Onkomoderne

Die Verteilungsplanreform

2017:September // Christina Zück

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09-2017


Die Verteilungsplanreform


„Ich krieg weniger“ fand im Projektraum des ExRotaprint-Geländes statt. Dort hat eine Mietergemeinschaft aus Architekten, Künstlern und sozial engagierten Vereinen mithilfe des Erbbaurechts eigentumsfreie Arbeitsräume und einen offenen Ort für verschiedene gesellschaftliche Gruppen geschaffen – eine Insel im Wedding, die langfristig der Gewalt der Immobilienspekulation entzogen ist. Martin Zellerhoff, ein Kollege, hatte mich eingeladen, auf der Informationsveranstaltung über eine bevorstehende Verteilungsplanänderung der VG Bildkunst mitzudiskutieren.

Die Geräteindustrie zahlt pro verkauftem Smartphone, Computer oder Mp3-Player eine Pauschale an die Verwertungsgesellschaften, um die private Nutzung des urheberechtlich geschützten Contents abzudecken. Ausgehend von der Hypothese, dass Bilder, Musik, Texte oder Filme privat kopiert und gespeichert werden, konstruierte die VG Bild-Kunst die Ausschüttungssparte „Privatkopie digital“ und verteilte neben mehreren anderen Sparten aus der Geräteabgabe eine Summe von etwa 1,1 bis 1,4 Millionen Euro an die ungefähr 13.542 Urheber/innen der Berufsgruppe I (bildende Kunst). Mitglieder konnten alle Websites, auf denen Bilder der eigene Arbeiten veröffentlich waren, in einem umständlichen Datenerfassungssystem anmelden – eine zeitaufwändige und kleinteilige Arbeit, ähnlich qualvoll wie Buchhaltung oder Steuer­erklärung. Die Summe, die am Ende des Jahres überwiesen wurde, war an die Anzahl der im Netz veröffentlichten Bilder geknüpft. Aufgrund einer neuen europäischen Richtlinie über die Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften beschlossen die gewählten Vertreter der Berufsgruppe I im Mai wesentliche Änderungen. Urheber aus anderen europäischen Ländern sollten ebenfalls an den Ausschüttungen beteiligt und durften nicht durch komplizierte landesspezifische Regeln diskriminiert werden, so wurde die Entscheidung begründet, das Verteilungsschema „Privatkopie digital“ zur „Kopiervergütung Kunstausstellungen“ umzustellen. In Zukunft würden nur noch Ausstellungsbeteiligungen anstatt einzelner Abbildungen angemeldet und berücksichtigt werden können. Dies galt jedoch nur für Ausstellungen, die die VG Bildkunst als solche definierte: „eine Zurschaustellung eines oder mehrerer Werke eines bildenden Künstlers durch einen Dritten, der eine regelmäßige Ausstellungstätigkeit vornimmt, (…), die der Öffentlichkeit innerhalb regelmäßiger Öffnungszeiten zugänglich ist oder im öffentlichen Raum stattfindet und die öffentlich beworben wird. (…) Zweifelsfälle werden vom ehrenamtlichen Vorstandsmitglied und dem Berufsgruppenvorsitzenden der Berufsgruppe I entschieden.“ Ausstellungsorte würden nach Sparten (Kategorie A bis D) eingeteilt und bemessen werden. Mit dem höchsten Faktor an Multiplikationspunkten würde man ausländische, weltweit bekannte Ausstellungsstätten bewerten, danach sank der Punktwert für weltweit bekannte Orte in Deutschland, ein viel niedrigeres Rating bekamen die national herausragenden und an letzter Stelle die regionalen und lokalen. Die Norm, auf die sich alles auszurichten schien, war das System des globalen, an der Wirtschaftsleistung orientierten Kunstmarkts. Vorbild scheint die internationalen Kunstmarktdatenbank Artnet zu sein, eine Firma, die bereits anhand dieses Wertesystems die Ausstellungstätigkeit von Künstler/innen bemisst, Kunstmarktdaten sammelt und Algorithmen erstellt. Ihr „Artist Ranking“ wird in einer häßlichen steigenden oder fallenden Kurve visualisiert. Eine Opt-out-Funktion für Kunstschaffende, die sich dieser Vereinfachung entziehen und der Beschädigung ihres Ansehens und ihrer Karrierechancen entkommen möchten, gibt es bei Artnet nicht. Bei beiden Klassifikationssystemen wurde eine Idealkonstante festgelegt, ein Standardmaß, das nach Gilles Deleuze die Voraussetzung für Majorität ist. Egal ob alle anderen Variablen und Abweichungen zahlenmäßig überlegen oder präsenter sind, egal ob irgendwo die 99% demonstrieren, berechnet und verbucht wird das Majoritäre nach diesem einen Standard.

