Das Stehen in der Kunst

Inklusion-Exklusion-Spezial

2017:September // Tom Biber

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09-2017

Das Stehen in der Kunst

Das Allerwichtigste in der Kunstszene sind meines Erachtens nicht die Kunstwerke und auch nicht der gesellschaftliche Diskurs. Es ist auch nicht der bescheidene Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit, denn der wäre ja oft eher kontraproduktiv. Nein, das Wichtigste ist schon seit geraumer Zeit – und war es wohl schon immer – die Art und Weise, wie man herumsteht.
Seit Jahren gibt es bildende Künstlerinnen und Künstler, die musizieren. Ich meine solche, die sich auf eine Bühne stellen und herumstehen, mit oder ohne Instrument. Manchmal ist mit Instrument sogar besser. Wenn sie gar nichts dabei haben, kriege ich es mittlerweile mit der nackten Angst zu tun, denn dann könnten sie sehr laut schreien, sich auf dem Boden wälzen, spucken oder sonst etwas Nervenaufreibendes tun. Früher waren es überwiegend Männer im Lärmbereich der Kunst, heute gibt es immer mehr Frauen, die laut sind.
Hauptsache es ist laut, man grunzt oder schreit in aussagestarken Anfällen, schreit unverdaulich Grässliches von der Bühne und beeindruckt damit sogar den im Stresemann herumstehenden Mitsechziger mit seiner jungen Begleiterin im Publikum oder die Sammlerin mit einem jungen Künstler an ihrer Seite. Die Künstler könnten eventuell noch, quasi als begleitendes Accessoire, einen Umschnalldildo als Ohrring tragen. Man nennt das dann Performance.
Ja, dieses Publikum. Es bleibt wirklich stehen, in dieser in der Kunst sehr oft zu beobachtenden Art und Weise. Man steht kunstmäßig herum. Es ist unverwechselbar, wie man in der Kunst steht: Man ist leicht in den Knien gebeugt, die einen verschränken die Arme, stellen einen Unterarm auf und legen dann einen oder mehrere ihrer Finger während des Redens an die Wange, den Kopf leicht schief zur Seite geneigt. Wichtig ist, man bleibt lange unverrückt stehen. Wenn man lacht, und das sollte man so viel und so oft wie möglich, dreht man sich höchstens in der Hüfte oder wippt etwas ungelenk und hysterisch, aber immer die Finger an der Wange des schiefen Kopfes belassend. Oder man beugt sich im Oberkörper in der Vertikalen permanent leicht vor und zurück, ständig redend und lachend bewegt man seine Arme dabei rudernd aber unrhythmisch. Die Hände flattern im Wind. Aufgepasst: Diese beschriebenen Herumstehereien gelten nur für Leute aus der Kunstszene, wenn sie wirklich mal miteinander reden.
Dieses Stehen meine ich auch nicht während eines Events bei dem Künstler Musik oder Lärm machen. Da stehen die Leute schon mit Blick auf die Lärmenden herum. Man kann dann gar nicht kunstszenemäßig herumstehen und sich unterhalten oder so tun als ob man sich unterhält, denn dafür ist es zu laut.
Wenn nun aber Stehende bei einer eher konservativen Eröffnung mit Bildern an den Wänden und Skulpturen auf dem Boden eine etwas längere Zeit zusammenstehen, länger als es braucht, etwa um zu sagen: „Fährst Du auch nach Basel?“ oder „Hast Du etwas Neues für Dich entdeckt?“, dann entsteht manchmal eine Sprachlosigkeit im Stehen. Oft ist diese Sprachlosigkeit aber auch Programm und Strategie, wenn etwa, während man zusammensteht, der Kopf und die Augen permanent nach noch wichtigeren Kunstfiguren Ausschau halten. Dann kommen die Worte oft total unzusammenhängend aus den Stehenden heraus – in etwa so: „Fährst Du auch nach Basel?“, dann erblickt er oder sie einen wichtigen Kurator oder Sammler, männlich oder weiblich: „Ja, ähm, die Toiletten sind recht sauber...“ und schon ist er oder sie weg. Das große Spiel der Kunst heißt: Wer ist wirklich wichtig und wer tut nur so?
An jenem Lärm-Abend waren viel zu viele Leute da, die Künstlerin war documenta-Teilnehmerin. Aufstrebende Künstler stehen weniger herum, da sie meist am abchecken und Kontakte knüpfen sind. Sie wandern raubtierartig, leicht schlendernd, aber immer cool durch die Reihen. Ganz selten streift ihr Blick die Kunst, ihr Adlerblick, immer scharf eingestellt auf Kollegen, die einen Wichtigen schon in den Klauen haben und am verspeisen sind.
