Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Sommer und Herbst

2015:November // Einer von hundert

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11-2015

30. April, Lehderstraße, Ngoro Ngoro
Zweischneidig. Einerseits ist es ja toll, dass bekanntere Künstler, anderen die Möglichkeit geben auszustellen, um sie bekannter zu machen, und die Sache selbst in die Hand nehmen, aber das hier ist doch eine reine Selbstaufwertungsveranstaltung. Da geht’s doch nur darum, soviel Leute wie möglich ranzukarren und allen zu zeigen, was für einen coolen Pool man hat. Soho-House meets Cool-Berlin-Nineties. Dann wird allen Hoffnung gemacht, da ginge noch was, der Londoner Art-Investor hätte ein iPhone-Bild von deinem Werk gemacht. Da geht aber gar nichts, meine lieben Künstler-Kuratoren, kauft lieber selber ein paar Arbeiten, anstatt e­uren Grundbesitz wertzusteigern. Das geht wirklich nicht, das ist Nogo Nogo, Rrrrr…

4. Juli, Büro
War eigentlich jemand beim Berlin Art Prize? Oder ist das nur ein virales Ereignis?

15. Oktober, Haus am Lützowplatz
Wenn sich Wirtschaft und Kunst begegnen, muss man sich meist erst mal etwas schütteln. Die Sprache zum Beispiel ändert sich stark Richtung Wirtschaft. Hier im Haus am Lützowplatz wird heute abend ein Präsentationsformat aus Japan für die Kunst ausprobiert. Sonst nutzen das meist Unternehmen, um endlos lange Vorträge ihrer Mitarbeiter abzukürzen. Die erste Pecha Kucha Night of Art unter dem Thema „What’s hot?“ Das einzige was bei mir hängen blieb war, dass Kunstwerke mit nackten Frauen mehr Klicks haben, Texte nichts mit den Bildern zu tun haben sollen und Bilder am besten violett sein müssen (oder war’s türkis?). How to sell via Instagram …

17. Oktober, Stein- / Ecke Rosenthaler Straße, Muret la barba
Das mit der Gentrifizierung ist so eine Sache. Da denkt man, man hat die ganze Sache überstanden, alle Häuser sind luxussaniert, alle Boutiquen eingezogen usw. Man hat sich angepasst, nimmt nicht mehr allzu großen Anstoß, geht zum Beispiel auch zur ehemaligen Apotheke an der Ecke, die längst ein guter Italiener geworden ist und isst dort manchmal mittag, da merkt man, dass die Gentrifizierungsschraube unmerklich immer weitergedreht wird, quasi im nach innen gekehrten Mikrobereich. Der Mittagstisch unterschied sich immer wohltuend vom Abend. Man wählte an der Kasse von einer Tafel, zahlte noch vor einem Jahr 8 Euro pro Pasta und durfte aus der Limoflasche trinken. Jetzt wird à la carte bedient, die Pasta kostet 11 Euro und Gläser werden einem dazugestellt und schon mal halb gefüllt.

15. Juni, irgendwo
Ich nenn keine Namen. Eine Künstlerin berichtete mir, dass sie während eines Aufbaus zu einer Gruppenausstellung in einer Galerie, als der Galerist mal kurz weg war, in die Ordner im Regal schaute. Alle beschriftet mit Rechnungen, Korrespondenz, Messen usw. Waren aber alle leer. Nur Fake. Wahnsinn.

10. Oktober, Chausseestraße
Als ich in der Chausseestraße am nbk vorbeilauf und die neue Fassadenarbeit von Thomas Hirschhorn seh, kann ich mich nur wundern. „6 Feuer“ scheint eine Replik auf die schwarz überflammten Fenster eines Restaurants Crème de la Crème weiter vorne in der Friedrichstraße, andere Straßenseite, etwa auf Höhe der Straßenbahnhaltestelle. Bei Hirschhorn wirken die schwarzen Spuren der Flammen noch artifizieller als am „Original“. Ist das ganze Zufall, oder geht es hier wirklich um die Appropriation eines Gags? Warum aber? Und wer hat’s gecheckt?

17. Oktober, Tiergarten
Ich laufe pitschnass über die Potsdamer Straße und frage mich, wie Menschen auf die dämliche Idee gekommen sind, in diesen Breiten zu siedeln. Wäre Europa unbewohnt geblieben, dann gäbe es keine Flüchtlingskrise, allerdings hätte es dann auch Daniel Richter nicht gegeben und ich hätte nichts, worüber ich mich so richtig aufregen könnte. So kann ich es aber und tue es auch: die neuen Bilder sind Schrott, kunterbunter Schrott. Ich ordne hiermit sofortigen Zwangsruhestand an!

20. Oktober, Kulturforum
Ich schlendere mit meiner Tochter durch Ausstellung von Jean Dubuffet in der Kunstbibliothek und mir wird schlagartig klar, dass es nichts Besseres geben kann, als Kinderbücher zu machen, die gar keine Kinderbücher sind, sondern nur eine Aneinanderreihung von unverständlichem Gekritzel und Gebrabbel, was wiederum das Leben, diese permanente Überforderung, so unfassbar real abbildet, dass wiederum nur Kinder es verstehen können.

22. Oktober, Kurfürstenstraße
Seit Jahren blüht der Berliner Kunstapfelbaum, als wäre es bald vorbei. Jetzt fällt einer ihrer schönsten Äpfel ab. Sommer & Kohl schließt. Danke für die acht Jahre, die es euch gab!
Ateliergelände Lehderstraße, Foto: Hendrik Jackson
Thomas Hirschhorn „6 Feuer“, Courtesy nbk