Dérive

Inklusion-Exklusion-Spezial

2017:September // Birgit Szepanski

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09-2017

Dérive

Eine performative Stadtrundfahrt
mit der „Reisegruppe Heimweh! Berlin“


An einem warmen Samstagnachmittag im Juni fahre ich in einem voll besetzten Reisebus durch die Stadt. Die Idee, an einer ‚Reise‘ durch die Stadt, in der ich lebe, teilzunehmen, hat einen Reiz: In der vertrauten Umgebung auf Entdeckungstour zu gehen, erzeugt die Erwartung, im Bekannten Unbekanntes zu entdecken. Zudem hat das Konzept der performativen Stadtrundfahrt mit der „Reisegruppe Heimweh! Berlin“ meine Neugierde geweckt: Geflüchtete Menschen, die unterschiedlich lang in Berlin wohnen – seit einem Jahr oder seit zehn Jahren – werden die Stadt zeigen und erzählen. Welche Orte in Berlin kennen sie, die ich nicht kenne? Wie nehmen sie den Alltag in dieser internationalen und durch vielfältige Brüche gekennzeichneten Stadt wahr? Was erzählen sie über ihr Leben?
Während ich auf die Abfahrt des Busses warte und das (Kunst-)Publikum beobachte, das sich neben die Flüchtlinge1 (Erzählerinnen und Erzähler) setzt, kommen mir einige der im letzten Jahr geführten Debatten aus Feuilletons zum Thema ‚Kunst und Flüchtlinge‘ in den Sinn. Verhältnisse zwischen Kunst und Politik wurden anlässlich Projekten bekannter Künstler wie Ai Weiwei, Olafur Eliasson oder dem „Zentrum für politische Schönheit“ – die auf die vielen asylsuchenden Menschen in Europa reagierten – rege diskutiert.2 Fragen wie „Instrumentalisiert die Kunst das Leid von Flüchtlingen?“3, „Wie politisch kann/sollte Kunst sein?“4, „Beruhigen Kunstprojekte mit Flüchtlingen Gewissen und latente Schuldgefühle einer kunstinteressierten Mittelschicht, die sich Sorge um ihre ‚heile Welt‘ macht?“5 appellierten auch an die eigene Position als Künstlerin und Künstler. Ein Jahr nach den Bildern von den wartenden Menschen am LaGeSo in Berlin scheinen solche Grundsatzdebatten wieder abgeklungen zu sein. Projekte mit und von geflüchteten Menschen im Kontext der Kunst werden wie bisher von Projekträumen oder Institutionen thematisiert, die einen politischen Diskurs als Bestandteil und Motor für eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst verstehen.

Die performative Stadtrundfahrt mit der „Reisegruppe Heimweh! Berlin“, die vom „Studio Urbanistan“6 in Leipzig initiiert wurde, bettet das gesellschaftspolitische Thema von flüchtenden Menschen und die zeitgenössische Kunst – in ihrer Schnittstelle zur Performance und zum Theater – in den Diskurs der Stadt ein. Stadt ist historisch gesehen und insbesondere seit der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert ein Ort der Zuwanderung. Im Jahr 2050 werden aufgrund der Flucht vor Kriegen, Umweltschäden und Armut voraussichtlich zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Die Stadt ist ein Lebensraum vieler. Besonders Berlin (die ehemals zweigeteilte Stadt) ist ein Ort für Zugereiste, Gebliebene, Weiterreisende, Touristen und Menschen, die aus ihren Herkunftsländern flohen und hier ein neues Zuhause suchen. Wie politisch, poetisch und experimentell wird diese Reise mit geflüchteten Menschen durch Berlin? Welche besonderen Sichtweisen auf die Stadt haben sie? Welche Wahrnehmung von Stadt kann die „Reisegruppe Heimweh! Berlin“ vermitteln? Reisen bedeutet Sich-auf-den-Weg-Machen, Auf- und Ausbrechen aus dem Gewohnten und Sich-Einlassen – möglicherweise ergibt sich also eine neue Erfahrung oder eine veränderte Wahrnehmung des Gewohnten. Die klimatisierte Luft im modernen Reisebus und die getönten Scheiben lassen die sommerliche Hitze, die die Stadt durchzieht, bereits unwirklich erscheinen. An den Sitzen hängen Kopfhörer. Das in verschiedenen Sprachen Erzählte wird ins Deutsche übersetzt. Auch der im Handschuhfach liegende Flyer mit einem Stadtplan, in den die Tour mit unterschiedlichen ‚Sehenswürdigkeiten‘ eingezeichnet ist, weist auf eine gut geplante Stadtreise hin.