Das Herumschlendern ist neben dem Herumstehen auch von enormer Bedeutung. Erstens, weil man damit seinen Platz verändern kann, man muss sich nun mal etwas bewegen, um zu einer wichtigen Person, die man beim Reden und Stehen erspäht hat, zu gelangen, um dann bei ihr zum Stehen zu kommen – außer man ist so wichtig, dass man den ganzen Abend an einem Fleck steht und die anderen kommen zu einem. Das kann man natürlich auch geschickt simulieren, wenn man sich an die Getränkeausgabe, falls es eine gibt, stellt, oder vor das Klo, wo jeder mal hin muss.
Kuratierende und die schreibende Zunft in der Kunst schlendern auch enorm viel, da sie ja an Kontakte und Aufträge kommen wollen und müssen. Weniger schlendern tun die Museumsdirektoren und Museumsdirektorinnen, die schon fußlahmen Sammler, die Chefredakteure und natürlich Gäste, die am Beginn einer Kunstszenenkarriere sind und noch niemand kennen. Viel mehr schlendern natürlich die Galeristinnen und Galeristen und deren Assistentinnen und Assistenten herum, bei einer Eröffnung stehen die am Wenigsten herum.
Und dann kommt es natürlich besonders darauf an, mit wem man herumsteht. Je wichtiger der Beisteher ist, desto eleganter sieht das Stehen dann aus. Die anderen im Raum sehen förmlich, dass da ein Wichtiger neben einem möglichen Wichtigen steht. Je berühmter der Künstler ist, desto öfter steht er und muss nicht mehr pirschen. Ganz berühmte Künstler stehen nur noch oder kommen erst gar nicht.
Das Stehen in allerhöchster Vollendung kann man auf Kunstmessen beobachten, in den einzelnen Kojen der Galerien, bei den Previews, oder auf Eröffnungen, zu denen Wichtige kommen. Wenn ein Wichtiger die Koje oder die Galerie betritt, schalten Galeristen und die Assistenten sofort in den Jagdmodus. Der oder die Wichtige wird dann umgehend umkreist und von möglichen anderen Raubtieren, die so rumstehen, abgeschirmt. Auf Messen tut sich dann auch was in den anderen Kojen, denn dort sieht man ja auch, dass der oder die Wichtige jetzt da steht. Außer bei den Galeristen der anderen Kojen, die ja ihren Stand nicht verlassen können, kann man Bewegungen hin zur Koje, wo der oder die Wichtige steht, erkennen. Dann passiert folgendes: die Jäger schließen spontane und zeitlich begrenzte Allianzen, um nicht allein in einer Koje stehen zu müssen, das würde signalisieren, man ist doch nicht so ganz wichtig.
Das allein Herumstehen ist ein Grenzgebiet und eine Disziplin für Fortgeschrittene: man ist entweder Multimilliardär und weltberühmter Sammler oder Museumsdirektor und versprüht in einfachster, lässiger Kleidung die Aura des Titanen. Oder man ist ein Schelm oder aber keines von allem.
Das alleine Rumstehen hat außerhalb der Kunstszene oft fatale Konsequenzen, z.B. in der Politik oder im Sport. Da ist man sofort als Looser qualifiziert, wenn man alleine wo rumsteht. In der Kunstszene ist das anders, denn darum hängen und stehen ja all die Kunstwerke herum, an denen man langsam vorbeischlendern oder auch mal stehenbleiben kann, damit man auch im Alleinsein sein Gesicht nicht verliert und nicht sofort rausgeworfen wird. Darum ist ja die Kunstszene immer beliebter geworden, schön langsam kommen ja alle drauf, dass man in der Kunstszene immer irgendwie nicht wie der totale Trottel aussieht, wenn man nur rumsteht und vor allem wenn man keine Ahnung hat.
Steht nun ein ganz Wichtiger mit oder ohne Begleitung in einer Messekoje, versuchen die Jäger höchstkonzentriert den Moment zu nutzen, in dem sich eine Angriffsmöglichkeit bietet. Wenn nun zwei oder drei Jäger zusammenstehen, sieht das auch schon ein wenig wichtig aus und die wirklich Wichtigen könnten dann meinen, die sind auch wichtig und zögern einen Sekundenbruchteil, um entfliehen zu können. Es soll schon Künstler gegeben haben, die eine Herzattacke simulierten – direkt vor dem Sammler. Vor dreißig Jahren hätte es noch klappen können, die Hosen in der Koje runterzulassen und so eine Einladung auf die Yacht zu bekommen, aber heute hält das jeder für eine langweilige Performance.
Das absolute Non-Plus-Ultra auf Kunstmessen ist, wenn Sammler auf Sammler trifft. Da gibt es sogleich ein lautes Hallo und entspanntes Begrüßen und man steht dann zumindest für einige, wenige Augenblicke gemeinsam vor den Kunstwerken. Da die Sammler noch immer meist männlicher Natur sind, herrscht sofort ein Rivalitätsdenken und da Sammler meist über Geld verfügen und in ihren Geschäftsbereichen oft ihr Ding durchziehen (außer sie haben alles geerbt oder geerbschleicht), sind ihre Knackpunkte die Siegermentalität, ihre Eitelkeit und ihre Gier.