Die gewählten Vertreter der Berufsgruppe I (bildende Kunst) gingen davon aus, dass Ausstellungen generell im Internet mit Werkabbildungen beworben und besprochen würden und die Streuung sich an den Marktwert der Institution koppeln ließe. Es würde mehr Geld dahin verteilt werden, wo von vornherein mehr Geld zirkulierte. Wer Bilder ohne Ausstellungstätigkeit veröffentlichte, Netzkunst, künstlerische Blogs, Dokumentationen von Performances und anderen Interventionen, digitale Kataloge, Pdfs, würde gar nicht mehr an der Ausschüttung beteiligt werden. In der Diskussion betonten die beiden Vertreter der VG Bildkunst, dass sie diesen Plan so gestalten mussten, weil die in jeder Sitzung anwesenden Beamten des deutschen Patent- und Markenamtes die Anpassung an die EU-Richtlinie gefordert hätten. Klagen aus Spanien wären schon angekündigt worden, die Gerichtsprozesse könnten sich über Jahre hinziehen, eine Zeit, in der alle Zahlungen komplett eingefroren werden müssten. Die drohenden Engpässe, das alternativlose Zukunftsszenario, das sich in den Vorstellungen entspann und vielleicht entspinnen sollte, als Angst oder politische Strategie zu thematisieren, war nicht Teil der Debatte.

Ich war eine der Künstler/innen, die geopfert werden sollten, die, wie vermutlich viele im Publikum, weniger kriegen würden. Die seitenlangen Informationsbriefe, die die VG Bildkunst regelmäßig verschickte, hatte ich entweder in irgendeinem Ordner abgeheftet oder gleich weggeworfen, während die langwierigen Entscheidungsprozesse in den Sitzungen ihren Lauf nahmen. Begriffe wie „Stimmübertragung“ hatte ich weggescrollt, das Aneignen der Bürokratensprache, der auf Kompromisse und Verzicht ausgelegte Prozess der demokratischen Verhandlungen war mühevoll und mündete in noch mehr unproduktiver Betriebsamkeit. Für meine Arbeit brauchte ich Ruhe und leere Zeit. Was für eine Scheißposition, aus der ich Argumente in die Diskussion einbringen sollte – aber egal, es ging darum, die Vielfalt und Autonomie der künstlerischen Praxis zu verteidigen. Später würde ich mich mit ein bisschen Deleuze beruhigen: Minoritärwerden beinhaltet eine ständig Bewegung – es erlaubt, sich der Flucht, dem Diversen und Vielfältigen, der Verrücktheit, der Schwachheit, der Störung zuzuwenden. Aus der Erfahrung von Gewalt und Ausgrenzung durch die majoritären oder verallgemeinernden Kräfte heraus wurden Strategien eingeübt, die eigene Position unklar und dynamisch zu halten. Wer am Pol der Majorität ausgerichtet war, konnte laut Deleuze von keinem Werden ergriffen werden. Dessen universeller Signifikant lautete nämlich „Mensch – männlich – weiß – Stadtbewohner – Sprecher einer Standardsprache“. Mittlerweile hatte sich jedoch gezeigt, dass das Heraustreten aus der Gemeinschaft des Allgemeingültigen hin zur singulären Individualität eine Massenveranstaltung geworden war. Künstlerisch Tätige standen immer noch ohne Lobby da. Die Perspektiven auf die Welt wurden gleichzeitig globaler und hochaufgelöster, Phänomene waren nur noch in ihren Abhängigkeiten erfassbar, irgendein Bedrohungsszenario saß allen dauerhaft im Nacken, und da, wo vorher nichts Besonderes gewesen war, vermehrten sich jetzt die einzelnen Zellen sowie die Details. Das majoritäre Standardmaß, an dem sich die Gesellschaft früher stabilisiert hatte, zersetzte sich. Seine Anhänger versuchten es wieder in Zement zu gießen.
Nachdem alle Diskussionsteilnehmer vorgestellt waren, der Initiator, die Anwältin des BBK Berlin, die Künstlerin, der Kunstkritiker, der Vorstandsvositzenden der VG Bildkunst und der Vertreter der Berufsgruppe I (bildende Kunst), wurden zahlreiche Argumente gegen die Änderung hervorgebracht, darunter auch binnen kürzester Zeit diejenigen, auf die ich mich vorbereitet hatte – was ich zu sagen hatte, war nun redundant. Die Fachsprache über Verteilungspläne, Richtlinien und Ausschüttungssparten erforderte eine Übung, um die ich die Muttersprachler aus dem Bezirk Gouvernementalien ziemlich beneidete. Eine Videokamera nahm alles auf. Rechts neben mir saß der Künstlervertreter der VG Bildkunst, ein älterer Herr, und gestikulierte mit den Armen: „Wie würden Sie denn so ’ne Kategorisierung vornehmen? Denn wir müssen eine vornehmen, da hängt uns das Patent- und Markenamt in München auf der Pelle. Und ich hab es bei der Sitzung Berufsgruppen I soweit eingedampft, wie es noch möglich war. Aber eine Differenzierung müssen wir vornehmen. Sie machen sich kein Bild davon, bei jeder Sitzung des Verwaltungsrats sitzt das Patent- und Markenamt da und passt genau auf, die haben ’ne Riesenabteilung inzwischen, in den letzten Jahren sind die richtig gewachsen. Wie würden Sie so ’ne Klassifizierung, die ja notwendig ist, um die kommen wir nicht rum, ein konkreter Vorschlag?“ Seine Arme schlugen immer weiter in meine Richtung aus, anscheinend absichtslos bis etwa zehn Zentimeter vor meine Brust, also weit in meine Intimdistanz hinein. Normalerweise hätte ich ihm in der Empörung mit einer gezielten Handbewegung den Arm geblockt und ihn angeschnauzt, er solle damit aufhören. Aber da war die Kamera, fight or flight kamen nicht in Frage. Für das Handeln in der Öffentlichkeit gilt Sachlichkeit und Affektlosigkeit. Eine disruptives Verhalten hätte mir Zuschreibungen von Überempfindlichkeit, Unprofessionalität, Hysterie, vielleicht sogar Hate einbringen können. Ich atmete weiter, wartete, dass die Zeit verging und hoffte, nichts mehr sagen zu müssen. Der linke Arm des Künstlers fuchtelte immer weiter in meinem Nahbereich herum, und zweimal riss sich das Notizbuch in meiner Hand ohne mein Zutun wie ein Mini-Schutzschild hoch. Teile seiner Wahrnehmung waren scheinbar ausgeknipst. Ich würde auch hier die Opferrolle auskundschaften müssen.