Es geht los. Die Kopfhörer aufgesetzt und eingeschaltet, höre ich in deutscher Übersetzung die Worte des ersten Erzählers, den ich nicht sehe: „Als ich hierher kam, haben sie mir als erstes eine Karte gegeben. In Gambia war ich Taxifahrer, aber Karten habe ich nie benutzt“ (Bella Conateh). Sich orientieren müssen: Fühlt sich so ‚Fremd-Sein‘ an? Wenn man länger in einer Stadt lebt, braucht man keinen Stadtplan: Man entwickelt, wie Michel de Certeau es beschreibt, eine „undurchschaubare und blinde Beweglichkeit“7, mit der eine Orientierung in der Stadt meistens gelingt. Während der Bus durch die Quitzowstraße vorbei an einer Mischung aus Altbauten mit Gaslaternen, Garagen und Kleinbetrieben fährt, erzählen weitere Flüchtlinge von ihren ersten Eindrücken Berlins und beschreiben die Stadt: „Mir haben das viele Grün und die saubere Luft hier sehr gut gefallen. Im Gegensatz zu Teheran, wo man kaum atmen kann, wegen der hohen Luftverschmutzung“, erzählt ein junger Mann (Mehrdad Khorramdel). Eine andere männliche Stimme: „Was für mich völlig neu war hier: die Fahrradwege!“ (Wassim Mukdad). Und ein weiterer Mann sagt: „Berlin ist für mich ein Raum für Fremde. Wenn ich rausgehe, treffe ich jeden Tag andere Leute aus anderen Ländern, mit verschiedenen Mentalitäten. Es ist schön, denn so ist das Leben“ (Bella Conateh). Der Blick wandert beim Zuhören mit den verschiedenen Stimmen nach draußen und bleibt an Details hängen, von denen die Rede ist, wie beispielsweise einem Fahrradweg. Eine weitere überraschende Übereinstimmung von Erzähltem und Gesehenen entsteht, kurz nachdem eine Stimme berichtet: „Was mich aber überrascht hat, waren die Obdachlosen auf den Straßen; die waren arm und manche waren krank; das hat mich wirklich verwundert. Das Bild über Europa ist ja, dass es hier keine Armut gibt“ (Ahmad Ali), fällt mein Blick auf Decken, die im Bereich unter der Putlitzbrücke liegen, unter der der Bus gerade fährt. Dort und an der Wendeltreppe für Fußgänger, die zur Brücke hinaufführt, schlafen Wohnungslose. Auch jetzt, im kurzen Augenblick des Vorbeifahrens, sehe ich Deckenbündel und von schlafenden Körpern ausgebeulte Schlafsäcke. Der Blick von außen und die in ihm enthaltene Empathie machen mir bewusst, dass man in Berlin sehr schnell ‚taub und blind‘ für Themen der Ausgrenzung wird.
Der Bus hält an einer Ampel vor der Putlitzbrücke und plötzlich scheine ich die ersten Sätze des schlanken, jungen Mannes mit schwarzer Hautfarbe, der von seinem Sitz aufgestanden ist und die Zuhörerschaft im Bus direkt anspricht, verpasst zu haben. Im Kopfhörer, mit dem ich bisher den Übersetzungen folgte, ist kein Ton zu hören. Ich drehe an den Knöpfen herum, doch ohne Ergebnis. Ich nehme ihn ab und konzentriere mich gezwungenermaßen auf den Klang der Sprache, auf leichte Änderungen in der Modulation der Stimme und überlege, was dies alles mit dem Ort der Putlitzbrücke zu tun haben könnte, die der Bus nun von oben her ansteuert. Es ist grün für die Linksabbieger geworden, der Bus biegt ab, zwei andere Erzähler stehen auf und erzählen etwas in einer Sprache, die ich auch nicht verstehe. Weil jetzt auch die anderen Mitfahrerinnen langsam unruhig werden, die Kopfhörer auf- und absetzen und sich ratlos umschauen, bin ich mir sicher, dass dies keine ‚Panne‘ ist. ‚Nicht-verstehen-Können‘, noch nicht einmal eine Ahnung zu haben, von was die Rede ist, überlässt mich einem ‚Rauschen der Sprache‘: Wörter als Luftverschiebungen, die sich verflüchtigen und ihren Sinn in eine unbestimmbare Ferne rücken. Dies ist poetisch und lässt kurzerhand Roland Barthes als einen imaginären Spaziergänger auf der Brücke erscheinen, doch dann folgt schnell das Gefühl von Isolation, die das Nichtverstehen auch erzeugt. Die Situation des Zuhörens/Zusehens hat sich umgekehrt. Obwohl ich nun Gesichter zu den (Erzähler-)Stimmen sehe, verstehe ich sie ohne Übersetzung nicht.