Das ist dann der Startschuss für die Jäger, so in etwa wie wenn man in eine Hai-Herde dreihundert Liter frisches Rinderblut schüttet – da werden die Viecher sofort vogelwild und angriffslustig. Das Adrenalin schießt den Künstlern und den Galeristen in die Adern, es ist der Primär-Reiz der Kunstmesse. Auch auf Vernissagen in den Galerien beginnt die Luft sofort zu flirren, wenn Sammler auf Sammler trifft, denn das kann zu einem archaischen Moment führen. Die Sammler könnten sich in einen Kaufrausch steigern, während ihre Nüstern vor Gier und Kunstgeilheit anschwellen. Das ist der Kick beim Kaufen, der Drogenrausch, der Moment, in dem das Adrenalin in der Luft spürbar wird, und das ist dann die Stunde der Haie.
Wenn nun der Sammler-Kollege etwas kauft, ist oft ein immenser Herdentrieb bei anderen Sammlern auszumachen und so kommt es dann schon mal vor, dass die halbe Ausstellung innerhalb weniger Minuten verkauft ist.
Authentisch, echt und einzigartig zu wirken und herumzustehen, ist auch sehr hilfreich in der Kunstszene, außer natürlich man ist steinreich. Man könnte sich als Gnu verkleiden, dann wäre man nach zehn Jahren auch ein fester Bestandteil der Kunstszene, vorausgesetzt man taucht immer im gleichen Gnu-Kostüm auf. Ich denke, ein Gnu-Kopf müsste genügen, damit man untenherum besser stehen kann, sonst würde man immer einen Kompagnon im Kostüm brauchen und der wäre dann immer der Arsch.
Mit der Zeit würden einen alle grüßen und einem freudig ein Hallo entgegenschmettern, man würde zu den Afterpartys eingeladen werden, nach ein paar Jahren würden einen selbst die seriösen Medien ablichten, wenn in der Tagesschau ein Kurzbeitrag über vielleicht eine wichtige Messe-Eröffnung gesendet wird. Mir fällt da ganz spontan auch das Teufelchen bei den Tour-de-France-Übertragungen ein, das auf den steilen Anstiegen ganz in Rot mit einem Dreizack bewaffnet herumsteht, aber dann die Radfahrer anfeuert und eine zeitlang neben ihnen herrennt. Der hat mittlerweile auch Promi-Status und wird für Kurzberichte oft genommen.
Man weiß in der Kunstszene auch immer gerne, mit wem man es zu tun hat und zehn Jahre Gnukopf-Tragen vermittelt Vertrauenswürdigkeit und signalisiert Beständigkeit. Nach zehn Jahren Gnu wäre man wichtiger als zu Beginn, man würde bestimmt eine selbstbewusstere Ausstrahlung haben als am Anfang – kurz gesagt: Nach zehn Jahren Gnu sein, wäre man dabei, eine potenzielle Wichtige oder ein potenzieller Wichtiger zu werden. Man könnte sich aber einfach nur eine blaue Brille aufsetzen und zehn Jahre rumstehen und entweder blöd oder gescheit daherreden, dann könnte man auch immer wichtiger werden. Vor allem kann man dabei angenehmer und entspannter am Champagner schlürfen als die Figur mit dem Gnu-Kopf.
Je authentischer der Wichtige wirkt, desto mehr färbt dies auch auf seinen Beisteher ab. Als Beispiel fällt mir da was aus einer anderen Branche ein. Ich durfte mal beobachten, wie bei einer Gala ein Starfriseur ausflippte. Das haben dann alle Fotografen fotografiert, und zwar ging das in etwa so:
An der Tanzfläche standen Gelangweilte umher, aber scheinbar nicht Unwichtige. Unter sie mischte sich auch der Starfriseur und so kamen immer mehr Fotografen – die wissen ja auch, wo sich der Starfriseur tummelt, da könnten Wichtige stehen, der muss es ja wissen.
Als dann minutenlang nichts passierte, setzte der Starfriseur plötzlich zum Sprung auf die Tanzfläche an und wirbelte zuckend durch die Gegend. Also blitzen auch die Apparate und den gelangweilten Stehenden fiel nach einigen weiteren Minuten der Zappelnde im Blitzlichtgewitter auf. Da er recht ungewöhnlich zappelte, huschte einigen von ihnen ein leichtes Lächeln über die Lippen und schon klickten wieder die Fotoapparate. Die Gazetten der kommenden Woche waren voll von Bildern des Starfriseurs, aber auch von lächelnden, wichtigen Herumstehenden.
Deren Bekannte und Freunde buchten wahrscheinlich sofort einen Termin zum Haareschneiden, als sie die Gazetten lasen, denn ihre Freunde standen ja dabei und lächelten. Der Friseur hatte vermutlich so mit Zappeln viel Geld verdient.

Fotomontage: Andreas Koch