Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Frühling und Sommer

2017:September // Einer von hundert

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09-2017


17. März, Friedrichshain
Auf der Eröffnung von Andrea Winkler und Stefan Panhans in der Galerie im Turm. Das mochte ich: weil die beiden Positionen gut zusammenpassen, die Winkler-Objekte wie immer gekonnt nebensächlich platziert sind und gleichzeitig wie Fetische wirken, so dass das Ganze eine ziemliche Aufladung bekommt. Der neue Panhans-Film irritiert und fesselt zugleich. Virtual Realities imitierend, lässt er Performer abgehackte Bewegungen vollziehen und unterlegt das Ganze mit virtuellen Szenen, so dass eine Spannung entsteht, die der Arbeit gut tut.

21. März, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte
Der Abend von Raphaela Vogel mit dem Titel „Überstürztes Denken“ in der Volksbühne. Sie legt einen Parcours durchs Haus, das ist ja immer super, wenn man wo hinkommt, wo man sonst nicht hinkommt und in diesem Fall Zeuge des eigentümlichen, dem Ende geweihten Volksbühnenkosmos wird, was Spaß macht und zum Teil mehr Spaß macht, als die Installationen von Vogel zu sehen, weil man sie entdecken kann, während Vogels Installationen meistens laut schreien und Aufmerksamkeit catchen. Einiges ist sehr banal, dann wieder rätselhaft-interessant. Es gibt hochaufragende Öfen und Frauen im Badeanzug mit einem schleierartigen Stoff. Dazu: Heavy-Metal-Musik, ein ratterndes Flugobjekt. Alles ist irgendwie angesext und dann doch irgendwie ganz anders und ich frage mich: Wie gehört das alles zusammen?

16. Juni, beim Lesen im Bett
Exklusion pur politisch – „Dark Matter“ ist Gregory Sholettes Buch über die aktivistische Kunst seit den 1960er-Jahren betitelt. Warum: weil aktivistische Kunst im Kunstbetrieb eben als „dunkle Materie“ erscheint: immer da, aber nicht sichtbar. Nicht sichtbar ist sie nicht, weil sie als temporäre Intervention nun einmal schwer ausstellbar ist, sondern weil dieses dennoch mögliche Ausstellen kulturpolitisch schlicht nicht gewollt wird. So findet sich z.B. in allen drei Großausstellungen dieses Sommers – Venedig Biennale, documenta 14 in Athen und Kassel sowie den Skulptur Projekten Münster – nicht eine Position der aktivistischen Kunst, auch nicht in dem ambitioniert sich gebenden Ausstellungsprojekt „Made in Germany 3“ in Hannover. Überall also gilt: Keine künstlerische Arbeit von z.B. bankleer, keine von Peng! und auch keine vom Zentrum für politische Schönheit wird vorgestellt. Ausgeschlossen aus dem real-existierenden Kunstbetrieb ist die aktivistische Kunst übrigens auch, was die Subventionierung angeht, so hat das Zentrum für politische Schönheit z.B. noch nicht einen Cent von der Bundeskulturstiftung zugesprochen bekommen. Kein Wunder ist es daher, dass viele aktivistische Künstlergruppen eher mit Theatern zusammenarbeiten als mit Kunstinstitutionen.

14. April, im Büro
And the winner is … Kito Nedo. Auch wenn er die „von hundert“ mittlerweile, sagen wir, distanziert betrachtet, ist er ihr Mitgründer und Redakteur des ersten Jahrgangs (2007 hatten wir sogar in einem Jahr gemeinsam vier Hefte rausgehauen).
Jetzt also auch er Preisträger des ADKV-(mittlerweile zudem ART COLOGNE)-Preis für Kunstkritik und somit nach Barbara Buchmaier, Christine Woditschka, ­Astrid ­Mania, Kolja Reichert, Ludwig Seyfarth und Raimar Stange der siebte Autor, der mit der „von hundert“ in Verbindung war oder ist. Wie entgegnete mir Holm Friebe kürzlich erstaunt: Ach, Kito macht nicht mehr mit?

16. Mai, Tempelhof, ehemalige Flugabfertigungshalle
Ja, war klar. Ein anderer Mitstreiter aus frühesten „von-hundert“-Tagen arbeitet jetzt für die Neue Volksbühne (das „Neue“ schlage ich als feste Bezeichnung vor). Während ich nostalgisch an Bildstrecken für William ­Minkes Buch „No Way Home“ saß und überlegte, ob Martin Wuttke nicht schon zu früh im Buch auftaucht oder wie man den Toni-Erdmann-Unsympathen Trystan ­Pütter wieder sozial verträglicher erscheinen lassen könnte, bastelte Timo Feldhaus als Redaktionsleiter am Neuen Volksbühnenprogrammbuch. Er ist die Neue Zeit und ich die alte. Er ist dann der Kern des Neuen Formats „Fullscreen“ und wird, Zitat aus besagtem Buch unter seinem Programmpunkt „den Roman der (Neuen) Volksbühne ­schreiben. Als Fortsetzungsgeschichte, in Kolumnen auf der Website und dem Leporello … in Interviews, Atelierbesuchen und neuen Videoformaten fragt er sich: Was soll das Theater? Wenn man aus der Volksbühne nach draußen blickt, was sieht man? Feldhaus ist Angestellter. Er kennt alle. Und er weiß: Die aktuellen Diskurse gilt es auf dem eigenen Körper auszutragen. Das tut manchmal weh …“ Hoffentlich nicht zu doll, wünschen wir ihm und alles Gute! Am 17. September geht’s los unter www.volksbuehne.berlin und eben nicht .com …

28. Juni, Kastanienallee
Jetzt hängt das Fake-Investoren-Transparent schon ein paar Tage vor dem Hausprojekt K77. Ziel war es, die Leute kurz zu verunsichern und zu zeigen, dass das Haus, das als eines der wenigen in Mitte/Prenzlauer Berg der Spekulationskette entrissen ist, auch eine Art Trostpflaster ist. „Was? Jetzt müsst auch noch ihr weichen?“ Aber dieses Haus ist für die nächsten 20–30 Jahre gesichert. Anders als die meisten anderen. Um die geht es.

21. August, vor dem Rechner
Lese gerade den „Resignation letter the President’s Arts Committee sent to Trump“ vom 18.8.17:
„Speaking truth to power is never easy, Mr. President. But it is our role as commissioners on the PCAH to do so. Art is about inclusion. The Humanities include a vibrant free press. You have attacked both …“ Ehrenvorsitzende des Komitees ist lustigerweise Melania Trump. Das ist sie wohl automatisch als Präsidentengattin. Jetzt sind alle anderen zurückgetreten.
Die Anfangsbuchstaben der sechs Textabsätze bilden das Wort RESIST.
„A Gallerina’s Dream (Arbeitstitel)“ Stefan Panhans & Andrea Winkler, Ausstellungsansicht
Performance von bankleer, München, 2016
Rücktrittsbrief des Präsidentenkomitees für Künste und Geisteswissenschaften (Auszug)
Transparent K77, Foto: Simon Sachsed