Somewhere Over the Rainbow

Balancieren zwischen Hito Steyerl, H&M, Anne Imhof und Balenciaga

2020:August // Barbara Buchmaier und Christine Woditschka

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08-2020




1. Freier Fall

Ich will an dich glauben. Du musst mir ein Rätsel bleiben.
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Wer fliegt am weitesten oben? Du? Ich?
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Die Welt von oben sehen. Deutlich über dem Regenbogen schweben. Einen Regenbogen von oben sehen. Umgeben von totalem Blau und dazu alle Farben. Das volle Farbspektrum. Das mal sehen zu können, das hätte ich mir nie ausmalen können.
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Über dem Regenbogen. Ein unwirklicher Ort. Überreal, surreal.
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Öffnen. Bewusstsein.
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Warst du dir dessen eigentlich bewusst, als es passierte? War das alles nur ein Traum?
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Reines Erlebnis.
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Bares Denken. Denken an sich.
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Lichtreflexion im Tropfen. Ein Resonanzbogen. Gebrochenes Licht. Der Regenbogen verweist auf das ganze Blau.
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Wertvolles Wissen beginnt mit der Frage: Wie stark ist dein Erlebnis und wie denkst du weiter? Klar, einfach, simpel. Verbrechen, Verkaufsstrategie, Erkenntnis – alles denkbar.
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Alles Denkbare wird auch passieren, irgendwann, irgend­wo. Denken, machen, denken.
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Bogen an Bogen genäht, mit Gurten versehen, der Fallschirm aus Nylon („Helmut Lang Reedition Bondage Parachute Bomber Jacket“). Dem Körper Halt geben, den Körper aufhalten, erhalten, aufheben.
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Unten angekommen frage ich mich: Wer hat das alles eingefädelt?
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Alles eingefädelt. Gestrichelte Hilfslinien, durchgezogen auf Schnittbogen.
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Dezember 2019: Classic Blue – Pantone 2020. „PANTONE 19-4052 Classic Blue“ ist Pantone-Farbe des Jahres 2020. Diese Wahl folgte auf Demna Gvasalias theatralisch-politisches Fashion-Setting und die Eröffnung von Hito Steyerls angedockter Lehrstunde: Belanciege-Lecture (mit Giorgi Gago Gagoshidze und Miloš Trakilović), präsentiert auf drei Screens in Kombination mit einem schneckenförmig nachgebauten Miniatur-Laufsteg in Blau als Sitzgelegenheit.
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Irgendwie wurden darin Anne Imhof und Eliza Douglas ganz vergessen, könnte man meinen. Ob Hito Steyerl sie absichtlich ignoriert hat und ganz bewusst nicht nennen wollte? Die sind ganz eng mit Demna Gvasalia. Als Markenbotschafterinnen, Musen: Imhof u.a. mit Balenciaga-Cap – quasi als Coach auch für KERING (Francois Pinault) – bei der Venedig Biennale 2017; und Douglas konstant als offizielles Model, neben anderen VIPs aus der (Kunst-/Sammler-)Szene.
In der Steyerl-Lecture kommt am Ende ein ­Telefonanruf und es werden den Performer*innen neue Produkte/Produktplatzierungen in Form von Kleidung ­angeboten. Diese lehnen jedoch ab und verbleiben somit in einer bestenfalls ironisch über- oder unterlegenen Lehrstück, wohingegen Anne Imhof und Co. es schaffen, ein allgemeineres, pulsierendes Bild entstehen zu lassen, das den Prozess des Begehrens offenlegt und einen selbst zum handlungsfähigen Akteur macht, das einen aufgehen lässt in diesem Wertschöpfungszirkel strömender Energien. Die eigene Verstrickung mit einem gestickten, eingestochenen Markenschriftzug auf der Stirn zur Schau gestellt.
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Ach ja, und bei „Hito Falafel“, da war ich neulich auch, ist direkt gegenüber vom n.b.k. Hat aber damit nichts zu tun, glaube ich zumindest 🙂.
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Und, ja, wir wissen es bereits: Two blue dots were the logo of Colette. Blue is the EU, Blue is one corporate color of IKEA and their Frakta-Bag, the BALENCIAGA-Frakta, Blue was the Bernie campaign, which was another important capture for Demna Gvasalia before. Blue is the color of the US Democratic Party and many other institutions – like Robert Koch-Institut (rki).
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Colette – Mon Amour (Kinofilm, 2020) in Kooperation mit Highsnobiety: mit Logo bedruckte Caps, Hoodies und andere Kleidungsstücken zum Film. Alles schön in diesem Blau, kombiniert mit Weiß und Grau. Highsnobiety is „breaking into physical retail“ (BoF, 3.1.20). „Colette – Mon Amour“.
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Zuversicht. Pantone 2020.
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„Dieser klassische Blauton strahlt Ruhe, Souveränität und Bezogenheit aus – unsere Sehnsucht nach einer verlässlichen und sicheren Basis, auf die wir an der Schwelle zu einer neuen Ära aufbauen können.“ (Quelle: Pantone-Website)
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Himmel.
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Überall sehen wir jetzt dieses Blau.
Blau, blau, blau.
Blau.