Der Bus ist an einer ersten Haltestation, die im Stadtplan als ‚Sehenswürdigkeit‘ eingezeichnet sind, angekommen: Das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Ausländerbehörde) am Nordufer des Westhafens. Einer der Erzähler steigt aus dem Bus und läuft die Treppen, die zur S-Bahn-Haltestelle Westhafen führen, hoch. Wie in einer Filmszene ist der junge Mann aus dem Blickfeld verschwunden. Diese performative Szene rückt die Stadt wieder in den Fokus der Wahrnehmung. Zwischen dem Erzählten, den inneren Bildern und den Beobachtungen aus dem Bus entstehen zahlreiche – überraschende wie absurde – Verknüpfungen. Diese Reise, die subjektive Geschichten von Flüchtlingen betont, macht die Stadt zu einem Schauplatz verschiedener Wirklichkeiten. Wie die Erzählenden und Performenden im Bus und außerhalb des Busses bin ich ein (narrativer) Bestandteil dieser Stadt.
Über den Kopfhörer erzählt jetzt eine Stimme, die an das ein paar Straßen zuvor Geschilderte anknüpft: „Das größte Problem ist das Erlernen der Sprache. Ich schreibe zwar schon gut, aber mich mündlich auszudrücken, fällt mir schwer. Wenn ich mich ganz exakt ausdrücken will, mache ich Fehler, weil ich das, was ich auf Persisch denke, genauso auf Deutsch sagen will. Daran arbeite ich noch“ (Mehrdad Khorramdel). Während ich zuhöre, schiebt sich ein (Straßen-)Bild in das Gehörte. Der Bus fährt an einem Platz vorbei: Eine Frau in einem Kostüm aus grünen Plastiktüten steht am Rand des Platzes und wirft unablässig weiße Bälle in die Luft – sind es Wattebäusche? Die Bälle entgleiten ihr und fallen wie übergroße Schnee- oder Wortflocken um sie herum auf den Platz. Der Bus fährt weiter. Diese Szene im urbanen Raum ist Teil der Choreografie der Stadtrundfahrt und lässt Momente entstehen, in denen sich Wirklichkeiten verschieben.
„Was kann überhaupt übersetzt werden?“, frage ich mich. Welche Spuren hinterlassen die Erzählungen der Flüchtlinge im urbanen Raum? Das Suchen nach der Sprache, das Vermitteln von Erfahrungen und auch das Zuhören besteht vielmehr aus Momenten des Verfehlens. So geht es mir auch mit dieser urbanen Reise, die sowohl aus poetischen, absurden, lustigen als auch nachdenklich stimmenden Augenblicken besteht. Die Seh- und Höreindrücke8 fließen und verschwinden während der dreistündigen Fahrt durch die Stadt und finden dort keinen Halt, keinen Ort.
Ebenso flüchtig ist die existentielle Situation von Flüchtlingen. Zygmunt Bauman beschreibt diesen Zwischenzustand, in dem sich geflüchtete Menschen befinden, und verweist auf den Anthropologen Michel Agier: „Flüchtlinge sind in den Worten Agiers in einen Zustand des ‚liminal drift‘ geraten, das heißt, sie treiben ohne Halt in einem Zwischenbereich und wissen nicht, ja, können nicht wissen, ob dieser Zustand vorübergehend oder von Dauer ist. Selbst wenn sie für einige Zeit an einem Ort bleiben – sie befinden sich auf einer Reise, die nie zu Ende sein wird, weil das Ziel (ob Ankunft oder Rückkehr) immer unklar und ein Ort, den sie als endgültiges Ziel betrachten könnten, immer unerreichbar bleiben wird.“9
Diese Reise durch die Stadt, das Zuhören, ­Nachdenken, Erzählen und Miterzählen schafft im Bus eine Atmosphäre der Resonanzen und lässt eine temporäre Gemeinschaft entstehen. Die Reise folgt zwar einem Plan und einer Choreografie und ähnelt in ihrer Atmosphäre und Bewegung doch eher einer Reise mit einem Schiff: einem Gleiten und Wanken auf realen wie imaginären Feldern. Das Gefühl ist, nicht zu wissen, wohin etwas führt, aber diesen Moment von Bewegung, Involviert-Sein und Angesprochen-Werden intensiv wahrzunehmen, ist ein Gewinn. Diese Methode, Konkretes und Vages miteinander zu verbinden, Geschichten und Spiel (Choreografie) in den Stadtraum zu übertragen, erinnert an das ‚Umherschweifen‘ (dérive) der internationalen Situationisten im Paris der 1970er-Jahre. Nicht alle Geschichten und Gedanken, die die Flüchtlinge erzählen, und nicht alle choreografierten Szenen lassen sich (nach-)erzählen, aber diese Reise mit Flüchtlingen, die gleichzeitig Protagonisten und Erzählende sind, bietet theoretische wie praktische Alternativen an, Kunst, Politik und Stadtdiskurs miteinander in Beziehung zu setzen. Auch wenn die „Reisegruppe Heimweh! Berlin“ den soziologischen, anthropologischen Aspekt dieser Stadtrundfahrt betont, gelingt es ihr, das Spielerische in den urbanen Raum zu transferieren – im Sinne des ‚Umherschweifens‘: „Mit den Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise oder Technik des beschleunigten Durchgangs durch verschiedenartige Umgebungen. Im besonderen Sinne auch die Dauer einer ununterbrochenen Ausübung dieses Experiments.“10

