Ganz Berlin feiert die arabische Revolution

Veranstaltungen im Hau, auf der Berlinale und in der Akademie der Künste

2012:Apr // Sandra Teitge

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04-2012
















Die Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen eröffneten das insgesamt turbulente Jahr 2011. Europa und der Rest der Welt verfolgten die revolutionären Entwicklungen im Fernsehen, in Zeitungen, im Internet. Kaum ein Tag verging ohne Nachrichten aus der MENA (Middle East North Africa) Region. Die gesamte westliche Welt blickte gespannt auf diese Länder und schickte Scharen von Journalisten, um den Prozess zu dokumentieren.
Auch die westliche Kulturszene zeigte schon früh reges Interesse. Kuratoren aus allen Ecken der Welt besuchten die Region, um Künstler und Kulturschaffende zu treffen und diverse künstlerische Formate des Widerstands zu beobachten und zu diskutieren. Schon bald wurden jene Akteure in die westliche Welt eingeladen, um auf Podiumsdiskussionen aufzutreten und von ihren Erfahrungen zu berichten oder auf Festivals ihre künstlerischen Arbeiten zu präsentieren.
Die Berliner Institutionen schlossen sich diesem Trend an. Das HAU reagierte, wie so oft, am schnellsten und organisierte bereits Anfang November 2011 „Conflict Alt Escape“ – News aus Bagdad, Beirut, Jaffa und Kairo, ein Programm, welches als Prototyp für weitere kulturelle Veranstaltungen gelten sollte, die ohne die Ereignisse in der Arabischen Welt nicht denkbar gewesen bzw. wahrscheinlich nicht auf derartiges Interesse gestoßen wären. Mokhallad Rasem, im Festival vertreten mit „Irakese Geesten/Irakische Geister“, formuliert diese absurde Situation ganz klar: „Without the war I could not be in this show. Thanks to the war. Without the war I could not make you applaud in the end … thanks to the war.“

Neben Rasem präsentierten Künstler, Performer, Theater- und Filmemacher ihre Arbeiten im HAU. Als Auftakt zeigte der ägyptische Regisseur Tamer El Said Ausschnitte aus seinem gerade entstehenden Film „In the Last Days of the City“ und diskutierte das Verhältnis von Künstler und Staat mit der Filmproduzentin Irit Neidhardt, Spezialistin für Kino aus dem Mittleren Osten. Leider wirkten die ausgewählten Bilder eher kryptisch als erleuchtend und ließen das Publikum in allgemeinem Unverständnis. Auch das Gespräch zwischen Neidhardt und El Said sowie der vom Regisseur präsentiere Film „Afaq“ von Shadi Abdel Salam (1970) boten nicht genug Einbettung für das zum großen Teil westliche Publikum. Eine merkwürdige Entscheidung, diesen Film am Eröffnungsabend zu zeigen. Eine erfrischende Ausnahme unter den sonst größtenteils direkt von der Revolution beeinflussten Beiträgen, bildete der libanesische Künstler Rabih Mroué, der mit einer neuen Version seiner Performance „Who’s afraid of representation“ vertreten war. Mroués Partnerin Lina Saneh verkörperte zeitlich variierende Ausschnitte von Werken westlicher Body Art und offenbarte durch Kommentare und die Art der Darstellung deren komplett verschiedene Bedeutung in der arabischen Gesellschaft. Die Konzentration auf das künstlerische Format der Body Art und dessen unterschiedliche Wirkung in einem anderen geografischen und kulturellen Kontext bildeten ein gelungenes Gegengewicht zu dem auf wirklichen Ereignissen basierenden Stück „No time for art 0 & 1“ der jungen ägyptischen Regisseurin Laila Soliman. Es vereinte Notizen aus Tagebüchern, persönlichen Berichten und einen Märtyrer-Body-Count und führte die hohe Anzahl der Opfer sowie das extrem junge Alter der Aufständischen vor Augen, eindringlicher und direkter als es ein Zeitungsartikel oder Fernsehbericht je erreichen könnte. Selbst nur etwas älter als die Mehrheit der Aufständischen in Ägypten, trägt die ägyptische Theatermacherin zur Aufklärung der Gräueltaten des Regimes bei und experimentiert gleichzeitig mit den diversen Formaten und Möglichkeiten des Theatermachens. Erschüttert und tief betroffen verließ das HAU-Publikum an jenem Abend den Saal.
Das Programm „Conflict Alt Escape“  beeindruckte nicht nur durch eine Vielfalt an Medien und Formaten, sondern auch durch die Breite der teilnehmenden Künstler und Filmemacher und gab somit einen Überblick über die künstlerischen Aktivitäten in der MENA-Region und die enge Verquickung dieser mit den lokalen politischen Ereignissen.

