Sitzen und schauen: Das ist eine ungewohnte Rezeptionshaltung, wenn es um die Arbeiten des amerikanischen Künstlers Richard Serra geht. Seine raumgreifenden bis riesigen Stahlskulpturen animieren den Betrachter, um sie herumzugehen, sich ihnen anzunähern und wieder zu entfernen. Serra lotet immer wieder die Dreiecksbeziehung Skulptur-Mensch-Raum aus. Die Berliner Kunstwerke präsentierten nun fünf seiner nur wenig bekannten, frühen Filme als endlos laufende Projektionen – da war geduldiges Stillsitzen gefragt. Dennoch lautete der Titel der Ausstellung: „Thinking on your Feet“.
Drei der fünf Schwarzweißfilme zeigen einen ähnlichen Vorgang: Hände, die etwas tun, oder besser, sich mit etwas abmühen. Ohne Ton, ohne Schnitt, ohne Kamerabewegung filmt Serra in Echtzeit ab, wie eine Hand mehr oder weniger erfolgreich versucht, kleine, von oben ins Bild fallende Bleiplatten zu fangen („Hand Catching Lead“, 1968). Ein anderer Film („Hands Tied“, 1968) beobachtet ein Paar gefesselte Hände und zeigt, wie sie sich langsam aus der Zwangslage herauswinden. Im dritten Film wird ein Haufen Bleispäne auf dem Fußboden ausgeschüttet; zwei Paar Hände lesen in einer Sisyphosarbeit alles bis auf den kleinsten Rest wieder auf („Hands Scraping“, 1968).
Mit den nüchtern-benennenden Titeln der Arbeiten ist über deren Inhalt bereits alles Wesentliche gesagt; eine sich narrativ entwickelnde Handlung oder eine komplexere Filmsprache ist nicht zu erwarten. Diese reduzierte filmische Haltung lässt sich im Kontext der Entstehungszeit verstehen: In der bildenden Kunst diente das Medium Film zunächst meist dazu, Performances abzufilmen, um sie über den Moment der Aufführung hinaus zu dokumentieren. Viele Künstler-Filme und später auch Videos bewegten sich in diesem Grenzbereich zwischen Dokumentation und eigenständiger künstlerischer Arbeit. Serra selbst gibt als eine wichtige Referenz für seine Filme die Arbeiten der Performerin und Filmerin Yvonne Rainer an.
Mit seinen drei „Hand-Filmen“ thematisiert Serra die Vorgehensweise des bloßen „Abfilmens“, also Vorgänge in ihrer ganzen Länge aufzunehmen und sie chronologisch und ungeschnitten zu zeigen. Allerdings dokumentiert er keine Performances – die Handlungen in den Filmen geschehen nur für die Kamera.
In einem Text von 1970 schreibt er über die Gleichzeitigkeit von filmischer Aktion und Rezeption: „Das Anliegen neuerer Filme hat sich verschoben vom Inhalt, literarischem Inhalt und narrativer Zeit zu solchen Filmen, in denen Zeit mit ‚Realzeit‘ oder mit prozessualer Zeit (die Zeit des Machens des Films) gleichgesetzt wird. (…) Dieses neu gefundene Interesse an Zeit ist nicht bloß eine Inhaltsallusion, d.h. der Betrachter wird nicht einfach zum Subjekt in Bezug auf ein Objekt, sondern er erfährt im Gegenteil Zeit und Ort von Subjekt und Objekt simultan.“ (Serra, 1970)
Die beiden anderen Filme der Ausstellung wie „Railroad Turnbridge“, 1976 und „Frame“, 1969, sind hingegen komplexer angelegt; aber ebenso wie die drei ‚Hand-Filme‘ sind sie Untersuchungen über das Filmen selbst. In „Railroad Turnbridge“ ‚benutzt‘ Serra eine Maschinerie des Industriezeitalters als Bildmaschine: Er filmt auf einer stählernen Drehbrücke, dabei wählt er die Position seiner Kamera so, dass das Stahlgerüst der Brücke einen Bildrahmen formt. Das Tempo des Filmes ist bestimmt von dem behäbigen Mechanismus der Plattform.
Der fünfte Film (mit Ton) spielt schon im Titel mit den Bedingungen des Filmens: Frame bedeutet im Englischen sowohl Rahmen als auch Film-Einzelbild. „Frame“ zeigt als einzige Einstellung ein Fenster mit Rahmen, durch das die Kamera auf eine großstädtische Straßenszenerie schaut. Das Fenster ist nicht bildparallel aufgenommen und erscheint auf der Projektionsleinwand entsprechend verzerrt. Ein Mann, nur unvollständig zu erkennen, misst mit einem viel zu kurzen Lineal mehrfach die Länge die einzelnen Seiten des Fensterrahmens aus. Das Ergebnis der Messungen: Sie sind unterschiedlich lang – der Rahmen entpuppt sich nicht als das perfektes Rechteck, als das ihn das menschliche Auge vielleicht wahrnehmen wollte. Und die vermeintliche Tiefe des Raums ist lediglich eine verzerrte Fläche.
Die Ausstellung gibt einen Einblick in einen unbekannteren Teil von Serras Arbeit und zeigt, wie intensiv er an den künstlerischen Experimenten der Zeit interessiert und beteiligt war. Das Filmen hat er irgendwann trotzdem aufgegeben, und sich ganz der Erfahrung von Betrachter und Objekt im Raum zugewendet. Film und Skulptur begreift er als zwei unvergleichbare Medien: „Die Analogie zu bemühen, was skulptural an der Skulptur und was skulptural im Film sei, zeugt für mich von einem grundsätzlichen Unverständnis für das Potenzial von Skulptur.“ (Serra, 1979)
Richard Serra „Thinking on Your Feet“ KW – Institute for contemporary art Auguststraße 69 6.7.2008–07.9.2008