Lernen Belehren Verlernen Lehren

Inklusion-Exklusion-Spezial

2017:September // Anne Marie Freybourg

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09-2017


Über das Kuratieren der documenta
seit 1992 und speziell 2017

Mittlerweile gibt es immer häufiger Schelte für Kuratoren. Abfällig wird vom „Kuratorenwesen“ gesprochen. Kuratieren rückt damit in die Nähe von Unwesen und Machenschaften. Woran liegt das? Ist es unklar, was man unter dem Kuratieren einer Ausstellung verstehen sollte? Und welche Beurteilungskriterien dafür gelten könnten? Andererseits fragt man sich auch, warum es überhaupt so viele Kuratoren gibt und warum fast jeder Kurator werden möchte.
Die aktuelle documenta 14 ist ein guter Anlass, noch einmal darüber nachzudenken, was eigentlich das „Kuratieren“ ist. Eine Ausstellung sorgsam, sprich kuratorisch zusammenzustellen, hat Ähnlichkeiten mit dem Regieführen im Theater, nur dass man keine feste Stückvorlage hat, sondern das aufzuführende Stück selbst entwickelt. Es hat ebenfalls Ähnlichkeiten mit dem Schreiben einer Reportage oder Geschichte. Recherche, Stoffentwicklung, Dramaturgie, Textaufbau, Grundton und jeder einzelne Satz – alles das muss dazu beitragen, dass der Text voller Informationen und lebendiger Szenen ist, dass der Leser ihn gerne liest und abschließend noch einen Erfahrungs- oder sogar Erkenntnisgewinn hat. Ganz ähnlich kann man das auch von einer gut gemachten Ausstellung erwarten.
An Informationen mangelt es auf der documenta 14 nicht. Es gibt sie in Hülle und Fülle. Aber mit deutlicher Schlagseite. Viele Informationen über die Absicht der Kuratoren, wenige über die Kunst. Der Reader zur Ausstellung mit üppigen Textpassagen historischer Autoren wie Walter Benjamin oder Hannah Arendt, und einigen neuen theoretischen Aufsätzen, dient vor allem dazu, die Intentionen der documenta-Kuratoren darzustellen. Das Anliegen des Kuratoren-Teams um Adam Szymczyk ist es, Misstände der heutigen Welt zu zeigen. Und man hat den Eindruck, sie wollen den Besucher weniger informieren, als ihn mit dem Zustand der Welt konfrontieren. Im Begleitbuch zu den Künstlern gibt es kaum sachdienliche Informationen wie Biografien oder Erläuterungen zum kulturellen oder historischen Kontext der Arbeiten.
Vielleicht meinten die Kuratoren, dass es nicht nötig sei, solche Texte zur ausgestellten Kunst bereitzustellen. Viele Werke sind nämlich schon selbst wie nachrichtliche Informationen, wissenschaftliche Recherchen oder theoretische Reports aufgebaut. Vor allem solche dokumentarischen, soziologisch oder ethnografisch ausgerichteten Kunstformen erscheinen auf den ersten Blick mit dem kuratorischen Ansatz dieser documenta kongruent zu sein.
In der Neuen Galerie lässt sich ablesen, wie die Ausstellungs-Dramaturgie im Detail konzipiert, wie das einzelne Kunstwerk als Teil eines übergeordneten Ganzen gesetzt wurde. Hanno Rauterberg hat schon in der „Zeit“ über die Zusammenstellung der Kunstwerke in den ersten Räumen der Neuen Galerie geschrieben. Erstaunt, verwirrt und verärgert.
Die kuratorische Anordnung der Arbeiten, ob in der „Neuen Neuen Galerie“ (Neue Hauptpost), in der documenta-Halle oder (alten) Neuen Galerie folgt einer Dramaturgie der nicht nur weiten, sondern der wilden Sprünge. Gelegentlich erinnert die Konstellation der Arbeiten zueinander, die Abfolge in den Räumen an Kurt Schwitters dadaistische Ursonate, der aber die hohe Musikalität verlorengegangen ist. Schräge Dissonanzen zwischen den einzelnen Arbeiten werden erzeugt, es entstehen abrupte thematische Wechsel und Abbrüche.
Der Parcours der Arbeiten, vor allem in der Neuen Galerie, scheint getrimmt gegen jede nachvollziehbare Sinnhaftigkeit. In einer heftigen Mixtur geht es hier um die Restitution jüdischen Eigentums, um den Kalten Krieg, um Flucht, um Körper und passend zum Motto „Von Athen lernen“ um Antikensehnsucht. In wilden Sprüngen querfeldein geht es über das Terrain verschiedenster Themen und unterschiedlichster ästhetischer Qualitäten. Für den Besucher fehlt es an einer zu erkennenden bzw. zu entdeckenden Dramaturgie. So können sich weder erhellende Erlebnisse noch neue Erkenntnisse einstellen.
