Kritik der Kritik

Inklusion-Exklusion-Spezial

2017:September // Eva Scharrer

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09-2017

Kritik der Kritik
Ein paar Gedanken zur documenta 14

6. April in Athen: der Vorhang in der Konzerthalle Megaron geht hoch, auf der noch dunklen Bühne steigert sich ein Murmeln und Raunen langsam zu beunruhigendem Getöse. Das „continuum“ aus dem Stück „Epicycle“ des griechischen Avantgarde-Musikers Jani Christou, aufgeführt vom Team und den Künstler/innen der documenta 14. Dann geht das Licht an, und Publikum und Team sitzen sich gegenüber. Ein starker Auftakt, in dem sich das duale Prinzip dieser documenta abbildet, das sich zwei Monate später mit der Eröffnung in Kassel vervollständigen soll: man blickt sich an von gegenüberliegenden Seiten der Bühne, von unterschiedlichen Enden – geologisch wie ökonomisch – des europäischen Spektrums. Das erinnert an Artauds „Das Theater und sein Double“ – jedoch blieb auch damals schon die Aufhebung der Grenze zwischen Darstellenden und Publikum eher Theorie.
Nach fünf Tagen in Athen, fünf Tagen in Kassel, und weiteren fünf Tagen in Athen fügt sich Stück für Stück ein Bild zusammen. Ein Urteil fällt jedoch weiterhin schwer – wie lässt sich auch ein Projekt objektiv bewerten, das sich auf fast 80 Schauplätze in zwei Städten verteilt, inklusive Radio-, Fernseh-, Film- und öffentlichen Programmen? Es geht dabei ganz offensichtlich darum, den Status der documenta als „wichtigste internationale Kunstausstellung weltweit“ zu hinterfragen, sowie den als singuläre Ausstellung an sich. Wer sich nicht auch nur ein bisschen darauf einlassen wollte und das Navigieren im Chaos als Zumutung empfand, konnte da ganz offensichtlich nur enttäuscht werden.
Das überwiegend deutschsprachige Feuilleton – allen voran Hans-Joachim Müller in der „Welt“, die sich ganz besonders auf das documenta-Bashing eingeschworen hat – hatte sich schon einen Tag nach der Eröffnung in Athen eine Meinung gebildet. „In ihrer Naivität von den Populisten nicht mehr zu unterscheiden“, war am 7. April bereits im ersten Satz zu lesen. Mit der Eröffnung in Kassel verhärtete sich der bereits im Vorfeld geäußerte Unmut: „Krachend gescheitert“ (Die Zeit, NZZ) lautete das beinahe einhellig gefällte Urteil – wobei es interessant ist, dass die internationale Presse dies durchaus differenzierter sieht.
Soviel ist klar, die documenta ist keine leicht zu konsumierende Ausstellung des erprobten Kanons der Gegenwartskunst und seiner vom Markt abgesegneten Superstars – und das ist gut so.
Zu kritisieren gibt es sicherlich einiges. Man merkt der Ausstellung an vielen Stellen die individuellen Egos der zahlreichen Kurator/innen an. Auch das (anfängliche) Fehlen von Beschriftungen und Orientierungshilfen, z. B. in Form von Publikationen, gehört zu den Schwachstellen. Das „Daybook“ ist schön gedacht, aber allein schon durch das Fehlen der vielen historischen Positionen – die immerhin einen wichtigen Raum in der Konzeption einnehmen und unter denen einige Entdeckungen zu machen sind – zur Erschließung der Ausstellung kaum zu gebrauchen. Mit dem Titel „Learning from Athens“ und der zeitlich versetzten Verdoppelung der 100-Tage-Veranstaltung auf Kassel und Athen haben sich Adam ­Szymczyk und seine Mitkurator/innen konzeptionell wie organisatorisch viel zugemutet und sich teilweise wohl auch übernommen. Erschwerend kommt hinzu, dass das „Geschenk“ documenta in Athen nicht einhellig positiv angenommen wurde – was sicherlich auch auf Versäumnisse von Seiten der Überbringer zurückführen ist. Die Beteiligung eines griechischen Kurators oder einer griechischen Kuratorin hätte daran vielleicht etwas ändern können – Exklusion versus Inklusion, die Frage, wer dabei sein darf und wer nicht, ist sicherlich eines der kritischen Themen nicht nur dieser documenta.
