… oder das Anstehen in Münster

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09-2017

Einige Eindrücke von den Skulptur Projekten Münster 2017


Im Tonstudio der Computerspiele-Abteilung der frequentierten Stadtbücherei in Münster zeigt der Ire Gerard Byrne ein Video im High-End-Format, das in einem anderen Tonstudio gedreht wurde. Die ganze Installation ist ein Spiel mit den räumlichen und zeitlichen und auch klanglichen Ebenen. Seine Arbeit besticht durch technische Genauigkeit. Sehr nostalgisch und sehr nah dran gleitet der Blick der Kamera über die Ausstattung der Radiostation aus den 80er-Jahren. Wüsste man nicht, dass damals solche filmische Brillanz nicht möglich war, würde man den Film für eine Dokumentation halten. Protagonist ist ein Moderator eines bekannten New Yorker Senders. Alles riecht nach Kult, obwohl man es nicht persönlich kennt oder doch? Eine Band macht sich fertig für eine Aufnahme, ohne jemals fertig zu werden. Die Töne ihrer Instrumente kommen aus dem einen, die Töne der Musik, die der Moderator auflegt, aus dem anderen Lautsprecher. Der Künstler hat die Lautsprecher mitten ins Bild gestellt. Der Raum im Keller wird immer voller …

Wie eine Porzellanvase auf einem sich drehenden Sockel bewegen sich die Performer/innen der Künstlerin ­Alexandra Pirici. Unvermittelt kommen Sätze aus ihnen heraus, z. B. „We are 72 years away from World War II.“ Man befindet sich nicht irgendwo, sondern in dem Saal, in dem vor 369 Jahren der Westfälische Frieden beschlossen wurde. Die Sehenswürdigkeit an sich verleitet den ein oder anderen Besucher dazu, seine Kamera nicht auf die Performance, sondern auf die historische Holzvertäfelung zu richten. Die Performance aber sucht nach Ruhe, nach Relevanz, nach Besinnung. Lutherisch unverführerisch und schlicht verführt sie uns tatsächlich zum faszinierten Innehalten. Es ist bemerkenswert still in diesem alten Friedenssaal. Die Performer/innen wenden sich uns direkt zu, schauen uns in die Augen, stellen sogar Fragen, die sie dann auch noch kollektiv beantworten (können). Die Gedanken der Besucher/innen und der ausgesprochene und nicht ausgesprochene Text der Performer/innen scheinen sich wolkenartig an dem geschichtsträchtigen Ort auszudehnen.
Was wäre das als materielle Skulptur? Eine Blase?
Eine Blase, die ebenfalls stünde (oder flöge) für Yogastunden, für Schweigewochen, für sogenannte Rückführungen in die Vergangenheit oder asiatische Meditationstechniken. Am Ende stimmen sie wandelnd einen Gesang an mit gregorianischen Klängen. Es war schön.

Wesentlich erfrischender und inspirierender ist die experimentelle Haute Couture von Gintersdorfer/Klaßen an einer etwas außerhalb gelegenen Spielstätte. Im Katalog haben die Akteur/innen mit ihren illustren Lebensläufen schon im Voraus neugierig gemacht. Man sitzt wie im Jugendtheater-Studio auf der kleinen bis auf den letzten Platz gefüllten Tribüne. Arbeitsplätze für Näher/innen an der Seite und Frau Gintersdorfer irgendwie cool. An diesem Tag kommt einer rein, der weckt Assoziationen an die Steinzeit und kommentiert sein Kostüm mit gendertheoretischen Aussagen. Das ist nicht total zum Lachen, aber ziemlich schräg. Das nächste Kostüm, das wohl gerade an den Schneidertischen zusammengebaut worden ist, ist eine flache Tasche, in der sich das Modell hinter einem aufgedruckten Werbeface verstecken kann. Mit Reißverschluss. Sie demonstriert das, sagt nichts und kriecht wieder raus. Dann kommt Marc Aschenbrenner, das weiß man da aber noch nicht, denn er trägt eine anonyme Maske, aus der er sich wie ein Schmetterling aus dem Kokon herauswinden wird, sobald das Inflatable aus goldener Rettungsfolie aufgeblasen ist. Wie da die angenähten Handschuhe und Strümpfe leer in der Luft hängen schafft einen Moment der Verletzlichkeit, der uns vielleicht gerade deshalb so trifft und einmalig ist, weil er das Format des Menschen verlassen hat.

Der dritte Theatermann bei den Skulpturen-Tagen, ­Xavier Le Roy, war nicht da. In seinem langen Interview mit Dorothea von Hantelmann kündigt er sowohl an, Situationen herstellen zu wollen, „in denen man ein anderes Gefühl für Zeit bekommen kann oder in denen Zeiten gleichzeitig bestehen“ als auch, dass „die Arbeit für den Großteil des Publikums nicht wahrnehmbar sein könnte“. Was beim Lesen konsequent und schlüssig ist, stellt sich in der Praxis aber dann doch als unbefriedigend heraus. Auch die Arbeit von Gregor Schneider, dieses nachgebaute Haus, war nur den wenigen zugänglich, die sich stundenlang in die Schlange stellen wollten, so wie vor dem Rathaus für Pirici oder in einem ehemaligen Eisstadion für Pierre Huyghe.

Das führt einen eher weg von der Kunst und hin zur heilen Münsteraner Bilderbuchwelt oder dann doch zur herkömmlichen Skulptur, die für jeden jederzeit zugänglich ist, und sei sie schon Jahrzehnte alt: Umsonst und draußen.