Es ist nichts gegen Sprünge und weite Sprünge in einem kuratorischen Ausstellungskonzept einzuwenden. Eine Ausstellung ist keine philosophische oder juristische Abhandlung. Ein Blick auf zurückliegende „documentas“ macht das deutlich.
Jan Hoet hat in seiner documenta-Ausgabe von 1992 zum Beispiel sehr viele weite Sprünge aufgeführt und gekonnt inszeniert. Der Zustand der Gegenwartskunst, das Boxen, die Leidenschaften – das waren die großen Themen, die Hoet mit Emphase und gutem Gespür für die Präsenz der einzelnen Arbeiten zusammengestellt hat. Er hat dem Besucher einen sehr persönlich gestimmten und gleichzeitig qualitativ kraftvollen dramaturgischen Parcours gebaut, auf dem man sich mitreißen lassen und für die Kunst begeistern konnte.
Carolyn Christov-Bakargiev hat zuletzt für ihre documenta (13), 2012 keinen durchgehenden Parcours mehr entwickelt. Ihr Parcours der Kunstwerke war auseinandergerissen, sie hat die Kunstwerke weit über verschiedene Ausstellungsorte und die Stadt verstreut. Das war ihre Form der kuratorisch weiten Sprünge. In den Ausstellungshäusern hat sie die Konstellation der ­Arbeiten zueinander meist geschickt, wenn auch nicht immer überzeugend verdichtet. Der rote Faden ihrer ökologischen, leicht esoterisch angehauchten Überzeugungen wurde jedoch deutlich nachvollziehbar. Damit konnte man sich als Besucher auseinandersetzen, zustimmen, kritisieren oder ablehnen.
Okwui Enwezor hatte im Jahr 2002 ein in sich äußerst konsistentes Konzept entwickelt, das sich unmittelbar aus der globalen Gegenwartskunst selbst ableitete. Er stellte eine ausgewogene Mischung dokumentarischer und kunstimmanenter Werkformen zusammen, zeigte das breite Spektrum, wie in der aktuellen Kunst gearbeitet wird und welche Themen die Künstler berühren. Ihm gelang eine Ausstellung, die künstlerisch höchst anregend war und zugleich sehr informativ den Zustand der globalen Welt darstellte.
Roger M. Buergel fokussierte sein kuratorisches Konzept 2007 dagegen fast ausschließlich auf kunstimmante Werke. So geriet seine documenta zwar ästhetisch äußerst delikat und kunstreflexiv, sogar die Inszenierung der einzelnen Ausstellungshallen und -räume war extrem nach innen gewendet, aber im Spannungsbogen seiner kuratorischen Dramaturgie fehlte völlig der Blick hinaus auf die Gegenwart, der dem Besucher die künstlerischen Positionen erst aufgeschlossen hätte.
Catherine David hat auf ihrer documenta X 1997 durch die distinkte Setzung der Themen Raum, Architektur und Haus auf subtile, gleichzeitig gut ablesbare Weise die ganze existentielle Spannbreite von Raum aufgefächert. Sie hat ihre Inhalte kuratorisch vom Allgemeinen zum Singulären durchgeführt. Von der ästhetischen Frage des urbanen und gebauten Raumes, des politischen Umgangs mit Landschaft bis hin zur psychologischen Frage des Behaustseins und des Körpers. Der Besucher wurde auf der gesamten documenta durch einen Parcours von Werken geführt, auf dem sich ihm Erkenntnisse über Raum höchst schlüssig, vielschichtig und dicht vermittelten.
Das Vermitteln von Erkenntnissen ist jedoch nicht die Intention der documenta 14. Auf der Pressekonferenz hat der „Curator at Large“ Bonaventure Soh Bejeng Ndikung gesagt, die Absicht des kuratorischen Konzeptes sei es, dass der Besucher „unlearn the learned“, das Gelernte verlernt. Die diesjährige documenta erscheint mir deshalb wie eine Parodie vernünftigen Kuratierens. Wenn alles Gelernte verlernt und beiseite gelegt ist, gibt es natürlich auch keinen Anspruch auf Vernunft mehr. Ich persönlich empfinde diese Ausstellung(en) in ihrem zwiespältigen Duktus zwischen Ermahnen und bewusstem Verwirren als anti-aufklärerisch. Und weil sie den Besucher doch ständig belehren will, zudem auch autoritär.
Die Kunst selbst verkommt in diesem Konzept zur Illustration des kuratorischen Auftrags. Häufig hatte ich Mitleid mit den Künstlern. Haben sie gewusst, dass sie mit ihren Werken ein Erziehungsprogramm bebildern sollen? Oder haben die Kuratoren sie damit verführt, dass sie auf der berühmtesten Kunstausstellung der Welt präsent sein können? Man spricht heute so viel von der Sichtbarkeit, die in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit für einen Künstler wichtig sei. Was aber, wenn die entstehende Sichtbarkeit nicht dem Kunstwerk und dem Künstler dient, sondern der Selbstinszenierung der Kuratoren?