In meinen körperlichen Raum wird häufig eingegriffen. Es genügt, dass mein Gangbild als problematisch oder unästhetisch kommentiert wird, oder dass ich als Hindernis im Weg stehe. Tag für Tag bin ich in der Stadt Konflikten ausgesetzt, Leute rempeln mich an, drücken sich schnell noch vorbei. Männer reagieren mit mühsam unterdrückter Aggression, wenn etwas vor ihnen nicht automatisch ausweicht, ihre Frauen ziehen sie mitunter an der Hand seitlich an mir vorbei und hinter sich her. Ich bin eine Störung im Flow-Bestreben und im Stressdruck der Leute. Die Wut über ihre empfundene Behinderung staut sich in ihren Körpern, dünstet ihnen aus den Poren und bleibt am Ende noch ein bisschen an mir kleben. Auf einer Benefizgala mit Radsportlern packten mich zwei, drei Mal die Männer, als ich ihnen zwischen den Restauranttischen entgegenkam, an der Schulter, um mich mit einer Armbewegung aus dem Weg zu wischen. Auf der Behindertentribüne während Obamas Besuch am Brandenburger Tor, als es die Anweisung gab, mit den Stühlen ein wenig nach vorne zu rücken, spürte ich eine Hand an meinem Hintern, die mich nach oben schob – die Betreuerin einer Rollstuhlfahrerin wollte mir beim Aufstehen helfen. Währenddessen wird von mir erwartet, dass ich die Contenance bewahre. Gewöhnlich gibt es bei Nicht-Behinderten kein Verständnis für diese Art Erfahrungen, sobald ich davon zu erzählen beginne, stoße ich auf Abwehr. Statusunterschiede zeigen sich im Abstandsverhalten, lese ich im Wikipedia-Eintrag „Intimdistanz“. Als Behinderte wird mir über die Raumforderungen der sich für leistungsfähig haltenden Körper ein niedrigerer sozialer Status zugewiesen. Die Beteiligung am Wirtschaftsleben, an gerechter Bezahlung, an zu vergütender Ausstellungstätigkeit wird immer auch über die Körperlichkeit und die Präsenz im Raum verhandelt.

Die beim Optimieren, Regulieren und Umverteilen entstehenden Biases und Normen würden mit der Zeit ihr Eigenleben entwickeln. Sie würden nicht stabil bleiben können. Opfer würden dargebracht werden müssen, jede Festsetzung würde etwas anderes ausgrenzen. Die Stimmen und Ressentiments der Geopferten würden mit viel Aufwand abgewehrt und sanktioniert werden müssen. Ein Opfer war ein sich verschiebender Teil eines Gefüges, das in Treibsand geraten war. Zum Beispiel konnte man einen Teil der Wahrnehmung preisgeben, um die Fiktion der eigenen Greatness zu erhalten. Eine andere Art Opfer war, das Magnetfeld des Machtpols zu verlassen, um an einen anderen Ort zu gelangen.

In der Mitgliederversammlung, in der ein endgültiger Be­schluss über den neuen Verteilungsplan gefasst wurde, konnte Martin Zellerhoff mit 269 übertragenen Stimmen dagegen stimmen; der Plan wurde mit 81% der Stimmen angenommen. „Ich krieg weniger“ hatte dennoch eine kritische Debatte angezettelt, und für die nächsten Jahre versprach der Vorstandsvorsitzende der VG Bildkunst, mit den Berufgruppenvertretern an der Weiterentwicklung des Regelwerks zu arbeiten.


Alle Fotos: Christina Zück, Markt der Möglichkeiten, Deutscher Evangelischer Kirchentag 2017