Was bei der bereits im Vorfeld hitzig diskutierten Verdoppelung der Standorte – in Athen fühlte man sich invadiert und in Kassel hatte man Angst, dass der Stadt die documenta weggenommen würde – bisher nur wenig angesprochen wurde, ist, dass sich ein Perspektivwechsel weg vom eurozentrischen Blick bereits lange angekündigt hatte, angefangen mit Catherine Davids „100 Tage / 100 Gäste“. Gern wird übersehen, dass für Okwui Enwezor die Ausstellung in Kassel lediglich die fünfte von vier globalen Plattformen war, und dass die documenta 13 neben Veranstaltungen in Alexandria, Kairo und dem kanadischen Banff auch eine Ausstellung mit 25 Künstler/innen in Kabul organisierte, die immerhin von 40.000 Besuchern gesehen wurde. Die gleichwertige „Spiegelung“ der Ausstellung auf zwei Orte, für die 160 Künstler/innen weitgehend jeweils neue Arbeiten produzierten, ist in dieser Form zwar noch nicht da gewesen, aber auch nicht der radikale Schritt, als der er hingestellt wird, sondern eher eine folgerichtige Konsequenz. Dass dies jedoch der Institution und ihrer organisatorischen und finanziellen Strukturen – die in Kassel verkauften Eintrittsgelder sind im Budget bereits eingerechnet – einen kaum zu bewältigenden Spagat abverlangte, bildet sich zum Teil auch in der Präsentation ab.
Dennoch: der polemische und teilweise geradezu hasserfüllte Ton der (weitgehend weißen und männlichen) Kunstkritik irritiert doch etwas. Da wird die „Instrumentalisierung“ der Kunst sowie des politischen Unrechts durch ein „theoretisches Korsett“ (Die Zeit, Welt) beklagt, eine „abgrundtiefe Sehnsucht, moralisch richtig zu liegen“ (Boris Profalla, FAZ), und besonders schmerzlich: der Verlust der künstlerischen Autonomie! Hier tut sich mir die Frage auf, warum beispielsweise die Gemälde von Miriam Cahn, Apostolos Georgiou oder Stanley Whitney, die Filme von Roee Rosen, Amar Kanwar, Romuald Karmakar oder Naeem Mohaiemen, oder die skulpturalen Arbeiten von Nairy Baghramian oder Nevin Aladağ – um nur ein paar Beispiele zu nennen – keine autonomen Kunstwerke sein sollen? Mit der zweckgerichteten Auswahl einzelner Werke lässt sich natürlich immer eine bestimmte Sicht sowie auch deren Gegenteil belegen.
Aber – und auch darin scheint sich das Feuilleton einig – dafür kommt das Publikum mit Anspruch auf Kunstgenuss dann ja in Münster auf seine Kosten. Da wird auf sicherem Terrain von Seiten des Kunstmarktes abgesegnete gute Kunst gezeigt, die noch „hoffnungslos selbstverliebt“ (Hanno Rauterberg, Die Zeit) sein darf. Wie schön. Und das im öffentlichen Raum – ohne jedoch, dass dieser als solcher kritisch thematisiert wird. Pierre Huyghes Installation in einer stillgelegten Eislaufbahn ist sicherlich ein faszinierendes Erlebnis, war jedoch auch nur mit einer sechsstelligen Summe realisierbar – soviel hatten weder die anderen in Münster ausgestellten Künstler/innen zur Verfügung noch die auf der documenta gezeigten.
Während einige Kritiker/innen sich noch bemühen, klug zu argumentieren, machen andere keinen Hehl daraus, dass sie sich durch Themen wie Sklaverei, Kolonialismus oder die Unterdrückung von Minderheiten in ihrem Kunstgenuss gestört fühlen und sie setzen voraus, dass sich Künstler/innen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, automatisch selbst haben instrumentalisieren lassen. Gerade die Präsenz der Kunst indigener Völker, die bisher außerhalb des westlich-definierten Kunstbegriffs standen, scheint einigen der Herren Kritiker außerordentlich zu missfallen. Da ist beispielsweise von „zweitklassigen Werke[n] aus möglichst weiter Entfernung“ die Rede, die vom Kuratorenteam benutzt werden, um ein Desinteresse am „Status quo der Kunst“ zu demonstrieren (Kolja Reichert, FAZ).
