Ingo Gerken

Espace Surplus

2014:Mar // Volkmar Hilbig

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03-2014
















Baumarkt goes Church

Es gab Zeiten, und die liegen gar nicht so weit zurück, da konnte man kaum eine verbale Einschätzung der eigenen Arbeit mitteljunger Berliner Künstler lesen oder hören, in der nicht das Wort „Dekonstruktion“ als wichtige Schaffensprämisse verwendet wurde. Die Benutzung dieses von Derrida ursprünglich für Textanalyseverfahren geprägten Begriffes ist in der Bildenden Kunst durchaus legitim und hat manche künstlerische Position treffend charakterisiert, dagegen andere, eher unbedeutende Kunstproduktionen nur tiefenphilosophisch adeln wollen; umso ärgerlicher war und ist die inflationäre Verwendung dieses Terminus.
Ingo Gerken hat meines Wissens nie diesen Begriff zur Beschreibung seiner künstlerischen Interventionen benutzt. Dabei setzen seine Eingriffe, seine Gesten, seine Erweiterungen, Offenlegungen, Neudefinierungen, Verdichtungen oder Simplifizierungen eine geistige Dekonstruktion der von ihm vorgefundenen Räume und Zustände unbedingt voraus. Ingo Gerken aber liefert am Ende stets etwas ungeheuer Konstruktives ab, auch wenn oder gerade weil seine Kunst so minimalistisch ist. Seine Arbeiten zeugen von einem großen Respekt gegenüber dem von anderen Geschaffenen. Er seziert Strukturen und Inhalte, ohne den Gesamtzusammenhang aus den Augen zu verlieren und seine wohlbedacht subtilen Veränderungen der Realität sind bei allen krassen Brechungen voller genau durchdachter Referenzen und besitzen gleichzeitig viel Charme und Witz. Da er aber mit seinen gewollt einfachen Eingriffen in komplexe Zusammenhänge äußerst präzise und ernsthaft agiert, ist sein Witz eher postironisch und nicht billig oder effektheischend.
In den Räumen einer ehemaligen Eisenwarenhandlung in der Berliner Wallstraße, die zwar längst den Status eines Geheimtipps für zeitgenössische Kunstpräsentation verloren haben, aber immer noch ungeheuer reizvoll sind und deren Umwandlung in ein dem Zeitgeschmack entsprechendes Domizil unmittelbar bevor steht, zeigte Ingo Gerken im Rahmen der Ausstellungsreihe „Between you and me“ seine Installation „REAL ESTATEment“. Der Künstler hat hier in einer für seine Verhältnisse fast schon barock-opulent zu nennenden Art und Weise die miteinander verbundenen Erdgeschossräume schlichtweg spirituell umgedeutet. Der in ein orphisches Dunkel gefallene Vorderraum (dessen wunderschöne gusseiserne Galeriebalustrade dadurch ein wenig verborgen bleibt) dient der Vorbereitung, der „transzendenten“ Einstimmung auf den perfekt ausgeleuchteten hinteren Raum. Dort hängen an Orgelpfeifen erinnernde Kupfer- und Edelstahlrohre unterschiedlicher Länge und unterschiedlichen Durchmessers, die durch von Bewegungsmeldern gesteuerte Türgongs in Schwingung gebracht werden. Eigentlich Arte povera, aber kirchenbaugeschichtlich interpretiert, steht die Skulptur wie ein Altar in einer Chorumgangskirche; vom dunklen Mittelschiff blickt man in das hell erstrahlte Presbyterium. Baumarkt goes Church. Ingo Gerken hat diesem Raum, in dem sich Kunst- und praktischer Sinn vor über 100 Jahren gleichberechtigt getroffen haben, einfach das gegeben, was dieser Raum verdient hat: eine sakral perzipierbare Weihe. Das ist keine typische Gerken-Arbeit; dazu ist sie zu aufwendig, zu spektakulär und zu sehr „Geist und Seele erhebend“. Gerken hat erkannt, dass diesem Raum mit einer minimalen Invasion nicht bei zu kommen ist. Hier musste zwangsläufig eine zuvorderst materiell bodenständige, aber in ihrer Wirkung brillante Klang- und Lichtskulptur entstehen, die diesen sympathisch heruntergekommenen, ehemals sehr stilvollen Räumen einen adäquat-furiosen und vielleicht letzten großen Auftritt verschafft.
Das Potential der ortsspezifischen Situation zu erfassen, ist das Eine, es in einer derart respektvollen Form umzudefinieren bzw. im dialektischen Sinne „aufzuheben“ das Andere. In einem winzigen Moment treffen sich Desillusion und utopische Möglichkeit. Ingo Gerken hat eine temporäre Installation geschaffen, die als Synthese verschiedenste Gedankengänge auf den Punkt bringt und en passant „ärmliche Kunst“ unerwartet glanzvoll aussehen lässt.

Ingo Gerken „REAL ESTATEment“, Espace Surplus, Between You and Me, Wallstraße 85, 10179 Berlin, 10.1.–8.2. 2014
Ausstellungsansicht Ingo Gerken „REAL ESTATement, 2014 (© Foto: Volkmar Hilbig)
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