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Wer hat die gestrichelten, die durchgezogenen Linien auf den Schnittbogen gezeichnet? Wer ist der Schnittmeister, die Schnittmeisterin dieser Genealogie?
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Ein Schnitzmeister am Werk!
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Das zweidimensionale Schnittmuster umschreibt einen dreidimensionalen Körper. Körper, in Einzelteile zerlegt. Zweidimensionale Teile, zusammengehalten durch Fäden, durch Nähte, umfangen einen Körper. Körper-3D.
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Ich verkaufe dir deinen Körper. Das Gefühl deines Körpers. Dein Körper nimmt meine Form an.
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Chefstrateg*innen, Künstler*innen, Agent*innen, die Formen für Körper planen, Hüllen für das Ich entwerfen, das Ich umgrenzen oder erweitern. Die an der Puppe, am Brett reißen. Im Inneren dieser Stoffe verläuft ein Netz quer durch, aus Tausenden und Abertausenden Adern, die sich verzweigen. Auch diese können bluten. Mikroverletzung. Petechien.
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Internet, Intranet. Durch-dich-durch-Netz. Durchdringende Töne. Frequenzen. Blitze, Strom. Fetzen. Gedankenfetzen. Transmitter. System. Blutbahn. Steuerung. Nerven. Bahnen. Leiter. Feinstoff. Ganz feiner Stoff. Feinster Stoff.
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Eingebung: Wer gibt sie ein?
Es ist soweit: Wenn Träume die Welt regieren.
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„You’ve been mixing up your dreams oo oo With my dreams oo oo Your dreams oo oo With my dreams oo oo Oo oo oo oo oo oo oO“
(Robot Koch: Dreams für Smoke × Mirrors)
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Brille, Brille, Brille!
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To bridge. Brücken-Technologie. Eine Brücke zwischen der Welt der Dinge und den Gefühlen der Menschen bauen. Die Brücke zwischen dem, was du um dich herum wahrnimmst, zu den Deutungen anderer herstellen. Offensichtliches zugänglich machen. Evidenz. Banales, Einfaches umdeuten. Konditionierung. Verlinken. Neu verdrahten.
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„‚There are amazing things you can do with data, it doesn’t have to be evil,’ said Wylie“ (zitiert nach BoF, 29.11.2018).
„The Vectoralist Class“ heißen bei McKenzie Wark die, die über die Algorithmen Bescheid wissen, die sie besitzen und steuern … Mit größter Effizienz und Macht treffen sie Vorhersagen, werden zu „Superverbreitern“ … Auf Basis unserer virtuellen, unserer massenhaften, ausdeutbaren Bewegungen.
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„Where science meets emotion“: dataPropria
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Der Hacker kennt die Buchstaben, die Ziffern, die Codes, er moduliert die Welt – wie der Künstler. Denken, machen, denken. Mach die Tür frei! Die Luft muss frisch sein. Reiß die Tür auf: Ich spring jetzt ab! Die Nase ganz vorne haben.
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Wenn Tagträume wahr werden. Wenn Traum und Realität eins werden. Wenn deine Vorstellung die umgebende Welt formt. Eine Welt für dich geformt. Von dir geformt. Unzusammenhängende Ereignisse werden durch Verknüpfung zu Erlebnissen. Dein Blick steuert alle Bedeutungen. Alles wirkt miteinander, ineinander. Deine Psyche spielt verrückt.
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Neufilterung, Neu-Kombination, Neu-Denken, neu zusammenstecken.
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Der psychotische Charakter von Kunst sowie Verliebtsein. Referenzen neu verküpfen, Resonanzbögen spannen.
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Mindf*ck. Cambridge-Analytica-Whistleblower Christopher Wylie (*1989 in Kanada) arbeitet schon seit Dezember 2018 als „Data Researcher“ bei H&M. Abteilung Verbraucher-, Produkt- und Marktanalyse.
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„As one of the creators of Cambridge Analytica, I share responsibility of what happened and I know that I have a profound obligation to right the wrongs of my past (...) I moved fast, I built things of immense power, and I never fully appreciated what I was breaking until it was too late.“ (C. Wylie: Mindf*ck, London 2019, S. 17)
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2. Spenden/Sammeln/Bilanzieren

