„walk! Spazieren gehen als Kunstform“

Kunstraum Kreuzberg/Bethanien

2007:Nov // Knut Ebeling

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11-2007
















Eine der erstaunlichsten Themenkarrieren der letzten Jahre hat das Promenieren, Flanieren und Spazieren erfahren. Spazieren bezeichnet die Kunst eines nicht-gerichteten Gehens. Wer spaziert, gebraucht seinen Körper nicht-instrumentell und bewegt sich zumeist nicht-linear. Spazieren ist die Kunst, seinen Körper dahin zu dirigieren, wo er außer ästhetischen Eindrücken nichts einbringt. Ausgerechnet dieses harmlose Hobby der letzten Müßiggänger wurde in den vergangenen Jahren zur kulturellen Aktivität aufgewertet. Jetzt ist es also auch mit der beschaulichen Unschuld des Spazierens vorbei – keiner, der heute noch bei vollem Bewusstsein spaziert, kann behaupten, dies einfach nur zur Zerstreuung zu tun: Seit das Spazieren in kulturelles Kapital konvertierbar ist, kann niemand mehr sagen, er ginge „einfach nur“ spazieren.  Nach dem Boom der Stadtspaziergangsagenturen, die auch noch den letzten Winkel der Städte pedestrisch verwerteten, wurde dieser Blick zunächst in die Weite der Landschaft gewendet: Mittlerweile kann man sich an desaströse Orte führen lassen, angefangen von Müllbergen bis hin zu Industriebrachen. Auf einem Rond-Point oder mitten im Autobahndreieck picknickt es sich besonders nett. Die Rache am Alpenverein war nur eine Frage der Zeit.

Mittlerweile hat der einstmalige Zeitvertreib auch die Weihen der Wissenschaft erhalten. In Kassel veranstaltet der Verleger Martin Schmitz heuer wieder die ersten Spaziergangs-Seminare nach Lucius Burckhardt, dem Pionier der neuen Pedestrierbewegung. Kein Jahr vergeht, in dem nicht neue Werke über „walkscapes“ publiziert werden. Nach den „Rêveries d’un promenadeur solitaire“ eines J. J. Rousseau verrät die Freude am absichtslosen Umherschweifen vor allem eines: Das Gehen, die vermeintlich einfachste Bewegung des Menschen im Raum, wurde in den Raum des Wissens überführt. Spazieren bedeutet heute eine Aneignung der Welt mit beträchtlichen epistemischen Effekten.

Das Phänomen der kunstkomptatiblen Spaziergänge stellt eine Addition verschiedener bekannter Aspekte dar: Addiert man zum Kunst-und-Raum-Thema der vergangenen Jahre den „Cultural turn“ der Kunst- und Kulturwissenschaften, so gelangt man unverzüglich zum Flanierdiskurs. Spazieren, walken und Flanieren bedeutet eine Verräumlichung des Raumdiskurses, eine konkrete Operation im Raum – besser gesagt: im kulturellen oder künstlerischen Raum.

Damit war es auch nur eine Frage der Zeit, wann die allgemeine Promenadologie in der Kunst ankommen würde. Genau das geschieht mit der Ausstellung „walk!“, die Christine Heidemann und Stéphane Bauer im Kunstamt Bethanien zeigen. Ihre Botschaft: Walken, Flanieren und Spazieren ist nicht nur „kulturelle Operation“. Sie ist, unter Umständen, auch Kunst. Diese Umstände des Gehens werden von der Ausstellung prominent und professionell ausgebreitet. Das beginnt ganz wunderbar mit einer Arbeit von Christian Philipp Müller, der bei der Besichtigung der Hamburger „Kunstmeile“ in unwirtlichen Unterführungen, Tunneln und Fußgängerleitsystemen versackt. Genau so ein unterirdisches Tunnelsystem wurde von Larissa Fassler am Beispiel des Untergrundes des Berliner Alexanderplatzes nachgebaut: Ihr labyrinthisches Röhrensystem aus Pappe zeigt das Netzwerk, durch das die Fußgängermassen täglich gelenkt werden.

Die Ausstellung folgt den Fußgängern und Passanten jedoch nicht nur in die Niederungen des Alltags. Es werden auch rituelle Begehungen von numinosen Orten veranstaltet: Romuald Karmakar beispielsweise schreitet den Zaun eines ehemaligen Konzentrationslagers ab. Christoph Mayer führt durch verschiedene kulturelle Schichten seines Heimatortes – an dem sich früher ebenfalls ein Konzentrationslager befand. Gegen derartige Begehungen stürzen andere Beiträge wie der von Nicole Schuck in die Niederungen der urlaublichen Diashow ab. Eine Entdeckung sind dagegen die Promenier-Performances von Francis Alys: Der Künstler lief entweder mit schmelzenden Eisblöcken oder undichten Farbeimern durch die Straßen und hinterließ ein mehr oder weniger nachhaltiges Bild seiner Bewegung. Oder er hinterließ einen Ariadne-Faden eines sich entribbelnden Wollpullovers.

„Walk!“  zeigt nicht zuletzt, dass das Gehen keine kulturelle oder anthropologische Konstante darstellt. Das Spazieren ist eine komplexe kulturelle Operation, die erst mit der Moderne entsteht. Nicht nur änderten sich die Möglichkeiten des Spazierens mit jeder neuen Schneise durch die Stadt und mit jeder Straßenlaterne; das Spazieren konkurriert auch mit allen übrigen Verkehrsmitteln. Mit jedem neuen Verkehrsmittel (und vielleicht mit jedem neuen Medium) ändert sich die Bedeutung der schlichtesten Form der Fortbewegung. Das demonstrierten schon jene Flaneure, die in den Passagen des 19. Jahrhunderts ihre Schildkröten spazieren führten.

„walk! Spazieren gehen als Kunstform“
Kunstraum Kreuzberg/Bethanien,
Mariannenplatz 2, 1.9.–14.10.2007 
Vito Acconci: „Following Piece, Street Works IV“, 1969. Performance. (© Vito Acconci)
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