Matthias Lilienthal ist ein weiterer Coup gelungen, bevor er sich im September selbst in den arabischen Raum begibt. Er wurde zum Resident-Professor von Ashkal Alwan, eine Plattform für die Kreation und den Austausch von künstlerischen Praktiken in Beirut, berufen.
Dem Beispiel des HAU folgend, annoncierte auch die 62. Berlinale am 24. Januar 2012 ihren „Fokus Arabischer Frühling – From and About the Arab World“. Aus verschiedenen Perspektiven und in Form von fiktionalen und dokumentarischen Filmen arabischer und internationaler Regisseure beleuchtete die Berlinale 2012 die revolutionären Entwicklungen in den arabischen Ländern. Zusätzlich teilten arabische Filmschaffende und Aktivisten ihre Erfahrungen mit dem Berliner Publikum auf diversen Panelveranstaltungen.
Eine dieser Diskussionen, „Cairo: The City, the Images, the Archives“, versammelte vier Protagonisten der ägyptischen Film- und Kulturszene, die im Zuge der Ereignisse, wie viele andere, zu mehr oder weniger involvierten Aktivisten mutiert waren. Im Fokus der Veranstaltung stand der Begriff des „Archivs“. Es ging um die übermittelten bewegten Bilder aus Kairo und wie diese unser kulturelles Gedächtnis prägen, um deren Zugänglichkeit zur Zeit der Diktatur, sowie um die Beziehungen zwischen analogen und digitalen, zwischen legalen und illegalen Archiven und ihre Rolle in der filmischen, kuratorischen und politischen Praxis. Die drei Podiumsgäste, die Künstlerin, Kuratorin und Mitbegründerin von Contemporary Image Collective, Maha Maamoun, die Kuratorin Sarah Rifky und der Schauspieler und Produzent Khalid Abdalla (die Filmemacherin und Produzentin Hala Galal konnte wegen Visumproblemen Ägypten nicht verlassen) präsentierten eine interessante Mischung aus Beiträgen. Khalid Abdalla, einer der Mitbegründer des alternativen Medien-Kollektivs „Mosireen“ und Protagonist in Tamer El Saids „In the Last Days of the City“, stellte die Motivation und das Anliegen des Kollektivs vor und zeigte das bis dato wichtigste Werk der Gruppe, „The Diary of the Revolution“, eine beeindruckende Dokumentation der Geschehnisse in Ägypten, gefilmt von Bürgern des Landes. „Mosireen“, ein Kollektiv aus Filmemachern, professionellen und Amateur-Journalisten sowie Aktivisten, repräsentiert und fordert zugleich die Ideale einer zivilen Gesellschaft ein. Die Gruppe leitet ein Medienzentrum in der Innenstadt Kairos, zu welchem jeder ägyptische Bürger eingeladen ist, visuelles Material einzureichen, um an der Schaffung eines zivilgesellschaftlichen Archivs und gleichzeitig am Aufbau eines weiten Netzwerks aus Einzelpersonen, Initiativen und Projekten mitzuwirken. Auf „Mosireens“ Youtube-Kanal werden täglich neue Filme hochgeladen, welche die Ereignisse festhalten und somit eine alternative Geschichtsschreibung darstellen, von Bürgern für Bürger – ein Vorbild kollektiver Berichterstattung, welche durchaus auch im europäischen Raum denkbar und relevant wäre. Die präsentierten Bilder von „Mosireen“ lösten Tränen im Publikum und auf dem Podium aus und gingen so den Zuschauern um ein Vielfaches näher als konventionelle, ausgewählte Nachrichtenbilder.

Während ich diese Worte schreibe, findet in der Akademie der Künste und im Instituto Cervantes das Festival „Kunst und Revolte – zu den Veränderungen im arabischen Raum“ statt, eine weitere Reihe von Filmen und Vorträgen diverser Akteure der MENA-Region. Mit dem Fokus auf arabische Filmemacherinnen grenzt sich dieses Festival leicht, aber auch nur leicht, von den vorangegangenen Veranstaltungen ab und bietet durch Gespräche und Diskussionen verstärkt die Möglichkeit an, sich mit den arabischen Protagonisten auszutauschen, mehr als es z. B. das HAU angeboten hatte.
Es ist sicher nicht einfach, sich von den bisher bereits organisierten Theater- und Filmreihen abzuheben, neue Aspekte zu beleuchten und immer wieder von Neuem dasselbe westliche Publikum zu erreichen.
Ich bin gespannt, was sich die Berliner Kulturinstitutionen für den Rest des Jahres 2012 einfallen lassen. Syrien, wo die Kämpfe andauern, wurde bisher noch wenig thematisiert und bietet Stoff für weitere kritische Diskussionen und Festivals im westlichen Raum.    
 
„Conflict Alt Esc“, Hau, Stresemannstraße 29, 10963 Berlin, 2.–7. 11. 2011
„Fokus Arabischer Frühling – From and About the Arab World.“ Berlinale 2012, 24. 1. 2012
 
Mosireen-Kollektiv: Filmvorführung des Cinema Tahrir, Kairo (© Sherief Gaber)
Mosireen-Kollektiv: Filmvorführung des Cinema Tahrir, Kairo (© Sherief Gaber)
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