Datenspende – Blutspende – Kleiderspende
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Was ist an einer Kunstsammlung eigentlich besser als an einer Kleidersammlung?
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Manchmal wird aus einer Sammlung ja auch eine Spende. Notgedrungen oft. Platz, Tod, Ehre.
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Sammeln als Wertanlage. Als Hobby. Als Obsession. Die Galerie, der Concept-Store als Lieblingsladen.
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Für viele wird Sammeln zur Bürde. Anhäufungen, Auftürmungen. Wenn der Wert sich nicht realisiert. Auch nicht bei der letzten Abholung, nach der Haushaltsauflösung, ist oft auch nur ein Stück Wert zu sichern. Container. Materialisierte Vergangenheit. Nie ausformulierte Querverbindung zwischen den Dingen. Papierhaufen. Nichts als Papier. Türme von Papier.
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Daten werden (um-)etikettiert beim Weiterverkauf. Manche sind mehr wert, manche weniger.
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Zwang zur Kanalisierung, zur Datenauswertung. So dienen die Altkleider, die bei H&M gesammelt werden, wohl weniger der Nachhaltigkeit, sondern dem Auswerten, was gerade nicht mehr gewollt wird.
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Gelingt die Auswertung nicht, haben wir eine Menge (Daten-)Müll. Auch der Messie leidet unter der Wertbeimessungsstörung. Joghurtbecher und Prospekte, alte Kleider um dich herum aufschichten. Total Mess. Ein Berg aus Müll um dich.

