro-Krisenherde illustriert, die Kunst wäre nicht eigenständig.
In Kassel kann man nun die documenta-Schau auf Yelp und Tripadvisor bewerten. Der Bildungsbürger, nicht der Kunstkritiker, hat das Sagen. „Hier ist für jeden was dabei, und bei der Vielfalt kann man sich ein paar nette Tage mit Kunst in Kassel machen“, schreibt etwa einer und vergibt vier von fünf Sternen. Die langen Schlangen und fehlenden Hintergrundinformationen findet man störend. „Neugiernase“ hat fünf Punkte allein fürs Fridericianum, aber: „Achtung: innen keine Gastronomie!“ Auch Lema2014 mochte diesen Teil der documenta: „Die Ausstellung stimmte enorm nachdenklich.“ „Trotzdem auch schöne, gute, beeindruckende Kunst gesehen – die eine angemessene Präsentation verdient gehabt hätte“, schreibt Ichwillsschö N. „Insgesamt waren die Mitarbeiter alle sehr freundlich“, meint Angi M. „Wer sich für moderne Kunst erwärmen kann, sollte diese internationale Ausstellung nicht verpassen“, schreibt Harald C. auf Yelp.
Das gemeine Publikum vergibt bei beiden Portalen zur Halbzeit der d14 durchschnittlich 3,5 von 5 Punkten.






Rebecca Belmores: „Biinjiya’iing Onji“ (From inside), 2017 Foto: Stephanie Kloss