Noé Sendas

Portrait

2013:Dec // Rebecca Hoffmann

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12-2013
















Lücken, zu erinnern
/ Über Fotografie am Beispiel Noé Sendas

Wer schaut uns an, wenn wir alte Fotografien betrachten? Siegfried Kracauer fragt zu Beginn seines Essays „Die Photographie“ (1927 in der Frankfurter Zeitung) beim Betrachten einer 60 Jahre alten Aufnahme, die seine damals 24-jährige Großmutter zeigt: Hat so die Großmutter ausgesehen? Aus dem Bild alleine ließe sie sich nicht rekonstruieren. Der Enkelsohn kennt die Geschichten, die in der Familie über sie erzählt werden: Dass sie in einem kleinen Zimmer mit Blick auf die Altstadt wohnte und gerne mit Kindern spielte, für die sie Soldatenfiguren auf dem Glastisch tanzen ließ. Einige ihrer Redensarten sind überliefert und in der Familie weitergegeben worden. Ohne diese Erzählungen könnte das Bild auch eine beliebige, junge Frau zeigen, die im Jahre 1896 nach damaliger Mode eine Krinoline und ein Zuaven-Jäckchen trägt. So aber bettet die Familiengeschichte die Fotografie in ein Narrativ, das die Abgebildete aus ihrer Anonymität reißt, ihr eine Geschichte gibt und sie mit der des Enkelsohnes verbindet. Aber dieser Kitt wird schon in der Generation der Enkel brüchig, wenn Reifröcke und kurze Jacken oder die Frisur der Großmutter aus der Mode sind und jetzt, 60 Jahre später, die Kinder zum Lachen bringen. Die Fotografie beginnt in ihre zeitgebundenen Einzelteile zu zerfallen.
Über drei Generationen haben Erzählungen, die im Familiengedächtnis kursieren, meist Bestand, dann werden sie vergessen. Und mit den Geschichten verschwinden die Personen auf den Fotografien. Alte Bilder, vielleicht aus Pappkartons vom Speicher oder Trödel, sagen uns nichts mehr, weil wir keine Geschichte mit ihnen teilen. Sie bewahren Zeittypisches, indem sie einfangen, was sich im Bildraum befindet. Und dieser Zeitbezug gibt das Abgebildete einer Komik des Altmodischen preis, sobald sich die Moden ändern.
Auch die Bilder vom Trödel waren aber einmal Erinnerungsbilder: Sie zeigen Familienfeste, Hochzeitspaare oder Ausflügler im Grünen. Sie wurden in einem Moment aufgenommen, der erinnert werden sollte. Ein Augenblick, festgehalten im Bild, ist Souvenir und kann Gedächtnisstütze sein, und als solche wurde die Fotografie in den zwanziger Jahren auch beworben: „Weißt du noch? Wo warst du im vorigen Sommer? Wann hast du deine Erholungsreise gemacht? Du weißt es nicht genau, denn das beste Gedächtnis versagt. Bleibende Erinnerungen verschafft Dir ein KODAK. Er allein ist ein zuverlässiger Berichterstatter, der alle Deine glücklichen Stunden im Bild festhält.“ (Kodak-Werbung von 1926)
Die Fotografie als eine Darstellung der Zeit schafft einen Wirklichkeitsbezug. Kracauers Großmutter hat sicher nicht immer so ausgesehen, aber sie hat zumindest für den Augenblick so ausgesehen, in dem der Fotograf den Auslöser drückte. Die Fotografie schafft einen Zugang zur Wirklichkeit der gezeigten Person. Und weil sie diesen Realitätsbezug schafft, verbaut sie ihn gleichzeitig auch. Sie verstellt den Zugang zu einer Person und ihren Geschichten, weil das Geschehen auf einen kleinen Ausschnitt reduziert werden muss. Die Fotografie stellt einen Oberflächenzusammenhang her, der total ist. Unser Gedächtnis arbeitet ganz anders. Es dehnt und streckt zeitliche Zusammenhänge, es ist lückenhaft und weder an der totalen Raum- noch Zeiterfassung interessiert. Jede Erinnerung bezieht sich auf uns und unser Erleben, ohne dass wir immer genau den Zusammenhang und die Bedeutung wissen müssten. Für Kracauer ist die Fotografie kein Medium der Erinnerungsbewahrung, sie ist erinnerungslos. Der Mensch auf einer Abbildung konstituiert sich in den Dingen und verschwindet darin, weil  seine Individualität und Geschichte darunter vergraben werden. Kracauer setzt dem Vergessen der fotografischen Abbildung zwei Zeichen entgegen: Die