Sicher lässt sich über die Qualität einiger der gezeigten Arbeiten beziehungsweise die Art ihrer Positionierung streiten. Aber ist es nicht auch die Aufgabe einer documenta, deren ursprünglicher Ansatz ein retrospektiv-belehrender war, bemüht die verbrecherischen Verfehlungen und Versäumnisse der jüngeren Geschichte zu korrigieren, den Status quo der Gegenwartskunst und die Rolle von internationalen Großausstellungen in Frage zu stellen, anstatt sie unbeirrbar weiter abzufeiern? Gerade wenn sie parallel zur Art Basel, der Biennale von Venedig und den Skulptur Projekten Münster stattfindet, in Zeiten eines alles beherrschenden und zersetzenden Neoliberalismus, globaler humanitärer Katastrophen, gefährdeter Demokratien und eines vielerorts erstarkenden weißen Nationalismus? Warum stört man sich so immens an einem „moralisch richtigen“ Ansatz, der die dringendsten Themen unserer Zeit thematisiert (auch wenn die realen Probleme damit selbstverständlich nicht gelöst werden können, weder in Athen noch in Kassel)?
Die allgemeine Polemik wird noch unterboten von Cornelius Tittel, Chefredakteur des der „Welt“ beiliegenden Magazins „Blau“: „Versagen auf allen Ebenen“, „die enttäuschendste Großausstellung aller Zeiten“, sogar „Amtsmissbrauch“ wird Szymczyk vorgeworfen. Es wird als Zumutung empfunden, sich mit der Ausbeutung von nordamerikanischen Navajo-Frauen und der Unterdrückung der Sami-Minderheit Skandinaviens auseinandersetzen zu müssen, eine unbequeme Wahrheit über den NSU-Prozess zu lernen, oder „einen armamputierten Transgender-Künstler aus Kassel sowie den Hereditary Chief des Kwakwaka’wakw-Volkes kennenlernen“ zu müssen.
Tittel vermisst „weltberühmte Künstler wie Francis ­Bacon, Jasper Johns oder Willem de Kooning“ und ist sich nicht zu schade, einen Kasseler Taxifahrer als anonyme Quelle zu zitieren oder zu beklagen, dass ein Teil des schließlich vom deutschen Steuerzahler bezahlten Millionenbudgets nun irgendwo in Athen „versickert“ ist. Die im Zuge eines Tauschgeschäfts erstmalig umfänglich im Fridericianum gezeigte Sammlung des gerade fertiggestellten Athener Museums für Zeitgenössische Kunst EMST – einer der Hauptorte der documenta 14 – bezeichnet er als „drittklassig“.
Besonders prekär wird es, wenn Tittel verlangt, der Aufsichtsrat der documenta hätte „einschreiten müssen“ – im Ernst: Lokalpolitiker sollen mitbestimmen dürfen, was auf der documenta gezeigt werden darf und was nicht? – und fast schon wieder ungewollt lustig, wenn er sich gar erdreistet, den Tod der documenta vorwegzunehmen oder aber gute Ratschläge geben zu wollen, „wie ihre Zukunft noch zu retten ist“.
Nun ja, Herr Tittel kann beruhigt sein: jede documenta definiert sich mit ihrer jeweiligen künstlerischen Leitung wieder neu. Dass sich die nächste von dieser abgrenzen wird, ist wahrscheinlich. Ein Problem ist eher, dass ihr Selbstfinanzierungsprogramm eine ständige Vergrößerung voraussetzt – die Besucherzahlen der vorausgegangenen Ausstellung müssen mindestens erreicht, möglichst getoppt werden. Versuche, die documenta zu schrumpfen, sind in der Vergangenheit gescheitert. Es bleibt abzuwarten, ob es Szymczyks Nachfolge gelingt, die „spannendste [Kunst] ihrer Zeit an einem Ort zu versammeln“ (Tittel, Welt), also wieder „für 100 Tage und in Kassel“ (NZZ), und ob das in fünf Jahren vielleicht wieder Sinn macht?