Der Künstler transformiert Nutzloses in Wert. Was könnte besser sein? Im eigenen Auftrag aus Staub, Dreck oder gar Müll so etwas wie Gold machen.
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Was würdest du machen, um Lumpen einen Wert beizumessen? Dem Messie mangelt es nur an Vermittlung. Marketing. Mark a thing. Es mit Bedeutung aufladen. Etwas Bedeutung verleihen. Re-Frame. Re-Fame. Re-Name.
Auswertungsprozesse sind der Segen der Menschheit.
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Bereicherung. Eine Kritik der Ware:
„Die Bereicherungsökonomie stützt sich nicht in erster Linie auf die Produktion von neuen Objekten, sondern vor allem auf die Aufwertung bereits vorhandener Objekte, die zum Bestand häufig vergessener oder als bloßer Abfall geltender Dinge aus der Vergangenheit gehören, sowie auf die Herstellung von Dingen, deren Wert an die Vergangenheit gekoppelt ist: zum Beispiel an eine Marke, deren Prestige auf ihrer Verwurzelung in der Vergangenheit beruht, wie anhand der Prestigemarken in der Luxus­industrie deutlich wird.“ „Doch die Verankerung in der Vergangenheit reicht nicht aus, sie muss auch einen aktuellen Bezug aufweisen.“ (Luc Boltanski/Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018, S. 145 und S. 404)
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Den Müll auslesen. Neu verknüpfen. Vetements. Aussortierte Jeans aktualisieren durch neue Naht.
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New Age Consumers.
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Altes, teures Burberry neben fader Vintage-Strickjacke in Flieder und rotem Polyester-Morgenmantel ohne Label, neben neuer, relativ hochpreisig angesetzter H&M-Ware. So wird jetzt im „Mitte Garten“ gesät.
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Die Neuware ist zu hässlich, zu trashig, zu teuer dafür, was es ist, auch in der Herstellung.
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Alle leben vom Imagetransfer. So wurde aus Vintage ein „Milliardenmarkt“. Alles haargenau kalkuliert. „Predicted“ – aus unseren eigenen Daten. Für sich selbst Vorhersagen treffen.
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Da fällt mir wieder ein: ACNE STUDIOS hat 2013 eine Übernahme/Mehrheitsbeteiligung durch Kering abgelehnt, erinnerst du dich? Das hatten wir schon in 2017 oder 2018 sogar auf Wikipedia gelesen …
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Lass uns die Tage mal wieder im „H&M Mitte Garten“ treffen, in der Neuen Schönhauser und schauen, was dort gerade so wächst und reift zwischen Manufaktur, Second Hand, Yoga und H&M-Standard. Dann gehen wir zu ACNE.
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3. Der Raum und die Angebote

Du kommst rein und triffst auf schöne Angebote – allerlei. Wow, auf den ersten Blick sieht alles ziemlich gut aus. Doch warum solltest du dir in einem Geschäft, das zum H&M-Konzern gehört, in einem Shop-in-Shop-Modell (­outofuseberlin.com) einen beigen Vintage-Burberry-Mantel kaufen, sagen wir für 330 Euro – oder ein Jackett von YSL, für 320 Euro? Einen beigen No-Name-Faltenrock aus den 70ern für 80 Euro oder doch ein H&M T-Shirt für 5 Euro? Oder ein lokal hergestelltes Parfum von „Frau Tonis Berlin“? H&M experimentiert und gibt dir nach genauer, vorgedachter Strategie das Gefühl, etwas individueller zu sein – gibt dir die Möglichkeit, aus dem Gewohnten auszubrechen, überrascht zu werden und selbst in einem Szenario, das an einen Concept-Store, fast schon an Flohmarkt erinnert, einen letzten, eigenen „Click“ zu machen: Wo du hier bist, wie und was du hier konsumierst – es scheint in deiner Hand. Viele haben es vielleicht auch (noch) gar nicht gemerkt, dass der Mitte-Garten zu H&M gehört, auch wenn es außen durchaus dransteht – und dass sie H&M jetzt ihre Daten hinterlassen haben. Ein seltsames Gefüge, das vom H&M-Lab ausgetüftelt worden ist.
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Im n.b.k.: Die gefeierte Künstlerin und Kunstprofessorin Hito Steyerl (*1966 in München) hat ein überwältigendes, von digitalen Projektionen bestimmtes Szenario geschaffen. Da läufst du durch, kuckst und scannst, dann nach hinten zur blauen Spirale. Stolperst drüber, suchst dir einen Sitzplatz, Kopfhörer. Du hörst ihr und ihren zwei Co-Hosts zu – BELANCIEGE – detailreich werden dir Ideen vermittelt, vorgekaute Thesen werden dirigiert. Erkenntnisse – viele davon bereits im Kanon angekommen – im Trio orchestriert. Das Angebot ist auch hier vielfältig, du bist zum Mitdenken aufgefordert. Ein paar Einsprengsel irritieren. So wird hier, wie bei H&M, ein kalkulierter Rest­raum offengehalten, der dir das Gefühl gibt, in einem begrenzten Rahmen eigenständig kombinieren und denken zu können. Was die Vordenkerin Steyerl möglicherweise genau so antizipiert hat.
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Mission Accomplished.
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P.S.: Balenciaga sticht die Kunst.