„Reisegruppe Heimweh! Berlin“ – ein Projekt des „Studio Urbanistan“ (Clara Minckwitz und Julia Lehmann) von und mit geflüchteten Menschen in Berlin, 2017.
Projektleitung (Berlin): Clara Minckwitz und Karoline Kähler

1
‚Flüchtling‘: Das Suffix -ling ist im Deutschen mehrheitlich negativ besetzt und reduziert die Menschen auf ihre Flucht. Im Flyer des Projektes wird der Begriff ‚Flüchtling‘ jedoch gegenüber dem Begriff ‚Geflüchtete‘ bevorzugt, weil das Wort ‚Flüchtling‘ den „historischen und rechtlichen Bedeutungshorizont“ besser transportiere.
2
Ai Weiwei verhüllte im Sommer 2016 die Portalsäulen des Berliner Konzerthauses mit 14.000 Schwimmwesten aus Lesbos. Olafur Eliasson initiierte 2016 zur Eröffnung seiner Einzelausstellung bei TBA21 in Wien den Workshop „Green light“, in dem Interessierte und Flüchtlinge von ihm entworfene Lampen zusammenmontierten. Das „Zentrum für politische Schönheit“ installierte 2016 vor dem Maxim Gorki Theater einen Käfig mit vier Tigern und nannte ihre Aktion „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“.
3
Kolja Reichert, „Flüchtlinge und Künstler. Die Kunst der guten Absichten.“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, www.faz.net, 31.08.2016.
4
Raimar Stange, „Debatte: Kunst und Flüchtlinge. Scheiß auf subtil!“, in: art. Das Kunstmagazin, www.art-magazin.de, 5.10.2016.
5
Wolfgang Ullrich, „Kunst und Flüchtlinge: Ausbeutung statt Einfühlung?“, in: perlentaucher.de. Das Kulturmagazin, www.perlentaucher.de, 20.6.2016.
6
Siehe: www.studiourbanistan.de
7
Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 182. Hervorhebung im Original.
8
Neben den Erzählstimmen ist viel Musik zuhören: Ein Lied von Tim Bendzko wird abgespielt und nachgesungen, ein Flüchtling spielt eine Melodie auf einer persischen Laute (‚Oud‘), Hip-Pop-Musik dröhnt aus einem Gettoblaster und es wird gerappt.
9
Zygmunt Bauman, Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, aus dem Englischen von Richard Barth, Hamburg 2008, S. 59 f.
10
Aus den ‚Definitionen‘ der internationalen Situationisten, siehe: http://www.si-revue.de/definitionen

alle Fotos: Alina Simmelbauer, www.studiourbanistan.de