Zum Schluss noch eine kurze persönliche Bilanz: Die Instagram-tauglichsten und meist publizierten Arbeiten dieser documenta gehören sicher nicht zu den stärksten, allen voran Marta Minujíns allzu plakatives „Parthenon der Bücher“ auf dem Friedrichsplatz (dessen Aussage vor dreißig Jahren zum Ende der Diktatur in Chile eine in vielerlei Hinsicht spezifischere war). Manches stößt einen geradezu vor den Kopf, wie etwa Pjotr Uklańskis erschütternd platte Fotoarbeit „Real Nazis“, die das im Obergeschoß der Neuen Galerie sorgfältig konstruierte assoziative Bezugssystem zwischen Kolonialismus, deutscher Griechenlandverehrung/-appropriation und dem Enteignungssystem des Nationalsozialismus mit einem unnötigen Paukenschlag zunichtemacht. Wie in jeder documenta gibt es auch in dieser stärkere und schwächere Momente, persönlich bleiben mir einige sensibel bespielte Orte in Kassel wie in Athen und durchaus bewegende und nachdenklich stimmende Arbeiten in Erinnerung.
In loser Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit seinen hier nur ein paar genannt: In der Gesamtheit das Athener Musikkonservatorium Odeion; Gauri Gills Fotografien von Ritualen und Inskriptionen des täglichen Lebens in Indien im Landesmuseum in Kassel und im Epigraphischen Museum in Athen (das Museum an sich ist schon eine Entdeckung, wie viele andere der kleineren Athener Institutionen und Museen, die von der documenta bespielt wurden, etwa die in einem nördlichen Vorort gelegene Foundation des Malers und Bühnenbildners Yannis Tsarouchis); Roee Rosens herrlich absurd-böser Operetten-Film „The Dust Channel“ über den Staubsaugerfetischismus eines Paares in einem israelischen Vorort (Palais Bellevue, Kassel); Naeem Mohaiemens im stillgelegten Athener Hellenikon-Flughafen spielender Semi-Fiction-Film „Tripoli Canceled“ im EMST sowie sein eindrücklicher Filmessay „Two Meetings and a Funeral“ über das Non-Aligned-Movement in Algerien und die Überbleibsel postkolonialer Architekturen, zu sehen im Landesmuseum; Otobong Nkangas poetisches Import-, Produktions- und Distributionsprojekt „Carved to Flow“ (verschiedene Orte); Hiwa Ks nachdenklicher Film „View from Above“ über sichere und unsichere Zonen, gefilmt über einem Modell des zerstörten Kassels im Stadtmuseum; Bouchra Khalilis „The Tempest Society“ – nach al-Assifa (Der Sturm), einer in den 1970ern in Paris von Studenten und marokkanischen Migranten geformten Theatergruppe –, die die sozialen und politischen Realitäten in Athen und Resteuropa durch die Stimmen dreier Individuen reflektiert; oder die bahnbrechende Arbeit „77sqm_9:26min“ von Forensic Architecture in der Neuen Neuen Galerie (Hauptpost), die in einer Gegenuntersuchung den Prozess um den Mord an dem Kassler Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat durch den Nationalsozialistischer Untergrund und die Beteiligung des zur Tatzeit anwesenden Verfassungsschützers Andreas Temme anhand neuer Erkenntnisse wieder aufrollt. Kunst kann tatsächlich mehr als nur den Markt und das ästhetische Empfinden bedienen.
Und letztlich möchte ich Elke Buhr zustimmen, die in Monopol ganz richtig bemerkt: „Adam Szymczyks documenta 14 nimmt das Beste aus der documenta-Geschichte auf: von Arnold Bode das Bestehen auf Demokratie, von Harald Szeemann das radikale Infragestellen des Kunstbegriffs und den Mut zum Chaos, von Catherine David und vor allem Okwui Enwezor die Einsicht, dass das westliche Kunstsystem eine westzentrierte, kolonialistische Veranstaltung ist, die eine globalere Perspektive dringend nötig hat.“
Die documenta 14 leugnet dabei nicht die Machtposition (und den damit verbundenen Vorwurf der kolonialen Geste), die sie als deutsche Institution mit einem Millionenbudget innehat, und sie trägt die Widersprüche und Defizite, die ihre Teilung, die eigentlich eine Verdoppelung ist, mit sich bringt mit geradezu stoischer Fassung. Die erklärte Absage an fast alles, was gerade als angesagt oder zeitgenössisch gilt zugunsten eines, wie sich zeigt äußerst unpopulären Idealismus, ist auf jeden Fall eine mutige Setzung, und die „Selbstgerechtigkeit“, die ihr vorgeworfen wird (Die Zeit), offenbart sich ebenso im Ton einer Kritik, die vor allem um den Verlust der Vormacht eines seit dem 19. Jahrhundert bestehenden, westlich-geprägten gutbürgerlichen Verständnisses einer Autonomie der Kunst fürchtet. Warum eigentlich?
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