Anfangsbuchstaben von Vor-und Zunamen. Die Initialen einer Person, zu einem Zeichen, dem Monogramm zusammengefügt, fangen als Schriftbild für Kracauer die individuelle und die Familien-Geschichte eines Menschen ein. Das Monogramm schafft kein Abbild, sondern bewahrt – verdichtet zu einem Linienzug – Sinn durch die Extraktion bedeutungsvoller Zeichen. Kracauers Ablehnung der Fotografie ist ein kulturkritischer Impetus der Zeit. Die Fragen, die er aufwirft und die Kritik am Medium sind nach wie vor virulent:  Lassen sich Erinnerungen und damit Leben fotografisch festhalten, ohne dass das Abgebildete einer Gespensterwelt überlassen wird, sobald die Geschichte die Existenz der Abgelichteten überholt hat?
Fotografien können Erinnerungswerte schaffen, sobald sie das raum-zeitliche Kontinuum der Empirie ausgrenzen. Noé Sendas’ „Crystal Girls“ (2011) sind solche Bilder.
Wir betrachten die Arbeiten und wundern uns: Wem gehört die dritte Hand, die unter dem schwarzen Tuch neben der Frau erscheint? Warum blickt uns im Spiegel nicht das Gesicht einer Frau an, sondern bloß erneut ihr Hinterkopf? Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen erinnern in ihrer Bildsprache an surrealistische Fotografie-Experimente, ihre Motive an den Film Noir oder Varieté-Theater. In „Crystal Girl N°52“ lehnt ein weiß gekleideter Frauenkörper über einem Sessel. Der Kopf der Frau ist unter einem schwarzen Tuch verborgen. Die Hände auf dem Kleid der Frau und der Lehne werfen Fragen über ihre Zugehörigkeit auf, denn die dritte – offenbar männliche – Hand scheint herrenlos zu sein. Bei näherem Hinsehen könnte diese Hand dem Körper der Frau oder dem Schatten im Hintergrund gehören. Die Verwirrung über die Zugehörigkeit der Körperteile wird zu einem Vexierspiel der Geschlechter oder Traumwelten, denn in ein Schattenreich scheint eine der Hände zu gehören. Noé Sendas’ „Crystal Girl N°78“ zeigt eine Frau im langen Kleid und sorgfältig onduliertem Haar vor einem Spiegel. Im Spiegel sehen wir aber nicht, wie zu erwarten, das Gesicht der Frau, sondern eine weitere Abbildung ihres Hinterkopfes.
Sendas sammelte alte Pin-Up-Bilder. Er fügte ihnen bei seinen Manipulationen nichts hinzu, er nahm ihnen etwas weg oder vervielfachte, was schon im Bild war. Seine Arbeiten nutzen die Präzision der Fotografie, die ihren dokumentarischen Wert ausmacht, sie geben aber nicht einen Realitätsausschnitt wieder, sondern entstellen den Körper ins Wundersame. Originale treten mit ihren Kopien auf. In „Crystal Girl N°78“  hebt der doppelte Hinterkopf die Singularität des Originals auf. Es entsteht der Eindruck des Eins-nach-dem-anderen. Die Präsenz der fotografischen Realität wird durch die Verdopplung in eine Abfolge verwandelt. „Verräumlichung“ nennt Rosalind E. Krauss nach Derrida diesen Vorgang. Das Bild ist nicht in einem raum-zeitlichen Kontinuum ein Bild der Gleichzeitigkeit, sondern der Ungleichzeitigkeit. Noé Sendas’ Arbeiten „Crystal Girl“ reißen durch Verdopplungen, Verschiebungen und Leerstellen Lücken in die Präsenz des Bildes. Sie zerlegen seine Omnipräsenz und führen den Anschein (dem wir gerne erliegen), dass Realität sich im Bild einfangen ließe, als Trugschluss vor. Wir können uns selbst beim Beobachten zusehen, weil die Welt in diesen Fotografien gar nicht erst versucht, sich uns unvermittelt darzustellen. Es ist eine Abkehr von der realistischen Genauigkeit, stattdessen werden Bruchstücke von Realität gegeneinander aufgestellt. Diese Lücken und Brüche sind als Leerstellen nicht Verluste, sondern konstitutive Elemente von Erinnerungen.

Noé Sendas zeigt derzeit Arbeiten in Austin, Texas.
Die Invaliden1 Galerie zeigt vom 18.4 bis 31.5. 2014 in Berlin die Einzelausstellung „Archaeologies of Glamour“. 
„Crystal Girl N°78“, 2011, Courtesy Invaliden1 Galerie (© Noé Sendas)
„Crystal Girl N°52“, 2010, Courtesy Invaliden1 Galerie (© Noé Sendas)
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